„Dinge entgleiten oder erscheinen sinnlos“

Wissen wir auf dem Sterbebett genauer, was wichtig in unserem Leben gewesen wäre? Der Philosoph Neil Levy hat Zweifel an dieser gängigen Behauptung.

Die Illustration zeigt zwei Personen an einem Sterbebett
Das Sterben ist ein einmaliger, wichtiger Moment, in dem man als Sterbender vielleicht nichts Falsches sagen will. © Marianna Gefen

Herr Professor Levy, was zählt wirklich im Leben – das ist eine der wichtigsten Fragen, die man sich stellen kann. Oft hört man den Rat, man solle sich vorstellen, was man in der Todesstunde am meisten bereuen wird, und sein Leben entsprechend ändern. Manche haben auch Menschen am Lebensende direkt danach gefragt, was sie bedauern, gemacht oder nicht gemacht zu haben. Sie sind indes skeptisch, ob man auf diesem Weg wirklich etwas über ein erfülltes Leben herausfinden kann. Warum?

Ich sehe gleich mehrere…

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man auf diesem Weg wirklich etwas über ein erfülltes Leben herausfinden kann. Warum?

Ich sehe gleich mehrere Probleme. Fangen wir mit den Berichten an über das, was Sterbende bedauern oder angeblich bedauern. Ich fürchte, dass bei solchen Schilderungen kultureller Druck eine große Rolle spielt. Zum einen könnte dies dazu führen, dass Menschen am Lebensende sagen, bestimmte Dinge zu bedauern, egal ob sie tatsächlich so fühlen oder nicht. Es gibt gesellschaftliche Erwartungen an das, was ein ernsthafter Mensch schätzen sollte.

Man ist am Sterben; es ist ein einmaliger, wichtiger Moment. Da will man vielleicht nicht sagen: Ach hätte ich doch mehr Geld verdient oder mehr fish and chips gegessen. Zum anderen könnten auch die Zuhörenden den Sterbenden Dinge in den Mund legen und das hören, was sie selbst schätzen oder glauben zu schätzen.

Lassen Sie uns das an einem konkreten Beispiel festmachen. Die australische Krankenschwester Bronnie Ware hat einen Bestseller geschrieben mit dem Titel 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Einsichten, die Ihr Leben verändern werden. Zu diesen Dingen gehören: Ich wünschte, ich hätte nicht so hart gearbeitet, den Kontakt zu meinen Freunden gehalten und den Mut gehabt, nach meinen eigenen Vorstellungen und nicht nach den Erwartungen anderer zu leben. Das klingt doch eigentlich ganz vernünftig.

Bronnie Ware schreibt, dass Sterbende ihr das so gesagt haben. Aber wie sicher können wir da sein? Dies ist keine systematische Forschung mit Kontrollgruppe, Anonymisierung der Befragten und unabhängigen Beobachterinnen, die Äußerungen nach objektiven Kriterien bewerten, sondern Ware hat den Patientinnen und Patienten, die sie selbst betreut hat, gelauscht. Aus der psychologischen Forschung weiß man, dass Menschen oft mehrdeutige Aussagen so interpretieren, dass sie mit ihren Vorstellungen übereinstimmen; der sogenannte confirmation bias.

Vielleicht hat Ware also das gehört, was sie selbst glaubt. Und selbst wenn die Sterbenden das wirklich gesagt haben: Wie viel können wir daraus extrapolieren? Ware arbeitete als private Krankenschwester in Sydney. Sie traf also vermutlich auf recht wohlhabende Menschen, die es sich leisten konnten, häusliche Pflege in Anspruch zu nehmen. Sie sagt selbst, dass der Kreis der von ihr Betreuten nicht sehr repräsentativ war.

Was ist mit systematischer Forschung zum Bedauern von Sterbenden?

Bei einer Literaturrecherche habe ich nur zwei wissenschaftliche Studien gefunden. Der Grund für die geringe Zahl liegt wahrscheinlich darin, dass ethische Kommissionen solche Untersuchungen nicht leicht genehmigen. Die Ergebnisse der beiden Studien stimmten durchaus mit Wares Erkenntnissen überein. Allerdings waren die Stichproben klein und die Interviews qualitativ, was wiederum die Frage nach einem confirmation bias aufwirft.

Mal angenommen, es gäbe umfassende quantitative Studien, könnten wir dann etwas von den Aussagen von Sterbenden lernen?

Selbst dann wäre ich sehr skeptisch. Ich streite nicht ab, dass Sterbende Einsichten haben, die wir als Nichtsterbende nicht haben können. In der Philosophie gibt es einen Ansatz namens standpoint theory, nach dem ein Mensch durch die Situation, in der er sich befindet, zu Einsichten gelangt, die andere Menschen, die nicht in der Situation sind, nicht haben können. An diesem Argument ist aus meiner Sicht etwas dran. Aber es sollte symmetrisch angewendet werden.

Ebenso haben diejenigen, die nicht sterben, eine epistemische Position, die auf ihre Weise privilegiert ist. Es kann also sein, dass Sterbende uns von bestimmten Sachen erzählen, die aus ihrer Sicht erfüllend sind, aber das sind nicht unbedingt alles sinngebende Dinge.

Die Sicht von Sterbenden ist einseitig?

In gewisser Weise haben sie vielleicht sogar eine besonders eingeschränkte Perspektive, weil sie außerhalb der Belange des täglichen Lebens stehen. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat einen einflussreichen Artikel über die existenzialistische Vorstellung des Absurden geschrieben. Darin beschreibt er das Phänomen, dass das Leben sinnlos erscheint, wenn wir es von außen betrachten.

Man kennt das vielleicht am besten aus der Jugend: Man beobachtet die Erwachsenen, wie sie jeden Tag zur Arbeit gehen und sich abmühen. Und man denkt: Die sind wie Ameisen; wofür machen die das bloß? Und vielleicht liegt der Grund, warum Jugendliche das oft so sehen, darin, dass sie nicht in Verpflichtungen wie Geld verdienen und Kinder großziehen eingebunden sind. Jetzt kann man das auf zwei Arten lesen. Entweder man sagt: Weil sie eine Außenperspektive haben, sehen sie, wie es wirklich ist, und es ergibt tatsächlich alles keinen Sinn. Oder man kann es so sehen, wie ich es tue, nämlich dass sich der Wert dieser Dinge nur aus dem Inneren heraus erschließt.

Das müssen Sie genauer erklären.

Wenn man sich außerhalb von alltäglichen Aufgaben und Aktivitäten befindet, sehen sie absurd aus und vielleicht sind sie es sogar aus dieser Perspektive. Aber das liegt daran, dass man nur in der Innenperspektive ihren Wert erkennen kann. Nur aus unseren Lebensprojekten heraus können Fragen nach der Rechtfertigung überhaupt beantwortet werden, denn ohne die Hingabe, die unseren Anstrengungen einen Sinn gibt, ist nichts gerechtfertigt. Wir bekommen Kinder und ziehen sie groß; unsere Kinder bekommen Kinder; wir sterben; unsere Kinder sterben.

Ein ewiger Kreis, der aus der Distanz sinnlos erscheint. Aber von innen heraus ist das Ziel, Kinder, die man liebt, so großzuziehen, dass sie glücklich sind, sehr sinnstiftend. Von außen können wir die Bedeutung solcher Unternehmungen nicht erfassen – nicht weil sie nicht real sind, sondern weil sie nur von innen greifbar sind. Mir scheint, dass Sterbende weit weg von vielen Aktivitäten sind, die mir sehr bedeutungsvoll erscheinen, und sie diese deshalb gar nicht richtig bewerten können.

Mit Ihrer Argumentation widersprechen sie Philosophinnen und Philosophen, darunter prominente Namen, die räsonierten, dass die Perspektive vom Tode her eine privilegierte Sicht auf das Leben erlaube.

Das stimmt. In seinem Werk Sein und Zeit argumentierte Martin Heidegger beispielsweise, dass der Tod uns individualisiert, weil wir mit dem Tod aufhören, in sozialen Beziehungen zu anderen zu sein. Das bedeutete für ihn, dass das Bewusstsein des eigenen Todes einer Person ermöglicht, ihr authentisches Sein zu erfassen. Authentizität meint, sich selbst und dem, was einen auszeichnet, treu zu sein. Wenn man dagegen Gedanken an den eigenen Tod vermeidet, führt das oft zu Unechtheit.

In Heideggers Sicht kann uns die Betrachtung des eigenen Todes also einen Weg zur Authentizität öffnen. Wenn ich in alltäglichen Sorgen versunken bin, kann ich mein authentisches Selbst und das, was mir wichtig ist, nicht erkennen. Aber wenn es mir gelingt, das Geschrei von außen zu beruhigen, höre ich die Stimme im Inneren besser. Und der Sterbende, der nicht mehr von den Details des Lebens abgelenkt wird, kann seine authentische Stimme vielleicht besser hören.

Das leuchtet Ihnen nicht ein?

Nein, und der späte Heidegger hätte mir da vielleicht auch zugestimmt: Warum sollte ich annehmen, dass meine Authentizität, meine Eigentlichkeit, wie Heidegger sagte, von anderen und von meinem Engagement in der Welt getrennt ist? Vielleicht bin ich am meisten ich selbst, wenn ich mit anderen und der Welt, mit meinem Beruf und meinen Projekten verbunden bin.

Wenn ich mich zurückziehe, um über meinen eigenen Tod nachzudenken, dann verlieren diese Dinge vielleicht für mich ihren Wert. Aber das liegt nicht daran, dass sie nicht wertvoll sind, sondern daran, dass ich einen eingeschränkten Blick habe.

Welche Bedeutung hat dabei der Zeithorizont?

Eine große. Die meisten Projekte haben nur eine Bedeutung, wenn eine Person zuversichtlich ist, dass sie noch eine gewisse Zeit leben wird: Geld sparen beispielsweise oder eine Fremdsprache lernen, selbst ein längeres Buch lesen. Man fängt nicht mehr an, Tolstois 1400-seitigen Roman Krieg und Frieden zu lesen, wenn man weiß, dass man nur noch einen Tag zu leben hat. Sobald der Tod unmittelbar bevorsteht, haben längerfristige Pläne keine Bedeutung mehr für uns und sie ziehen uns nicht mehr in ihren Bann.

Wir sehen sie von außen, und das leidenschaftliche Engagement, das andere für sie aufbringen, mag uns absurd erscheinen wie die Geschäftigkeit von Ameisen. Längerfristige Projekte sehen bedeutungslos aus, weil uns der Zeithorizont fehlt, der diesen Dingen Sinn verleiht. Wenn wir wissen, dass uns eine persönliche Zukunft fehlt, spielt nur noch eine enge Auswahl an einfacheren Verpflichtungen und Freuden, die relativ schnell eintreten, eine Rolle.

In einem Aufsatz im Magazin Aeon sprechen Sie in diesem Zusammenhang von telischen und atelischen Projekten.

Ich beziehe mich dabei auf den amerikanischen Philosophen Kieran Setiya. In seinem jüngsten Buch, in dem er über die Midlife-Crisis schreibt, nimmt Setiya diese hilfreiche Unterscheidung vor. Telisch kommt vom altgriechischen télos, Ziel beziehungsweise Ende. Telische Projekte haben ein Ziel und streben einem Ende zu, und es ist unser Engagement für dieses Ziel, das sie für uns bedeutsam macht.

Atelische Handlungen dagegen haben kein bestimmtes Ziel und streben keinem Endpunkt zu, an dem sie abgeschlossen sind. Man kann von A nach B laufen, telisch. Oder man kann einfach spazieren gehen um der Aktivität selbst willen, eine atelische Aktivität. Vielleicht spiegelt die Perspektive vom Sterbebett authentisch wider, was für diejenigen zählt, die angesichts ihres verkürzten Zeithorizonts gezwungen sind, sich von fortdauernden Aktivitäten zurückzuziehen.

Wenn man außerhalb des Telischen steht, behält nur das Atelische eine Bedeutung: Dinge wie Kameradschaft, Kontemplation, Schönheit. Sie bleiben den sterbenden Menschen zugänglich und gewinnen an zusätzlicher Kraft. Vielleicht macht man sich auf dem Sterbebett gewisse Dinge besonders stark zu eigen; andere aber entgleiten ganz und erscheinen blass oder sinnlos. Nicht weil diese Projekte grundsätzlich wertlos sind, sondern weil sie einen Zeithorizont brauchen, um Sinn zu ergeben. Die Weisheit von Sterbenden beleuchtet also nicht, was für diejenigen von Wert ist, die das Glück haben, sich weiterhin für lohnende telische Aktivitäten engagieren zu können.

Aber Setiya rät auch Menschen in der Lebensmitte, Wert im Atelischen zu finden.

Das stimmt. Setiya sieht die Ursache einer Midlife-Crisis darin, dass man in dieser Lebensphase oft seine Ziele in telischen Projekten erreicht hat. Als junger Mensch setzt man sich beispielsweise bestimmte berufliche Ziele; für eine Akademikerin ist das vielleicht, eine Anstellung an einer guten Universität zu bekommen oder ein Buch bei einem renommierten Verlag unterzubringen. Und dann erreicht man diese Ziele und das wird zum Problem.

Ich habe mal über einen Astronauten gelesen, der sehr deprimiert war, als er vom Mond zurückkam. Er hatte dies sein ganzes Leben lang erreichen wollen und fragte sich: Was nun? An diesem Punkt stellt man vielleicht fest, dass in Bezug auf das gesetzte Ziel nur ein „Mehr des Gleichen“ bleibt. Man kann ein weiteres Buch veröffentlichen oder noch mal zum Mond fliegen. Aber beim zweiten Mal wird man nicht die gleiche Zufriedenheit spüren wie beim ersten. Und dann setzt ein, was man als Ennui oder Langeweile bezeichnet.

Für Setiya besteht der Ausweg aus der Midlife-Crisis darin, Befriedigung in atelischen Aktivitäten zu finden, die keine Leistungsstruktur aufweisen: Dinge wie Musik hören oder Zeit mit der Familie und mit Freundinnen und Freunden verbringen. Damit ist er wahrscheinlich näher an der Bronnie-Ware-Perspektive als an meiner eigenen.

Was ist Ihre Sicht?

Ich denke, die Aktivitäten, die am meisten Sinn stiften, sind semitelisch. Sie haben Ziele, aber sie sind an sich ergebnisoffen. Nehmen Sie als Beispiel das Erreichen sozialer Gerechtigkeit. Das werden wir nie ganz schaffen; selbst zu definieren, was wir genau damit meinen, ist schwierig. Aber es ist sicherlich ein Ziel und wir wissen, wie es aussieht, diesem Ziel näherzukommen oder sich vom Ziel zu entfernen.

Daher halte ich das Engagement für dieses Projekt für eine äußerst sinnvolle Aktivität, sowohl weil das Ziel an sich bedeutsam und wichtig ist, als auch weil es der Person, die sich dafür engagiert, eine Richtung gibt. Das soll keinesfalls heißen, dass atelische Aktivitäten nicht Teil eines guten Lebens sein sollten. Da hat Setiya sicher recht. Aber ich bezweifle, dass sie die singuläre Lösung sind, um Erfüllung im Leben zu finden.

Generell gefragt: Hilft das Bewusstsein, dass unser Leben irgendwann enden wird, dabei, ein gutes Leben zu führen?

Da bin ich hin- und hergerissen. Ich denke, dass ein zu stark ausgeprägtes Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit dazu führt, dass uns Aktivitäten absurd erscheinen. Es mindert ihren Wert. Andererseits lässt das Wissen, dass man nur eine begrenzte Zeit auf der Erde hat, unsere Aktivitäten auch dringlicher erscheinen, denn alles, was man tut, hat Opportunitätskosten. Und sich der Opportunitätskosten bewusst zu sein kann eine wertvolle Rolle spielen.

Ich kenne das von mir selbst: Meiner Arbeit nachzugehen und in bestimmten philosophischen Fragestellungen, die mich interessieren, weiterzukommen, aber auch mit meiner Familie einen schönen Spaziergang in der Natur zu machen, das halte ich beides für eine gute Nutzung meiner Zeit. Aber wenn ich mir auf Netflix eine geistlose Show anschaue, dann ist es sicherlich gut, wenn ich mir der Opportunitätskosten bewusst bin und mich frage, was ich stattdessen tun könnte.

Wenn das Leben kein Ende hätte, gäbe es vielleicht die Versuchung, viel mehr sinnfreies Zeug auf Netflix zu schauen und sich nicht sinnvoller zu beschäftigen, sei es mit atelischen Aktivitäten, die Setiya besonders im Blick hat, oder mit telischen und semitelischen Projekten, die ich so schätze. 

Neil Levy ist Philosophieprofessor an der University of Oxford. Im Februar erscheint sein nächstes Buch über falsche Überzeugungen mit dem Titel Bad Beliefs. Why They Happen to Good People (Oxford University Press).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2022: Für sich einstehen