In der Dämmerung sind nur die Umrisse der Menschen zu erkennen. Ihre Schritte knirschen im pulvrigen Schnee. Mit dem kurzen Spaziergang will die Gruppe die Sonne verabschieden, die gleich hinter dem Horizont verschwinden wird. Morgen früh wird sie nicht wie gewohnt aufgehen. Hier am Südpol wird die Sonne nun zwei Monate lang verschwunden sein. Es herrscht die sogenannte Polarnacht. In der amerikanischen McMurdo-Polarstation, der größten Station in der Antarktis, wird es nun ruhiger.
Während des Sommers…
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wird es nun ruhiger.
Während des Sommers tummelten sich hier über 1200 Menschen. Jetzt sind nur noch knapp 50 Personen hier. Es ist leise in Gallagher’s Pub und dem Coffee Shop geworden. Die hell beleuchteten Korridore wirken gespenstisch leer. Doch die Frauen und Männer, die hier überwintern, haben viel zu tun. Sie halten nicht nur die Station am Laufen, sondern führen wissenschaftliche Untersuchungen durch. Zum Beispiel entnehmen sie wiederholt Eisproben und analysieren sie.
Der Klimawandel ist verstärkt an den Polen zu spüren, momentan noch stärker in der Arktis, also im hohen Norden. Die Arktis erwärmt sich viermal so schnell wie die restliche Welt im Durchschnitt. Um die Antarktis im Süden ist es nicht viel besser bestellt. Der rasante Wandel bedeutet, dass Forschende das ganze Jahr über an den Polen präsent sein müssen. Sie sollen Daten erheben, Proben entnehmen, dokumentieren und beobachten.
Doch das ist mit psychischen Risiken verbunden. Denn die Pole gelten als eine „extreme und ungewohnte Umwelt“ (extreme and unusual environment) – eine Fachbezeichnung, die sonst nur Vulkanen, ozeanischen Tiefseegräben und dem Weltraum vorbehalten ist. Rund um die Pole leben die Forschenden in monatelangem Hell (Polartag) und monatelanger Dunkelheit (Polarnacht). Draußen, außerhalb der Stationswände, kann es dabei minus 70 Grad kalt werden. In Notfällen kommt nicht immer Rettung – und schon gar nicht schnell. Die Forschung an den Polen kann zu einer harten Probe für die psychische Gesundheit werden.
Körperliche Beschwerden wie gestörter Schlaf oder Reizdarm
Und diese Belastung ist ihrerseits zu einem Gegenstand der Forschung geworden: Psychologen und Psychologinnen wollen verstehen, wie die menschliche Psyche auf die extremen Lebensbedingungen in dieser Umgebung reagiert. Ihre Spezialisierung nennt sich Polarpsychologie (polar psychology). Mit ihrem Wissen können sie den Menschen helfen, die hier oft für viele Monate leben.
Im Jahr 2013 wertete ein polarpsychologisches Team – und zwar im subtropischen Brasilien – 44 Forschungspublikationen zur Antarktis aus, die zwischen 2000 und 2010 erschienen waren. Jede dieser 44 Veröffentlichungen verzeichnete negative psychische Auswirkungen der Polareinsätze. Die Studien dokumentierten alle dieselben Symptome: Gerade überwinternde Polarforschende sind häufig von körperlichen Beschwerden wie Müdigkeit, Gewichtszunahme, Reizdarmbeschwerden, Magenproblemen, rheumatischen Symptomen und Kopfschmerzen betroffen. Gestörter Schlaf ist gang und gäbe.
Hinzu kommen kognitive Defizite: Den inmitten des Eises lebenden Frauen und Männern fällt es schwerer, sich zu konzentrieren und zu erinnern. Außerdem werden bei ihnen verlängerte Reaktionszeiten beobachtet, was gerade in risikoreichen Umgebungen zum Problem werden kann.
Darüber hinaus berichten die Studien immer wieder von negativen Gemütsverfassungen. Wut und Reizbarkeit, aber auch Angst sind unter Überwinternden zu beobachten. Manche zeigen Symptome von Depressionen. Die „subsyndromale saisonale affektive Störung“ hat unter anderem mit der Polarnacht, also der Dauerfinsternis im polaren Hochwinter zu tun. Damit fehlt das Licht als zentraler Taktgeber für den menschlichen Wach-Schlaf-Rhythmus.
Auf engstem Raum – auch mit unliebsamen Kollegen
Aber auch das Eingesperrtsein als Gruppe ist ein erheblicher Stressor. Am Nord- wie Südpol sind die Forschenden auf sogenannte capsule habitats, also in sich geschlossene, „verkapselte“ Stationen angewiesen. Sie ermöglichen das Überleben in Umgebungen, die sonst tödlich wären. Doch das enge Zusammenleben mit Arbeitskollegen und -kolleginnen dort ist eine Herausforderung. Hier können Menschen einander langfristig nicht aus dem Weg gehen und auch nicht frei entscheiden, wen sie sehen möchten und wen nicht. Bei mehr als nur frostigen Außentemperaturen in der Antarktis ist es unmöglich, mal schnell Abstand zu suchen, indem man vor der Tür frische Luft schnappt.
Der Lagerkoller kann manchmal zu schwerwiegenden Konflikten führen – wie etwa im Jahr 2018 auf der russischen Antarktisstation Bellinghausen. Dort stach einer der Forscher seinem Kollegen mit einem Küchenmesser in die Brust. Der Anlass war vermeintlich geringfügig: Das Opfer hatte immerzu das Ende der wenigen Bücher verraten, die sich in der Bellinghausener Bibliothek befinden, wodurch der Täter sich seines Lesevergnügens beraubt fühlte – eine der wenigen Freuden, die ihm in dieser Umgebung geblieben waren.
Die Antipathie zwischen den beiden hatte sich aber schon lange vorher aufgeschaukelt. Opfer und Täter arbeiteten bereits seit vier Jahren miteinander. Doch die Zeit schweißte sie nicht enger zusammen. Im Gegenteil: Sie machte das Miteinander immer unerträglicher. „Viele Polarpsychologen und -psychologinnen weisen auf die Gefahr von Konflikten und Spannungen innerhalb der Gruppe hin – und dies ist heutzutage in der Tat einer der häufigsten Stressfaktoren auf Polarstationen“, betont die polnische Polarpsychologin Agnieszka Skorupa.
Im Falle von Konflikten auf der deutschen Neumayer-Station III in der Antarktis ist jederzeit der Kontakt mit einer Psychologin möglich. Sie ist auf Kriseninterventionen spezialisiert. Außerdem können sich die Polarforschenden in den meisten Fällen problemlos die Unterstützung ihrer Familien und Freunde einholen. Die Überwinternden auf der Neumayer-Station benutzen heute WhatsApp, um mit ihren Liebsten zu sprechen. Das ist eine erhebliche Erleichterung. Noch bei den Nordpolfahrten im 19. Jahrhundert hatte keinerlei Kontakt zwischen den Überwinternden und ihrer Heimat geherrscht. Zwei Jahre ohne Nachricht konnten damals Normalität sein.
Vom Rest der Welt getrennt
Das hat sich dank Funk und Internet geändert. Soziale Medien haben die Pole erreicht. Aber einige Alltagsbedingungen sind in der Antarktis unverändert geblieben. „Ich unterscheide deswegen gerne zwischen ‚isoliert‘ und ‚vom Rest der Welt abgeschnitten‘“, sagt Tim Heitland. Er ist Medical Coordinator am deutschen Alfred-Wegener-Institut und hat bereits 20 Monate auf der Neumayer-Station verbracht, darunter auch einen Winter. Dank Internet seien die Forschenden zwar nicht isoliert – aber gerade im Winter komme im Notfall keine Hilfe, keine Feuerwehr, kein Rettungswagen.
Die Entfernung zwischen der Antarktis und der Heimat bedeutet auch, dass Überwinternde nicht einfach nach Hause zurückkehren können, wenn die Mutter oder der Vater stirbt oder das Kind ins Krankenhaus kommt. So bleibt der Eiskontinent gerade für die Überwinternden vom Rest der Welt abgeschnitten. Aber Polarstationen sind so angelegt, dass die Forschenden diese Realität nicht ständig vor Augen haben – und sind auch für Notfälle ausgerüstet. Auf der Neumayer-Station gibt es unter anderem eine sehr gut ausgestattete Krankenstation, einen Fitnessraum, eine kleine Bibliothek, einen Kickertisch – und immer wieder Veranstaltungen wie Weihnachtsfeiern und Partys für die Überwinternden.
In den Sommermonaten – das ist rund um den Südpol zwischen Oktober und Februar – leben auf den antarktischen Stationen bis zu 5000 Männer und Frauen, in den Wintermonaten, also März bis September, sinkt die Zahl auf einen Bruchteil. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind zwischen 18 und 60 Jahre alt. Ob jung oder älter – sie alle müssen gleichermaßen mit den psychischen Herausforderungen umgehen können.
Welche Eigenschaften braucht man dafür, wer ist geeignet? Für kurze Expeditionen eignen sich laut den Polarpsychologen Peter Suedfeld und Lawrence Palinkas jene Personen, die hohe Leistungsmotivation, einen starken Sinn für das Abenteuer und eine geringe Anfälligkeit für Ängste besitzen. Bei längeren Expeditionen und bei der Überwinterung ist es anders. Da sollten die Personen über 30 Jahre alt sein, wenig Symptome von Depressionen aufweisen und eher introvertiert, aber sozial versiert sein. Außerdem gefragt sind die Rücksichtnahme auf Bedürfnisse anderer, hohe Toleranz bei geringer geistiger Stimulation und eine geringe Anfälligkeit für Langeweile.
Text mining gibt Aufschluss
Derartige Anforderungsprofile haben polarpsychologische Teams erstellt. Dabei griffen sie unter anderem auch zu einer kuriosen Methode: Sie analysierten historische Tagebücher und Expeditionsberichte von Menschen, die an frühen Polarexpeditionen teilgenommen hatten (lesen Sie hierzu auch „So fing es an). Sie zählten etwa bestimmte Wörter und Formulierungen in den bisweilen mehr als hundert Jahre alten Aufzeichnungen. Dank des sogenannten text mining zogen sie Rückschlüsse auf die Persönlichkeit, den Geisteszustand, die Verhaltenstendenzen sowie Anpassungsprozesse und erfolgreichen Bewältigungsstrategien der früheren Polarfahrer – als Blaupause für die Gegenwart.
Mehrere Nationen, die ganzjährig polare Forschungsstationen betreiben, bedienen sich polarpsychologischer Expertise, darunter auch die USA. Bei der Auswahl der Bewerber und Bewerberinnen führen Polarpsychologen und -psychologinnen strukturierte Interviews durch und werten psychometrische Inventare aus.
Dazu gehört beispielsweise der Persönlichkeitstest Minnesota Multiphasic Personality Inventory, der tiefere Einblicke in die Persönlichkeit und die psychische Verfassung bietet. Auch Alkoholsuchttests können zum Zuge kommen. Alkohol gehörte besonders in früheren Zeiten zu den problematischen Bewältigungsstrategien der Polarfahrer.
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Wichtige Eigenschaften für Polarforschende
Wodzimierz Sielski ist der Leiter der polnischen Polarstation auf dem arktischen Archipel Spitzbergen. Sie befindet sich in dem Fjord Hornsund. Seit den 1950ern führen die Polen Untersuchungen in der Arktis durch, seit den 1970ern auch ganzjährig. Der Transport zur Station ist eine logistische Herausforderung – in den Sommermonaten ist er per Schiff und Schneemobil zu meistern, in den Wintermonaten viel komplizierter. Ihren Alltag verbringen die Forschenden abgeschnitten von der Welt. Dabei teilen sie alles bis auf die sechs Quadratmeter in ihren winzigen Schlafunterkünften.
„Bei der Auswahl der Kandidaten und Kandidatinnen für die Polarstation bedienen wir uns auch psychologischer Inventare“, sagt Sielski. „Aber es ist ebenfalls wichtig, wie sich die Person im Gespräch und im Umgang mit ihren Kollegen und Kolleginnen verhält.“
Wie zahlreiche Fachleute der Polarpsychologie betont Sielski, dass Kommunikationsfähigkeit, ein ausgeglichenes Temperament und Empathie zentrale Eigenschaften sind, auf die es bei der Auswahl ankommt. Aber es gehe nicht darum, zehn Personen mit demselben Charakter zu finden. „Vielmehr sollen sie sich ergänzen – ähnlich einem Puzzle“, vergleicht Sielski. Man suche beispielsweise nicht nur introvertierte Menschen, sondern auch sowohl offenere als auch ruhigere, wodurch ein Gleichgewicht herrscht und individuelle Stärken das gesamte Team starkmachen.
Erst Sauna, dann minus 73 Grad
Darüber hinaus haben die Menschen, die in den Polarstationen leben, selbst eine Reihe eisiger Traditionen entwickelt. Sie fördern nicht nur ihren Zusammenhalt, sondern auch die gute Laune. Auf der McMurdo-Station gibt es etwa den „300-Club“. Die Überwinternden warten, bis die Temperatur auf minus 100 Grad Fahrenheit (minus 73 Grad Celsius) fällt. Ist es an einem Tag im tiefen Winter so weit, dann gehen sie zunächst für zehn Minuten in die Sauna. Sie ist auf 200 Grad Fahrenheit (93 Grad Celsius) aufgeheizt. Danach eilen sie schnurstracks – und nackt – nach draußen in die Eiseskälte, wo sie folglich einen Temperaturunterschied von 300 Grad Fahrenheit erleben.
Allzu schnell dürfen sie dabei allerdings nicht sein. Sonst verletzt die plötzliche Kälte ihre Lungen und Atemwege. Der „300-Club“ wird allerdings noch von dem „200-Club“ auf der russischen Wostok-Polarstation übertroffen. Hier gehen die Forschenden zunächst in die Sauna, die auf 120 Grad Celsius aufgedreht ist, und harren dann anschließend ganze 200 Sekunden draußen in einer Kälte von minus 80 Grad Celsius aus.
Diese waghalsigen Traditionen werden für viele Überwinternde zu unvergesslichen wie wunderbaren Momenten. Noch im Nachhinein, wenn sie längst wieder zu Hause sind, denken sie mit großer Begeisterung und auch viel Stolz an sie zurück. Das gilt nicht nur für diese leichtsinnigen Eskapaden.
Beste Erfahrung des Lebens
Generell bewerten Polarforschende ihre Wochen und Monate in den polaren Regionen rückblickend als eher positiv oder gar sehr positiv. In einer polarpsychologischen Untersuchung sollten ehemalige Überwinternde angeben, wie der Aufenthalt am Pol sie verändert hatte. Über 60 Prozent der Befragten berichteten, sie hätten an persönlicher Stärke gewonnen und seien nun selbständiger. Die Hälfte hatte während ihrer Überwinterung gelernt, besser mit Problemen umzugehen.
Suedfeld taufte dieses Phänomen den „salutogenen Effekt der Polarfahrten“. Im Nachhinein ist es generell einfacher, negative Momente auszublenden – und die einzigartige Situation am Pol dadurch positiver wahrzunehmen. Diese Tendenz dokumentierte die Polarpsychologin Donna Oliver früher als die meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen. „Fast jedes Mitglied der Wintergruppe betrachtete seinen Antarktisaufenthalt als eine der besten Erfahrungen seines Lebens“, berichtete die Psychologin bereits vor drei Jahrzehnten.
Die monatelangen Erschwernisse und Herausforderungen scheinen vergessen, sobald die ersten Sonnenstrahlen den Schnee und das Eis berühren – für das menschliche Auge ein Glitzerspiel in unzähligen Farben nach all den langen Wochen der Finsternis.