Ellbogen, Knie und andere Turbulenzen

Flugzeuge erfüllen einen alten Traum. Aber die Zeit an Bord kann lang werden und die Ruhe ist fragil. Über die Psychologie der Passagierkabine.

In einer Flugzeugkabine sind viele Sitzplätze mit Passagieren zu sehen
© tttuna/Getty Images

Flugzeuge haben einen alten Traum technisch erfüllt: das Fliegen. Damit ermöglichen sie nicht nur das schnelle Reisen über große Distanzen, sondern auch das Überwinden der Bodenhaftung menschlicher Körper. Sie beschleunigen Menschen also nicht nur wie Fahrräder, Autos oder Züge, sondern lassen sie buchstäblich abheben.

Zwar verbinden viele von uns eine gewisse Aufregung mit Flugreisen, doch keineswegs alle reagieren mit Begeisterung. Manche lieben Flugreisen, weil sie das Fliegen spannend finden, sie aus dem…

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reagieren mit Begeisterung. Manche lieben Flugreisen, weil sie das Fliegen spannend finden, sie aus dem Flugzeugfenster eine ganz eigene Sicht auf die Welt haben oder sie sich so für ein paar Stunden vielen Anforderungen des Alltagslebens entziehen können. Andere meiden sie wegen der damit verbundenen hohen Umweltbelastung, weil sie unter Flugangst oder einer Reisekrankheit leiden oder weil sie das enge Zusammensein mit unbekannten Menschen unangenehm finden. Vielflieger dagegen sind oft einfach gelangweilt von den immer ähnlichen Abläufen.

Hinzu kommt die potenzielle Lebensgefahr, mit der das Fliegen verbunden wird. Zwar ist das Risiko, im eigenen Auto tödlich zu verunglücken, ungleich höher, wie Verkehrsstatistiken immer wieder zeigen, das ist im Alltag jedoch wenig präsent. Der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gigerenzer bringt es auf den Punkt: „Wenn Sie mit Ihrem Auto heil am Flughafen ankommen, haben Sie den gefährlichsten Teil Ihrer Reise wahrscheinlich schon hinter sich.“

Höfliche Unaufmerksamkeit

Dass die Gefahren des Fliegens deutlich stärker wahrgenommen werden, hat viele Gründe. Das Fliegen ist für Menschen eine besonders ungewohnte Fortbewegungsform, weil wir es ohne technische Hilfe nicht können. Die Geschichte zeigt aber auch, dass das jeweils neueste Verkehrsmittel besondere Ängste hervorruft. Und schließlich vermitteln auch die gängigen Sicherheitsvorkehrungen sowie die Sicherheitseinführung zu Beginn des Fluges ein eindrückliches Bild möglicher Gefahren.

In gängigen Verkehrsflugzeugen sitzen also viele Menschen mit teils sehr unterschiedlichen Gefühlen auf relativ engem Raum beisammen, weitgehend ohne Einfluss auf den Verlauf ihrer Reise. Flugpassagiere verbringen eine „Zeit des geteilten Schicksals“, so hat es die Sozialanthropologin Karin Knorr Cetina formuliert. Und doch treten sie nur sehr selten in direkten Austausch miteinander.

Auch im Flugzeug gilt nämlich ein Prinzip, das der berühmte Soziologe und Sozialpsychologe Erving Goffman mit dem Begriff „höfliche Unaufmerksamkeit“ zusammenfasste: Wir nehmen andere Anwesende im öffentlichen Raum zwar (erkennbar) wahr, unterlassen aber offensichtliche Zeichen der persönlichen Aufmerksamkeit, wie sich gegenseitig anzusehen oder Äußerungen des anderen zu kommentieren.

Im Flugzeug werden Gespräche außerdem durch die räumlichen Bedingungen erschwert: das Brummen der Motoren, die technische Belüftung und – seit der Coronapandemie – das Tragen von Masken. Das materielle De­sign von Flugzeugkabinen unterbindet Kommunikation zusätzlich, weil die engen Sitzreihen und Sicherheitsgurte Bewegung erschweren und die Sitze so angeordnet sind, dass man nur die direkten Sitznachbarn einigermaßen sehen kann. So verbringen die meisten Passagierinnen und Passagiere die Zeit an Bord relativ ruhig, sie dösen, lesen oder hören Musik und sprechen höchstens mit den neben ihnen Sitzenden oder kurz mit dem Kabinenpersonal.

Fragile Ruhe

Diese Ruhe aber ist fragil. Jederzeit kann sich die Stimmung ändern, weil Turbulenzen oder Unwetter aufkommen, Verspätungen entstehen, das Essen zum (subjektiv) falschen Zeitpunkt serviert wird oder weil Mitfliegende die eigene Befindlichkeit stören. Sie beanspruchen zu viel Platz, belegen allein die gemeinsame Armlehne, tragen ein zu intensives Parfum oder zu wenig Deo, essen zur falschen Zeit das falsche (mitgebrachte) Essen auf die falsche Weise, schnarchen beim Nickerchen, drücken von hinten gegen den Sitz und so fort.

So anonym und unpersönlich die Passagierkabine auch gestaltet sein mag, sie transportiert eine größere Menge Menschen auf engstem Raum, fliegend. Dadurch können Verhaltensweisen störend werden, die im Alltag kaum auffallen. An Bord fehlen die Ausweichmöglichkeiten.

Das Potenzial für Konflikte aller Art ist im Flugzeug also aus verschiedenen Gründen hoch. Sehr häufig bleibt die Anspannung aber unterschwellig und äußert sich primär in gereizter Stimmung oder ebensolchen Kommentaren zu Mitreisenden. In selteneren Fällen entstehen offene Auseinandersetzungen. So berichten auch öffentliche Medien immer wieder von Aggressionen gegenüber dem Kabinenpersonal und anderen spektakulären Auseinandersetzungen an Bord, die im englischsprachigen Raum unter dem Begriff air rage firmieren.

Aus moralischer Sicht ist ein solches Verhalten schon im Hinblick auf die Sicherheit des Fluges problematisch. Aus sozialpsychologischer Sicht erscheint die Fragilität der Ruhe in Flugzeugen aber einleuchtend. Genauer, es bietet sich die umgekehrte Sichtweise an: Nicht die Konflikte an Bord überraschen, sondern ihr weitgehend vorherrschendes Fehlen ist ein analytisch hochinteressantes Phänomen.

Literatur

Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. Bertelsmann, München 2013

Erving Goffman: Interaktion im öffentlichen Raum. Campus, Frankfurt a.M. 2009

Karin Knorr Cetina: Die synthetische Situation. In: Ruth Ayaß, Christian Meyer (Hg.): Sozialität in Slow Motion. Theoretische und empirische Perspektiven. Springer VS, Wiesbaden 2012

Larissa Schindler: Adapting bodies to Infrastructures. Human Studies, 44/2, 2021, 283–304. DOI: 10.1007/s10746-021-09578-3

Larissa Schindler ist Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bayreuth. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mobilität, Sport und Lernen. In den vergangenen Jahren hat sie im Rahmen eines DFG-geförderten Projekts insbesondere zu Flugreisen geforscht

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2022: Frauen und ihre Mütter