In Richtung Leben gucken

Manchmal fühlen wir neben der Freude über etwas Neues auch eine große Traurigkeit. Unsere Autorin Gabriele Heise über das, was dann hilft

Foto zeigt eine junge Frau am Strand, die nach vorne schaut.
Wir alle machen Fehler und lassen Chancen ungenutzt. Dann heißt es: nach vorne schauen. © Denni Van Huis/Stocksy

Es ist offensichtlich: Wer unglücklich ist, sollte etwas an seinem Leben ändern. Vor allem sollte er verstehen, wonach er sucht und sich sehnt. Und wenn es ein Gefühl, einen Gedanken, hilfreiche Worte dafür gibt: Nix wie los in neues Gebiet! Klingt plausibel, oder? Wir sind die Architektinnen und Architekten unseres Lebens. Innere Freiheit bedeutet, selbst den Kurs bestimmen zu können und Verantwortung für das eigene erfülltere Leben zu übernehmen.

Warum das trotzdem nicht immer klappt, habe ich endlich…

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zu übernehmen.

Warum das trotzdem nicht immer klappt, habe ich endlich verstanden. Hier die Erklärung aus der Privatschatulle meines Lebens: In dem Moment, in dem wir merken, dass unsere wesentlichen Gewohnheiten und Haltungen uns blockieren und schaden, setzt nicht nur der Impuls ein, es nun anders und neu zu machen. Es gibt auch den Reflex, einen großen Schmerz zu fürchten. So lange Jahre haben wir alles falsch gemacht! So viele Chancen im Leben konnten wir nicht nutzen! So viele Menschen haben wir vergrault, beschädigt, verloren! Das tut unendlich weh. Und dieser Schmerz ist eine Gefahr. Wir wollen ihn nicht spüren. Wir haben Angst vor der Ohnmacht, der Trauer, die dadurch ausgelöst werden. Vor allem schämen wir uns, dass wir so viel falsch gemacht haben. Und deshalb entscheiden wir uns unbewusst, aber folgenreich gegen eine Veränderung – auch wenn wir damit das Leiden an uns selbst aufrechterhalten.

Wir trauern um all die verlorene Zeit

Zu abstrakt? Dann ein Beispiel. Mein Freund Achim (Name geändert) findet mit 60 Jahren heraus, dass er eine wirklich schöne Gesangsstimme hat. Er ist begeistert und nimmt sogar Gesangsstunden. Die Lehrerin ermutigt und stützt ihn. Dann kommt der nächste Schritt: Chorgesang! Mit anderen zusammen zu singen ist ein großes Glück – denkt man. Aber da kommt die Falle. Um mit anderen schön zu singen, muss man üben. Wirklich üben! Und dabei findet Achim nun heraus, dass alle anderen es besser können. Dass er seine schöne Stimme zwar einbringen kann und Anerkennung damit findet. Aber er merkt auch, dass er im Tempo nicht mithalten kann, dass er sich gern an seinen Nebenmann hängt und damit einen Bruchteil von Sekunden zu spät kommt. Dass er die Noten nicht sicher lesen kann. Dass er die anderen Stimmen als störend empfindet und aus dem Tritt gerät. Klippe um Klippe also. Die fatale Folge aber ist nun: Er schämt sich. Er wird traurig, weil er viel zu spät mit diesen Freuden begonnen hat. Er ist wütend, dass alle anderen besser sind und er in die Rolle des Anfängers gerät. Das schmerzt und kränkt ihn. Und er beendet das Experiment. Seine schöne Gesangsstimme bleibt im Badezimmer unter der Dusche.

Noch ein Beispiel? Mein Freund Fritz war lebenslang ein Einzelgänger. Im höheren Alter lässt er sich von seiner Freundin dazu überreden, mit anderen Menschen nicht nur zu diskutieren, sondern Gesellschaftsspiele zu spielen. Activity, Tabu, Rummikub – wer kennt das schon noch? Fritz stellt fest, dass er großes Vergnügen dabei hat. Er plant, das in Zukunft öfter zu tun. Preisfrage: Warum kommt es nicht dazu? Weil auch hier ein subtiler Mechanismus wirkt. Wenn Fritz in Zukunft wirklich mehr Zeit mit Freunden und Geselligkeit verbringt, hat er nicht nur ein neues Vergnügen. Es meldet sich auch ein großer Kummer. „Warum habe ich das früher noch nie getan? Das hat doch in meinem Leben völlig gefehlt…!“ Trauer steigt auf, vielleicht auch Schamge­fühl, weil er die Lücken und Mängel im eigenen Leben spürt. Und nun erneut der tragische Schluss: Er spielt nie wieder. Lieber unglücklich und gelangweilt leben, als so spät erst herauszufinden, wie es anders gehen könnte. Dass Geselligkeit keine verlorene Zeit ist. Dass man Spaß dabei hat und Leichtigkeit erlebt. Eine kleine Auszeit nimmt von der permanenten Anstrengung, das eigene Ego zusammenzuhalten. Fritz geht wieder aufs Sofa, greift zum Tablet, in das lange Buchregal oder auf den Stapel der anspruchsvollen Zeitungen, macht den Vorhang zu und taucht ab in seine einsamen Lesewelten. Verzicht, Mutlosigkeit, Resignation. Schade.

Bitte keine zu hohen Ansprüche!

Aber wie könnte es anders gehen? Wie verändern wir uns, auch wenn wir damit das Eingeständnis eines Mangels, eines Fehlers, einer unterbelichteten Seite unserer Person machen? Wie ertragen wir es, uns für diese Unzulänglichkeit nicht so zu schämen, dass wir Veränderung vermeiden? Und sogar aufgeben, neue Wege auszuprobieren? Antworten darauf gibt Bärbel Wardetzki, Psychotherapeutin in München und Autorin diverser Bücher zum Thema Narzissmus, in einem Telefoninterview.

„Ja, sich auf den Weg zu machen und im höheren Alter noch einmal neue Fähigkeiten zu trainieren ist nicht leicht“, gibt sie gern zu. Aber die Geschichte von Achim, dem verkappten Chorsänger, regt sie richtig auf: „Das ist einfach ein Jammer, was er mit sich macht. Er hat doch eine gute Stimme. Und wenn in dem Chor, den er sich gesucht hat, ein zu hoher Anspruch ist, dann gehe ich eben in einen anderen Chor. Dann singe ich mit Leuten aus der Nachbarschaft, weil wir einfach Lust haben zu singen.“

Die Idee, sofort von der Partitur singen zu müssen, sicher den Ton zu halten und ohne Fehler dabei zu sein, hält sie für einen Irrweg. „Wenn er denkt, er müsse jetzt hier in diesem Chor genauso gut singen wie alle anderen, die schon zehn Jahre dabei sind, dann sollte Achim sich prüfen.“ Der Anspruch sei einfach zu hoch. Damit blockiere man sich bei allen Versuchen, neue Talente zu entwickeln.

Gekränkte Männlichkeit

Das sei allerdings gerade bei Männern oft zu beobachten. Wardetzki schildert eine Szene aus ihrem eigenen Alltag. „Ich lerne gerade, Golf zu spielen. Das macht mir einen Heidenspaß. Einmal stand da ein Mann jenseits der Rente auf dem Platz, der machte einen unglaublichen Schuss. Ich konnte kaum sehen, wo der Ball runterging. Ich sagte zu ihm: Das war ja grandios! Aber er drehte sich um und sagte: Es geht noch weiter. Da habe ich gedacht: Ach, du Armer. Statt dass du dich freust, was du für einen Superschlag gemacht hast, sagst du: Es geht noch weiter. Da habe ich gedacht, du tust mir richtig leid. Ich lasse mir doch meine Freude nicht nehmen, nur weil der Ball woanders hingegangen ist, als ich gehofft habe.“

Bärbel Wardetzki vermutet in solchen Reaktionen eine narzisstische Kränkbarkeit. Jedes Scheitern weckt dann alte Gefühle der Wertlosigkeit. Eine innere Stimme meldet: Ich bin nichts wert, wenn ich nicht so gut bin, wie ich meine, sein zu müssen. Aber welche Instanz in mir schämt sich denn? Wo kommt die Stimme her? Kommt sie aus einem grandiosen Anspruch an mich? Kommt sie aus Botschaften, die ich in mir habe, wie: „Du musst immer gut sein“? Um diesen Teil meiner Person muss ich mich dann kümmern und mich fragen: Was passiert mit mir, wenn ich weniger gut bin, als ich erwartet habe?

Sie rät dazu, der Selbsterforschung intensiv Raum zu geben und zu lauschen: Was mache ich da eigentlich mit mir? Was passiert mit mir, wenn ich meinen Anspruch herunterschraube? Vielleicht sollte ich freundlicher mit mir sein und sagen: Ach Junge, streng dich mal nicht so an, sondern lass es dir lieber gutgehen und mach es so, wie es dir passt.

Es gilt dabei, Selbstvergebung zu üben und Mitgefühl mit sich zu haben. Die eigenen Grenzen sind eben lange angelegt und nicht mehr beliebig zu erweitern. Das macht auch traurig. Wir haben ja etwas versäumt oder verpasst. Ich kann mich natürlich zerfleischen und sagen: Hätte ich doch dieses oder jenes gemacht – aber was habe ich davon? Damit mache ich mir mein Jetzt kaputt. Dieses Jetzt ist sehr viel besser, wenn ich es auskoste. Ich muss mich versöhnen mit all dem, was in meinem Leben anders gelaufen ist.

Aus Wünschen werden Kompetenzen

Und dann sollte es weitergehen: Was kann ich tun, um mein Leben schön zu machen? Was würde mir Spaß bringen? Und was entspricht meinen realen Kräften?

Mit diesem richtigen Maß kann die Freude am Ausprobieren langsam wachsen. Das Singen, die Geselligkeit gehören allmählich zum Leben dazu – aus Wünschen werden neue Kompetenzen. Das Selbstbild erhält lustvolle Facetten.

Bärbel Wardetzki räumt ein, dass eine solche Selbsterforschung nicht jedem leichtfällt. Aber ein Ausweichen lässt sie nicht gelten. Die Heldenreise auf der Suche nach neuer Lebensfreude sollte unbedingt weitergehen. Zentrale Fragen müssten sein: Was würde mich denn zufrieden machen? Wo will ich hin? Das ist manchmal schwer allein zu beantworten. Was aber nicht sein müsse: „Es gibt genug Unterstützung inzwischen, wenn man sein eigenes Glück entschiedener suchen möchte. Es gibt Seminare, es gibt Onlineangebote, Bücher, Kurse oder Podcasts.“

Sie warnt jedoch dringend davor, sich als Ehefrau oder Partner in diesen Prozess der Selbstergründung einzumischen und andere ermutigen zu wollen. Nach dem Motto: „Du bist so mürrisch, langweilst dich so – kann ich dir was Gutes tun?“ Damit riskiere man als Paar nur viel Stress und Streit. Ratschläge würden dann vor allem als Erziehungsmaßnahme gedeutet. Damit hänge der Haussegen schnell schief. Man solle die Liebste, den Liebsten besser die schlechte Laune auskurieren lassen und so lange etwas tun, was einem selbst Spaß macht.

Das klingt nach einer Wachstumsübung für alle beide. „Ja, innere Autonomie in der Paarbeziehung kann man bis ins hohe Alter lernen“, ist die launige Anmerkung. Mit 70 sei es doch höchste Zeit, dieses narzisstische Gedöns mal überwunden zu haben. Gerade im Alter müssten wir in Richtung Leben gucken und nicht in Richtung Vergangenheit. Und sie berichtet, dass sie damit gerade selbst ihre Erfahrungen mache. Sie wage einen neuen Aufbruch. Nach all den vielen Sachbüchern zu psychologischen Themen wolle sie noch etwas Neues: Sie werde nun Kurzgeschichten schreiben. Darauf habe sie richtig Lust. Und: Scheitern erlaubt!

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 72: Neuanfänge