Arbeit hält gesund

Arbeit macht nicht unbedingt krank. Sind wir mit ihr zufrieden, ist sie eine wichtige Ressource und schützt sogar vor psychischen Erkrankungen.

Eine Frau sitzt glücklich mit einem Kollegen am Tisch und erklärt
Eine zufriedenstellende Arbeit ist ein Schutz gegen Depression und Burnout. © gradyreese/Getty Images

In den vergangenen Jahren bot der Arbeitsmarkt nur selten Anlass zu guten Nachrichten. „Arbeit macht immer mehr Menschen krank“ oder „Erschöpft, ausgebrannt und arbeitsmüde“ lauteten die Titelzeilen großer Tageszeitungen. Viele Menschen klagen über Stress und Erschöpfung am Arbeitsplatz, „Burnout“ heißt das Syndrom unserer Zeit. Auch die Zahl der Frühverrentungen aufgrund psychischer Störungen steigt kontinuierlich, gerade hat sie in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht: Mittlerweile werden 41…

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einen neuen Höchststand erreicht: Mittlerweile werden 41 Prozent aller Frühverrentungsanträge mit Depressionen oder Angstzuständen begründet.

Und ja, unsere Arbeitswelt hat einen großen Anteil daran. Denn seit Beginn der 1990er Jahre muss unsere Psyche einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess verkraften, der sich besonders im Arbeitsmarkt niederschlägt: Durch Globalisierung und Deregulierung können uns Staat und Arbeitswelt immer weniger Sicherheit und Berechenbarkeit bieten, stattdessen sind wir vermeintlich selbst verantwortlich für das Gelingen unserer privaten und beruflichen Laufbahn.

„Es hat sich ein tiefgreifender Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden sozialen Systemen vollzogen“, erklärt der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp. „In der Arbeitswelt wird der Umbruch am deutlichsten.“ Zumal uns die heutige Arbeitswelt mit ihrem hohen Tempo, ihrer wachsenden Arbeitsdichte und ausufernden Flexibilität keine Bremse mehr bietet – wir können ackern, bis wir umfallen. Kein Wunder, dass das renommierte britische Wissenschaftsmagazin The Lancet titelte: “Business is bad for your health”.

Eine zu enge Burnoutdebatte

Und doch steckt darin nur die halbe Wahrheit. Selten verursacht nämlich die Arbeit allein ein Burnoutsyndrom oder gar eine psychische Erkrankung, vielmehr ist Gesundheit ein Prozess, der von vielen Faktoren abhängt: nicht nur von der Arbeitslast, der Entlohnung und Anerkennung im Job, sondern auch von der Lebensgeschichte, aktuellen Lebenssituation und sozialen Einbindung eines Menschen.

Deshalb plädiert Hans-Peter Unger, Koautor des Bestsellers Bevor der Job krank macht (Kösel 2006) und Chefarzt des Zentrums für Seelische Gesundheit der Asklepios-Klinik Harburg, für einen differenzierten Blick auf die große Erschöpfung. „Mir ist die Burnoutdebatte zu sehr darauf eingeengt, dass die Arbeitsbedingungen schuld sind“, sagt Unger. „Das ist Schnee von gestern. Arbeit macht nicht unbedingt krank, sie ist ein wichtiger Faktor unseres Lebens. Auch Erschöpfung ist ein integrativer Teil des Lebens. Wichtig ist vielmehr, die Balance zu halten. Denn Selbstfürsorge ist nicht mehr ritualisiert vorhanden in einer Welt, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben immer mehr verwischen.“

Macht Arbeit also doch nicht krank? Möglicherweise hat die – durchaus berechtigte – Diskussion um Burnouterkrankungen den Blick auf einen wichtigen Aspekt verstellt: nämlich auf die gesundheitsfördernde Wirkung von Arbeit. Denn gute Arbeit bietet neben einer angemessenen Entlohnung auch viele positive Erfahrungen wie Struktur, Anerkennung, Effizienzerleben und sozialen Austausch – und kann damit eine wichtige Ressource darstellen.

Gute Arbeit?

„Berufliche Tätigkeit ist ein ganz zentraler Bestandteil unserer Lebenswelt und trägt entscheidend zur psychischen Gesundheit bei“, findet auch Steffi Riedel-Heller, Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig. „Dieser Aspekt ist in den letzten Jahren unter den Tisch gefallen. Doch eine Gesellschaft tut gut daran, dass ihre Mitglieder durch berufliche Tätigkeit einen als sinnvoll erlebten Beitrag leisten können. Schließlich ist Arbeit ein Grundrecht aller Menschen. Deshalb sollten wir den Blick auch verstärkt darauf richten, welche Ressourcen im Arbeitskontext vorhanden sind.“

Was genau gute Arbeit ist, können Experten pauschal schwer sagen. Denn es hängt von der individuellen Passung zwischen Individuum und Tätigkeit ab, ob die Arbeit der Gesundheit zuträglich ist. Schließlich sind die Bewältigungskompetenzen eines Menschen abhängig von seiner biologischen Disposition und seiner seelischen und körperlichen Konstitution. So würde sich eine ruheliebende Bibliothekarin im Callcenter mit vielen Telefonkontakten vermutlich nicht besonders wohlfühlen, genau wie ein leidenschaftlicher Notarzt wohl keinen Schreibtischjob in der Pharmaforschung haben wollen würde. „Arbeitsanforderungen, die eine Person erschöpfen, mögen für andere eine positive stimulierende Herausforderung darstellen“, sagt Steffi Riedel-Heller, die an ihrem Institut den Zusammenhang zwischen mentaler Gesundheit und der Erwerbsbiografie erforscht.

Trotzdem lassen sich, so Riedel-Heller, sechs Bereiche benennen, an denen sich festmacht, ob eine Arbeit der Gesundheit eher zu- oder abträglich ist: die Arbeitsbelastung, der Handlungsspielraum, die Anerkennung, das Gemeinschaftsgefühl, die Gerechtigkeit und die Werte. „Wird die Arbeitslast als bewältigbar eingeschätzt und hat der Einzelne Wahlmöglichkeiten und Kontrolle, ein unterstützendes Team, Anerkennung und Belohnung und erlebt dabei Fairness, Respekt und soziale Gerechtigkeit und seine Arbeit als sinnvoll und wertegeleitet, kann daraus Engagement entstehen, das die psychische Gesundheit fördert“, sagt die Forscherin.

Arbeitsplatz als Ressource

In anderen Worten: Gute Arbeit kann einen Menschen stabilisieren und psychische Belastungen in anderen Lebensbereichen auffangen helfen. Noch besser: Sie wirkt über die Rente hinaus. Aktuelle Forschungsarbeiten aus Riedel-Hellers Institut legen nahe, dass berufliche Tätigkeiten, die einen komplexen Umgang mit Daten und Menschen sowie eine eigenständige Planung der Arbeit fordern, auch im Alter geistig fit halten und das Demenzrisiko senken.

„Aktuell gibt es in Nordeuropa Hinweise, dass die Neuerkrankungsrate für Demenz sinkt“, erklärt die Psychiaterin. „Wir glauben, dass dies nicht nur mit kardiovaskulären Entwicklungen zu tun hat – es wird nicht mehr so viel geraucht oder getrunken –, sondern auch damit, dass unsere Arbeitswelt mental fordernder geworden ist. Womöglich haben sogar negativ konnotierte Dinge wie die stärkere Benutzung neuer Medien positive Einflüsse, weil sie das Gehirn herausfordern und dadurch geistig fit halten.“

Tatsächlich scheinen viele Menschen ihre Arbeitsplätze als Ressource zu betrachten. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov konnte jüngst in einer repräsentativen Umfrage unter tausend deutschen Arbeitnehmern erheben, dass 75 Prozent der Teilnehmer Freude an der Arbeit hatten. Besonders wichtig für ihre berufliche Zufriedenheit waren dabei die Möglichkeit zu neuen Herausforderungen, ein abwechslungsreicher Arbeitsalltag und gute Gehaltsaussichten. Für 14 Prozent war es außerdem wichtig, „etwas Sinnvolles“ für die Gesellschaft zu tun.

Arbeitslosigkeit macht unzufrieden

Nur sieben Prozent waren dezidiert unzufrieden mit ihren Jobs. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam jüngst eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), die befand, dass rund die Hälfte der Deutschen mit ihrem Leben „in hohem Maße zufrieden“ ist. Eine entscheidende Rolle für das positive Ergebnis spielt, so die Forscher, neben der individuellen Gesundheit auch die niedrige Arbeitslosigkeit. Denn Erwerbstätige geben im Durchschnitt eine um zwanzig Prozent höhere Lebenszufriedenheit an als arbeitslos gemeldete Personen.

Nicht Arbeit, sondern vor allem Arbeitslosigkeit reduziert die Lebenszufriedenheit eines Menschen nämlich dauerhaft. Der DAK-Gesundheitsreport 2014 belegte: Unter chronischem Stress leiden vor allem Alleinerziehende und Arbeitslose. „Nicht der vielbeschäftigte Manager ist es, der am stärksten von Stress belastet ist, sondern die Studentin, die Alleinerziehende und der Arbeitslose“, erklärt Thomas Bodmer, Vorstandsmitglied der DAK. Für die Studie befragten die Forscher DAK-Mitglieder zwischen 25 und 40 Jahren nach ihrer Stressbelastung und fanden heraus: Je geringer der soziale Status, desto höher der Stress. Beamte im mittleren Dienst waren demnach deutlich gestresster als Beamte im gehobenen Dienst, am stärksten gestresst waren alleinerziehende Mütter und Studierende. Viel anstrengender als ein „stressiger Job“ mit viel Verantwortung sind also Geldsorgen, unklare Zukunftsaussichten oder die mangelnde Wertschätzung, die mit Arbeitslosigkeit einhergeht.

Denn bei Erwerbslosen speist sich das Stressempfinden nicht nur aus den finanziellen Einbußen, sondern auch aus der Abwesenheit einer sinnvollen Aufgabe: Arbeitslose mit den gleichen monatlichen Einkünften, dem gleichen Gesundheitsstatus und dem gleichen Bildungsstand wie Erwerbstätige sind Studien zufolge deutlich unglücklicher. Ohnehin gibt es zwischen psychischen Erkrankungen und Arbeitslosigkeit eine gut belegte Wechselwirkung. Wer arbeitslos ist, hat statistisch ein höheres Risiko, ein psychisches Leiden zu entwickeln, wer bereits psychisch erkrankt ist, dessen Probleme verschärfen sich oft in der Arbeitslosigkeit. Es verwundert also kaum, dass viele Erwerbslose mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben: Jeder dritte Hartz-IV-Bezieher hat eine diagnostizierte psychische Störung, so eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesarbeitsagentur.

Auch psychisch Kranken tut Arbeit gut

Wenn nicht nur ein Zuviel an Arbeit, sondern vor allem ein Zuwenig an Arbeit krank machen kann – warum dann nicht chronisch psychisch kranke Menschen durch berufliche Tätigkeit stabilisieren? Was sich naiv anhört, stellt tatsächlich einen neuen Ansatz in der psychiatrischen Versorgungslandschaft dar. Menschen mit schweren oder chronischen psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Depression oder bipolaren Störungen profitieren von beruflicher Tätigkeit, weil sie wieder Struktur, Effizienz und Teilhabe erleben. Ein Konzept aus den USA ist hier wegweisend: supported employment, die gezielte Platzierung von chronisch psychisch Erkrankten auf dem regulären Arbeitsmarkt.

Dass dies auch in Europa gut funktionieren kann, zeigt das Berner Job-Coach-Projekt, ein von den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern initiiertes Projekt, um arbeitswillige chronisch psychisch kranke – also behinderte – Menschen wieder in der freien Wirtschaft unterzubringen. Anstatt die Betroffenen wie bisher erst langwierig in beruflichen Förder- oder Rehaeinrichtungen zu trainieren, arbeiten die Teilnehmer gleich mindestens zwanzig Stunden die Woche in einem Unternehmen und erhalten dafür den gesetzlichen Mindestlohn.

Dabei werden sie zeitlich unbefristet durch einen Job-Coach der Universität begleitet, der zuvor mit dem Unternehmen und dem Betroffenen einen behindertenspezifischen Plan erarbeitet und bei Problemen immer sofort ansprechbar ist. Ziel ist, dem Erkrankten einen Arbeitsplatz auf Dauer zu sichern. Das Projekt läuft sehr erfolgreich: In einer nun vom renommierten American Journal of Psychiatry zur Publikation angenommenen Studie haben die Berner Forscher weltweit erstmals den Verlauf über fünf Jahre untersucht. Dabei konnten sie zeigen, dass in diesem Zeitraum 65 Prozent der von einem Job-Coach begleiteten Teilnehmer eine Anstellung in der Wirtschaft fanden, doppelt so viele wie bei traditionellen Wiedereingliederungsmaßnahmen.

Dabei erlebten die Teilnehmer nicht nur Entlohnung, Integration, Wertschätzung und Effizienz – auch waren der Verdienst besser, die Anstellungsverhältnisse länger und nachhaltiger und die Inanspruchnahme stationärer und teilstationärer psychiatrischer Dienste geringer. Die Leipziger Psychiatrieprofessorin Steffi Riedel-Heller wünscht sich nun einen flächendeckenden Ansatz solcher Projekte. „Natürlich ist die Wirtschaft kein Wohlfahrtsunternehmen, aber ich denke, wenn entsprechende Anreize gesetzt und Rahmenbedingungen geschaffen werden, können auch schwer psychisch kranke Menschen mit entsprechender Begleitung schneller auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen“, sagt sie. Da ist allerdings noch einiges zu tun: Die Bundesagentur für Arbeit fördert derzeit nur 4000 Fälle unterstützter Beschäftigung.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2014: Das reicht mir!