Im Jahr 1908 packte den Amerikaner Frederick Cook der Ehrgeiz: Er wollte als Erster den Nordpol erreichen. Dabei musste er zahlreiche Schneestürme ertragen. „Die furchtbare Bedrückung durch diese wütende, lebensaussaugende, vampirische Kraft, die über die trostlose Welt fegte! Körperlose Wesen – vielleicht die Seelen derer, die hier umgekommen waren – schienen mich im Wind unaufhörlich zu rufen. Ich spürte unter mir die Brandung des wogenden, furchtbaren Meeres. Ich spürte die Trostlosigkeit dieser…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
mir die Brandung des wogenden, furchtbaren Meeres. Ich spürte die Trostlosigkeit dieser stürmischen Welt in meiner zitternden Seele“, schrieb Cook.
Polarexpeditionen waren zu ihren Anfangszeiten vor rund 200 Jahren dramatische Unternehmungen. Mit dem Untergang der Sonne begann die gefährlichste Zeit für die Polarfahrer. Sie waren auf Schiffen mit knirschenden Holzbalken monatelang im meterdicken Eis gefangen. Ohne Sonnenlicht, ohne frische Nahrung, ohne Kontakt zur Außenwelt verloren die Polarfahrer zusehends ihr psychisches Gleichgewicht – manchmal mit dramatischen Folgen.
Bei ihrem Versuch, eine wissenschaftliche Station in der Arktis zu errichten, kam es etwa bei der Expedition von Adolphus Greely in den Jahren 1881 bis 1884 zu Meuterei, Selbstmord und Kannibalismus; nur sechs der ursprünglich 25 Mann überlebten.
Mit der Polarnacht kam die Melancholie
Schon vor 150 Jahren beobachtete ein unbekannter Schiffsarzt Veränderungen im Verhalten der Mannschaft, kurz bevor die lange polare Nacht begann. „Es ist nicht schwer, in den Gesichtern meiner Kameraden zu erkennen, was sie denken und in welcher Stimmung sie gerade sind“, schrieb er. „An den Tischen und im Vorderdeck – überall sitzen traurige, niedergeschlagene Männer, verloren in melancholischen Träumen, aus denen immer wieder einmal einer von ihnen erwacht und vergeblich versucht, die anderen aufzuheitern.“
Im Dezember erkrankten die Polarfahrer häufig an Skorbut und alte Narben brachen auf, was die fragile Gemütsverfassung noch stärker belastete. „Der schwarze Vorhang, der sich über die einsame Eiswelt da draußen gesenkt hat, hat auch von der inneren Welt unserer Seelen Besitz ergriffen“, berichtete der Schiffsarzt.
Und er ersann auch bereits Behandlungsstrategien. So ließ er die Schiffsbesatzung etwa stundenlang vor Kaminfeuern sitzen. Es war womöglich der erste schriftlich festgehaltene Versuch, die Symptome von Winterdepressionen mithilfe einer Lichttherapie zu lindern. Doch wie sich herausstellte, trug der gutgemeinte Ansatz seinerzeit wenig zur Entspannung der Mannschaft bei: Auf dem eisigen Holzschiff fürchteten sich die Männer vor Bränden fast so sehr wie vor Erfrierungen.
Grundstein für die Polarpsychologie
Am Anfang der Polarpsychologie standen nicht ausgebildete Fachleute, sondern die Entdecker selbst. Der britische Südpolfahrer Raymond Priestley verfasste bereits 1914 den ersten Fachaufsatz mit dem Titel The psychology of exploration. Einige Jahre später prägte sein Landsmann Apsley Cherry-Garrard, ebenfalls ein Erforscher des Südpols, den Begriff „Polarpsychologie“.
Der Arzt Jean-Baptiste Charcot, Sohn des berühmten Neurologen Jean-Martin Charcot, war Leiter zweier französischer Expeditionen zum Südpol und erforschte später auch den Nordpol. In ihren frühen Beobachtungen vermuteten er und andere Entdecker einen Zusammenhang zwischen der psychischen Verfassung und den körperlichen Entbehrungen, etwa dem Vitaminmangel. Nicht nur ein Zuwenig an Vitamin C und D war gefährlich: Der Mangel von B-Vitaminen konnte schwere Nervenschädigungen verursachen, die die Wahrnehmung und das Empfinden der Entdecker beeinflussten und das Denken erschwerten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen Psychologen und Psychologinnen, sich vermehrt für die Expeditionen ins ewige Eis zu interessieren. In den 1950ern führten sie die ersten wissenschaftlichen Studien durch, dokumentierten damals hauptsächlich Anpassungsprobleme und Stress.
Hier lesen Sie mehr zu Polarpsychologie: