Bessere Beziehung dank Affäre?

Für die Paartherapeutin Esther Perel ist Untreue nicht das Ende einer Beziehung. Wie Paare am besten damit umgehen – und die Motive erforschen.

Die Illustration zeigt eine Frau neben einem Mann, die an der Stelle des Herzens ein Loch in der Brust hat, eine Hand reicht ihr das fehlende Herz
Nicht nur den Schmerz des Betrogenen betrachten, sondern auch die Motive des Betrügenden. © Frauke Ditting

Frau Perel, Sie kritisieren, dass der heutige ­Diskurs über Affären in weiten Teilen polarisierend, wertend und kurzsichtig ist. Was meinen Sie damit?

Untreue existiert, seitdem die Ehe erfunden wurde, unabhängig vom Ehemodell. Die Bedeutung, die Affären beigemessen wird, und ihre Auswirkungen haben sich jedoch im Laufe der Zeit verändert. Je romantischer das Modell der Ehe wurde und je mehr die Romantik zu einer Art religiösem Vehikel in eine höhere Sphäre der Sinngebung, der Ganzheit, der Ekstase, der…

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einer Art religiösem Vehikel in eine höhere Sphäre der Sinngebung, der Ganzheit, der Ekstase, der Transzendenz wurde, desto mehr wurde Untreue zum ultimativen Beziehungsverrat. Die Diskussion ist typischerweise verurteilend und simplifizierend. Die vielschichtige, komplexe und systemische Natur der Untreue wird meist nicht thematisiert.

Sie plädieren für eine Perspektive, die mitfühlender und nutzbringender ist. Wie sieht diese konkret aus?

In meinem Buch Die Macht der Affäre versuche ich die Vielfalt an Erfahrungen einzufangen, die mit Affären einhergehen. Dazu gehört, nicht nur auf die Folgen der Untreue, den Schmerz und das Leid des Betrogenen zu schauen, sondern auch auf die Motive aufseiten des Betrügenden. In der gängigen Wahrnehmung von Affären stehen Lügen, Geheimnisse und Verrat im Vordergrund, gleichzeitig drehen sie sich aber auch um Verlust, Sehnsucht und Selbstentdeckung. Ich wollte eine Perspektive schaffen, die nicht einfach davon ausgeht, dass das Opfer der Affäre immer das Opfer der Ehe ist.

Was meinen Sie damit?

Jemand mag beispielsweise jahrelang von seinem Partner malträtiert oder gar missbraucht worden sein und geht dann eine Affäre ein, durch die er sich vielleicht zum ersten Mal geachtet und gewürdigt fühlt. Oder jemand ist mit einer Person zusammen, die krank ist oder intensiver Pflege bedarf und nicht mehr in der Lage ist, sexuell und auf andere Weise Partner zu sein. Affären finden in einem Kontext statt. Können wir nachvollziehen, dass man manchmal einen Kompromiss macht, der nicht perfekt ist, weil das Leben nicht perfekt ist? Und dass derjenige, der fremdgeht, nicht einfach ein Mistkerl oder eine Schlampe ist, sondern vielleicht eine Person, die versucht, eine Reihe von widersprüchlichen Bedürfnissen und Verantwortlichkeiten in Einklang zu bringen?

Natürlich stellt eine Affäre einen Verrat, einen Vertrauensbruch, einen eigennützigen Akt dar. Aber eine verständnisvolle und letztlich produktivere Sichtweise erkennt an, dass man sich auch um das Wohlergehen des Partners sorgen kann, selbst wenn man ihn belügt. Oder dass Menschen, die Affären haben, trotzdem gute Väter oder Mütter sein können.

Sie legen sehr viel Augenmerk darauf, die Motive und Emotionen des Partners, der fremdgegangen ist, zu verstehen. Mancher mag das Gefühl haben, Sie entschuldigen dieses Verhalten oder sind sogar für Affären.

Diesen Einwand habe ich in der Tat schon gehört. Die komplexe Welt der Grenzüberschreitung zu verstehen bedeutet aber nicht, diese zu rechtfertigen; und eine pauschale Verurteilung zu vermeiden heißt nicht Billigung oder gar Ermutigung. Ich habe nie gesagt, dass Untreue gut ist. Was ich aber meine, ist, dass aus einer Affäre – wie aus anderen großen Lebenskrisen auch – Gutes hervorgehen kann. Wenn Paare verstehen, was zu ihr geführt hat, kann das die Widerstandsfähigkeit der Beziehung stärken.

Lassen Sie uns ausführlicher über die Motive einer Affäre sprechen. Was erzählen die Männer und Frauen in Ihrer Praxis?

Natürlich gibt es viele Gründe, eine Affäre zu haben, aber die Menschen erzählen oft, dass sie sich einsam und ignoriert fühlen. Sie erzählen, dass das letzte bedeutungsvolle Gespräch mit ihrem Partner, ihrer Partnerin Jahre zurückliegt. Sie reden darüber, wie einsam es sich anfühlt, bloß eine Funktion in der Maschinerie des Familienlebens zu übernehmen, reduziert auf die Erfüllung von Pflichten. Sie sprechen davon, dass sich in ihre Ehe Bequemlichkeit und Trägheit eingeschlichen haben, und berichten von einem Verlust von Intimität und erotischem Begehren.

Viele berichten von einer tiefen Sehnsucht nach Intensität und Lebendigkeit, nach Verbundenheit und Sinnlichkeit. Sie sagen, eine Affäre zu haben sei das erste Mal seit Jahren, dass sie etwas für sich tun und sich nicht nur um andere kümmern. Die Mehrheit der Menschen, die eine Affäre haben und in die Therapie kommen, sind keine selbstsüchtigen Narzissten oder notorischen Fremdgänger.

Sie behaupten in Ihrem Buch, dass auch glückliche Menschen fremdgehen. Aber warum sollte man eine Affäre haben, wenn man glücklich ist in seiner Beziehung?

Wir wissen, dass die Menschen früher fremdgingen, weil sie ihre Ehe nicht verlassen konnten. Eine Affäre zu haben war eine Möglichkeit, Liebe und Sex zu finden. Heute können sich Eheleute trennen und betrügen sich trotzdem noch. Bleibt die Frage: Warum hat die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen, Affären nicht obsolet gemacht? Nun, offensichtlich weil es viele Dinge in der Ehe gibt, die die Ehepartner sehr schätzen. Affären passieren auch in vielen Beziehungen, in denen Menschen zufrieden sind. Wer fremdgeht, obwohl er eine glückliche Beziehung hat, sucht nicht nach einem anderen Partner. Er strebt oft danach, mit einem verlorenen Teil seiner selbst wieder Kontakt aufzunehmen oder mit einer anderen Version von sich selbst.

Die Affäre ist in diesem Fall eine Form der Selbstfindung, eine Suche nach einer neuen oder verlorenen Identität?

Genau. Ich habe diese Thematik immer wieder gehört, tausende Male. Teilweise hat es damit zu tun, was eine langjährige Ehe mit uns macht. Sie kann uns dazu verführen, selbstgefällig und bequem zu werden. Eine Affäre kann uns erlauben, mit einem Teil von uns Kontakt aufzunehmen, den wir verloren haben oder den wir noch gar nicht kennen. Manche Menschen sind ihrem Partner 20 Jahre lang treu, und dann eines Tages, vielleicht wenn jemand Nahestehendes stirbt oder sie der Sterblichkeit auf andere Weise nahekommen, wird ihnen bewusst, wie kurz das Leben ist. Die Affäre wirkt oft als Gegenmittel gegen ein Gefühl des Totseins in ihnen selbst. In einer Affäre fühlen sich Menschen lebendig, weil sie Regeln überschreiten.

Lassen Sie uns über den Schmerz des betrogenen Partners sprechen. Heutzutage scheint Untreue mehr wehzutun denn je, schreiben Sie. Warum ist das so?

Affären waren immer schmerzhaft, aber aufgrund der romantischen Vorstellungen, die wir heutzutage von Liebe und Ehe haben, sind sie traumatisch geworden. Wir heiraten nicht mehr mit 18, sondern oft erst viel später, nach vielen Jahren von sexuellem und beziehungsmäßigem Nomadismus. Die Ehe ist nicht arrangiert, sondern aktiv gewählt. Deshalb ist eine Affäre nicht vorgesehen. Und wenn sie doch passiert, zerstört das den großen Traum der Liebe.

Dieses Ausmaß an Verwüstung ist eine ziemlich neue Erscheinung. Sie steht in proportionalem Verhältnis zu den übersteigerten Erwartungen und der Idealisierung, die wir in Bezug auf romantische Beziehungen hegen. Menschen, die betrogen worden sind, sagen, dass sie nicht wissen, ob sie jemals wieder vertrauen können, dass sie sich verantwortlich für das Fremdgehen des Partners fühlen und dass ihre gesamte Ehe ein Betrug war.

Welche Rolle spielen neue Technologien?

Die meisten Betrogenen entdecken heute über das Telefon des Partners, dass dieser eine Affäre hat. Man findet meist nicht nur eine einzelne beunruhigende Nachricht, sondern eine ganze Geschichte. Man hat die ganze Affäre buchstäblich vor Augen. Das kann unerträglich sein. Es ist eine Sache, zu erfahren, dass der Partner oder die Partnerin in jemand anderen verliebt ist, aber etwas ganz anderes, zu lesen: „Ich liebe dich, du bist die Liebe meines Lebens.“

Sie beschreiben, dass Ihre Arbeit mit Klienten typischerweise drei Phasen durchläuft.

Wobei diese nicht starr sind, sondern ein Stück weit fließend. Phase eins umfasst die Zeit direkt nach der Entdeckung der Affäre. Die Leute sind oft in einem Schockzustand, alles ist aufgewühlt. Sie haben eine Identitätskrise, erleben einen Strudel widersprüchlicher Gefühle. In dieser Phase geht es darum, zu klären, was passiert ist. Wer fremdgegangen ist, muss Fragen beantworten, manchmal immer und immer wieder: „Wo habt ihr euch getroffen?“ „Hast du nach einer solchen Liebschaft Ausschau gehalten, oder ist es einfach passiert?“ „Wolltest du die Affäre beenden?“

Wie lange dauert diese Phase?

Es können drei Wochen, aber auch drei Monate sein. Das ist abhängig vom Ausmaß der Verletzungen, die entstanden sind, und auch davon, zu welchem Zeitpunkt ein Paar zu mir kommt. In der zweiten Phase rückt der Fokus auf das Warum: die Motive für das Fremdgehen und den Bedeutungsgehalt davon.

Wie offen sind die betrogenen Partner, sich auf diese Erforschung von Motiven und Bedeutungen einzulassen?

Viele sind ziemlich offen. Und ehrlich gesagt: Bei denjenigen, die es nicht sind, ist die Prognose für die Ehe nicht so gut. Es ist problematisch, wenn jemand nur sagt: „Ich bin das Opfer, und du bist der Bösewicht. Du schuldest mir was, weil du mir das angetan hast. Ich werde dir niemals vergeben.“ Wer in dieser Opferhaltung verharrt und dies immer und immer wieder zur Sprache bringt, ist möglicherweise derjenige, der am Ende die Beziehung zerstört.

Kritiker Ihres Buches haben angemerkt, dass Sie viel vom treuen Partner zu erwarten scheinen: sich damit beschäftigen, inwieweit der Seitensprung für den Partner bedeutungsvoll und befreiend war, Rachegefühle unter Kontrolle halten, sich von der Annahme verabschieden, dass man moralisch überlegen ist, nur weil man keine Affäre hatte.

Ich würde sagen, dass mein Ansatz von beiden Partnern viel verlangt. Aber ich glaube an die Widerstandsfähigkeit von Paaren und ihre Fähigkeit, wieder auf die Beine zu kommen, ob zusammen oder getrennt. Ich bin überzeugt, dass dies ein produktiverer Ansatz ist, der dazu beitragen kann, die Beziehung zu heilen und sie manchmal sogar zu transformieren. Ich habe viele Fälle gesehen, in denen die Person, die betrogen wurde, auch die Person war, die den Partner jahrelang sexuell zurückgewiesen oder ihm keine Beachtung geschenkt hat, weil es vielleicht wichtiger war, jeden Tag zwölf Stunden am Arbeitsplatz zu bleiben. Partner, die auf ihre moralische Überlegenheit bestehen oder darauf, dass sie nur Opfer sind, versuchen oft davon abzulenken, dass auch sie für den Zustand der Beziehung mitverantwortlich sind.

Was passiert in Phase drei?

In der dritten Phase geht es um die Zukunft, die Vision. Die zentrale Frage ist: Werden wir uns trennen, oder wollen wir zusammenbleiben? Und wenn man sich füreinander entscheidet: Welche Art von Beziehung wollen wir jetzt? Dies kann bedeuten, jeden Aspekt des gemeinsamen Lebens zu überdenken und neu zu verhandeln, also etwa die Machtverteilung, die Art und Weise, wie man sich umeinander kümmert und zusammen agiert, aber auch die sexuellen Grenzen.

Paare scheinen aus diesem Prozess sehr unterschiedlich hervorzugehen. In Ihrem Buch beschreiben Sie das Miteinander von Paaren, die ihre Beziehung fortsetzen, und skizzieren drei grundlegende Kategorien.

Die erste Gruppe nenne ich Sufferer, die Leidenden. Für sie bleibt die Affäre das Epizentrum der Beziehung, oft über viele Jahre hinweg. Alles kommt immer wieder darauf zurück. Die Survivor, also die Überlebenden, können die Affäre hinter sich lassen, aber sie ändern nicht wirklich etwas. Ihre Ehe kehrt im Großen und Ganzen zum alten Modus zurück. Und dann gibt es die Explorer, die Forscher, die fragen: Wie können wir die Krise der Untreue nutzen, um unser Leben auf sinnvolle Weise zu verändern?

Und das sind die Menschen, die Sie am meisten interessieren?

Ja, denn um dies zu tun, braucht man enorm viel Mut und Kreativität, von diesen Menschen kann man am meisten lernen. Mich fasziniert es, wenn ich sehe, wie diese Paare beschließen, neu ineinander zu investieren, und was sie aus ihrer Beziehung machen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Ich betreute ein Paar in einer schrecklichen Krise: Er war fremdgegangen und hatte seine Partnerin daraufhin auch noch mit einer Geschlechtskrankheit infiziert. Inmitten ihrer ganzen Wut und ihres ganzen Schmerzes war diese Frau in der Lage, so viele schöne Dinge über ihn und über das zu sagen, was sie zusammen aufgebaut hatten. Diese Fähigkeit, den Ehemann nicht allein mit der Affäre gleichzusetzen, sondern ihn über diesen Moment hinaus und jenseits der Krise zu sehen, war ein sehr wichtiger Punkt. Die Fähigkeit zu sagen: „Er hat mich schrecklich verletzt und er ist fantastisch mit meiner Mutter umgegangen und er war jeden Tag in der Klinik, als ich krank war.“

Und für Paare wie dieses kann eine Affäre als Katalysator für Veränderungen wirken?

Ja, die Affäre kann zur generativen Kraft werden, um eine andere – und letztlich bessere – Ehe zu erschaffen. Viele dieser Paare sagen: „Wir haben zwei Ehen, eine vor der Affäre und eine nach der Affäre. Und auch wenn wir es nicht gerne zugeben, diese Sache hat uns gezwungen, ganz anders miteinander umzugehen. Beispielsweise: Er hört endlich zu, sie erlaubt es sich endlich, nicht perfekt zu sein.“ Und dies sind die Momente, in denen ich merke, wie sehr ich, wie sehr wir alle von diesen Paaren lernen können.

Esther Perel ist ­Psychologin und ­Paartherapeutin. Sie gilt als eine der international originellsten und ­vielleicht auch kontroversesten Stimmen zu ­Liebe und Partnerschaft. Sie wuchs in ­Belgien auf und lebt seit ihrer ­Studienzeit in den USA. Ihre TED Talks haben 20 Millionen Menschen angeklickt

Zum Weiterlesen:

In ihrem aktuellen Buch Die Macht der Affäre. ­Warum wir betrügen und was wir daraus lernen können (HarperCollins, 320 S., € 18,–, Erscheinungstermin: 4. Januar) verbindet Esther Perel Erkenntnisse aus der Paarforschung mit ihren eigenen ­Einsichten aus der Arbeit mit hunderten Paaren, die in ihre New Yorker Praxis kamen, weil einer der Partner eine Affäre hatte

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille