Herr Lahmann, ist es schwierig, krankmachende Systeme im Beruf zu erkennen?
Unter Stress entwickeln Menschen einen Tunnelblick und geraten in einen Überlebensmodus, in dem sie sich selbst nicht mehr von außen sehen oder wahrnehmen können, wie es ihnen geht. Alarmsignale, auf die man achten sollte, sind zum Beispiel schlechter Schlaf, veränderte Sexualität, Schmerzen, Suchtverhalten oder sozialer Rückzug.
Warum gewöhnen sich Menschen daran?
Menschen sind sehr anpassungsfähig; Die laute Straße vor der Haustür hören sie irgendwann auch nicht mehr. An dysfunktionale und gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen gewöhnen sie sich zum Beispiel, wenn andere auch so arbeiten und es vielleicht sogar in der Arbeitskultur sanktioniert wird, sich dem entgegenzustellen. Manchmal ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit stärker als das Bedürfnis nach Selbstschutz. Oder Menschen haben das Gefühl, die ganze Kultur müsste sich ändern, und weil sie diese nicht verändern können, versuchen sie erst gar nicht, etwas für sich zu ändern.
Wie kann man sich davon lösen?
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich treffe die Entscheidung selbst oder mein Körper trifft sie. Wenn auf der Autobahn das Tanklämpchen blinkt, muss man abfahren, selbst wenn man dabei Zeit verliert. Wer das nicht tut, bleibt irgendwann liegen. So ist es beim Menschen auch. Allerdings fällt es manchen leichter, einen Bandscheibenvorfall zu akzeptieren, als sich vorher eine Überlastung einzugestehen.
Claas Lahmann ist ärztlicher Direktor der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Er schrieb Wie Arbeit glücklich macht. Und wann man darüber nachdenken sollte, den Job zu wechseln, Rowohlt 2024
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