Verliebt in Dauerschleife

Kein Zustand ist so euphorisierend wie das Verliebtsein. Doch Menschen mit einer „Emophilie“ sind tragischerweise süchtig nach diesem Gefühl.

Ein Paar steht verliebt lächelnd beieinander mit geschlossenen Augen und die Nasenspitzen berühren sich
© Liliya Krueger/Getty Images

Wenn sie verliebt war, dann hielt sie nichts mehr zurück, erinnert sich Julia Kathan. Der neue Geliebte war ein Alkoholiker? Dann würde sie ihn retten und vom Alkohol abbringen. Der Angebetete lebte im Ausland? Dann würde sie die Sprache lernen und auch dorthin ziehen. „Ich dachte, ich mache das Unmögliche möglich. Ich ziehe der Liebe eine Bahn“, erinnert sich Julia Kathan. Jedesmal war sie aufs Neue „schockverliebt“. Ihr reichte ein Kompliment, ein tiefer Blick in die Augen und sie war sich sicher, diese…

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in die Augen und sie war sich sicher, diese neue Bekanntschaft würde der Mann ihres Lebens werden. „Es war immer instant love, die ganz große Liebe, und zwar sofort.“

Verliebtsein bedeutet Ausnahmezustand. Verliebte sind hellwach, selbst wenn sie kaum geschlafen haben, sie schweben gleichsam über den Boden, im Bauch tanzen Schmetterlinge, das Herz klopft und die Gedanken kreisen immerzu um das Objekt der Begierde. Wer erinnert sich nicht daran, wie sie oder er das allererste Mal verliebt war? Es ist ein Hochgefühl, kaum etwas anderes kann eine solche Euphorie auslösen, wie sich zu verlieben. Die Popmusik könnte einpacken, wenn es dieses immer wieder aufs Neue besungene rauschartige Glücksgefühl nicht gäbe. Völlig gesunde Menschen spielen plötzlich verrückt.

Doch während manche Menschen einige Zeit brauchen, bevor sie ihr Herz öffnen und sich ihren Gefühlen hingeben, sind andere sofort Feuer und Flamme. Diesen Hang, sich sehr schnell, sehr heftig und häufig zu verlieben, bezeichnet Daniel Jones, Psychologe an der University of Nevada, als „Emophilie“ (emophilia) – ein Kunstwort, zusammengesetzt aus einer Verkürzung von emotion (Gemütsbewegung) und dem altgriechischen philia (Neigung). Menschen mit dieser Eigenschaft kennen keine Hemmungen und geraten immer wieder Hals über Kopf in eine neue Liebesromanze.

„Man kennt das von Freunden, die euphorisch berichten, sie hätten den Mann oder die Frau ihres Lebens getroffen. Dabei hatten sie das Gleiche schon drei Wochen zuvor gesagt.“ Emophile Menschen erkennen sich wieder in Sätzen wie: „Ich kann mich auf der Stelle in jemanden verlieben.“ Oder: „Ich bin häufig in mehrere Personen gleichzeitig verliebt.“ Oder: „Ich neige dazu, mich in neue Beziehungen zu stürzen.“ Sie sehen auf Anhieb den Traumpartner vor sich, glauben daran, dass das Schicksal sie zusammengeführt hat, und malen sich schon nach dem ersten Date eine fantastische gemeinsame Zukunft aus.

Mit dem Gaspedal auf Wolke sieben

„Nach kurzer Zeit denke ich, das ist die große Liebe, und kann mich da wunderbar in Zukunftsfantasien reinsteigern: Kind, Haus, Hund“, erzählt Thomas Heuer (Name geändert). Wenn der 36-jährige IT-Experte sich verliebt, dann werde es „chaotisch“, wie er meint. „Weil ich dann alles um mich herum vergesse und immer nur die Frau im Kopf habe, eigentlich immer nur mit ihr zusammen sein möchte. Ich bin auf Wolke sieben, vergesse dabei meine sonstigen Bedürfnisse, vernachlässige meine Freunde und kann mich bei der Arbeit kaum konzentrieren.“

Das Tempo, mit dem er sich in eine neue Beziehung werfe, könne die betreffende Frau schon mal verschrecken. Heuer erzählt von einer Bekanntschaft, bei der sofort die Chemie gestimmt habe: „Da habe ich mächtig aufs Gaspedal gedrückt. Sie fühlte sich davon aber bedrängt und ist immer distanzierter geworden. Dann war Schluss.“

Emophiles Verhalten, wie Daniel Jones es beschreibt, hat viel Ähnlichkeit mit einem ängstlich-unsicheren Bindungsstil. In Anlehnung an die Bindungstheorie des britischen Psychoanalytikers John Bowlby wird in der Psychologie unterschieden zwischen unsicher und sicher gebundenen Menschen. Letztere kommen gut mit der Nähe zu einer Partnerin oder einem Partner zurecht. Ängstlich-unsicher gebundenen Menschen dagegen fällt es schwer, allein zu sein. Sie neigen deswegen dazu, sich schnell zu verlieben und sich dann an die andere, den anderen zu klammern.

„Ängstlich-unsicher gebundene Menschen sind wachsam, auf der Lauer, da sie ständig befürchten, verlassen zu werden“, sagt der Psychologe Guy Bodenmann von der Universität Zürich. Obwohl sie eher emotional überschwänglich sind, gehen sie häufig Beziehungen zu Menschen ein, die nur spärlich Gegenliebe zeigen. „Sie suchen sich Partnerinnen oder Partner, die ihnen emotionale Sicherheit geben und die Beziehung nicht infrage stellen. Oft fühlen sie sich am sichersten mit einem vermeidend gebundenen Partner, da dieser weniger Interesse an Beziehungen hat und weniger dazu neigt, fremdzugehen.“

Süchtig nach dem Liebesrausch

Was also liegt dem zugrunde, wenn jemand sich immer wieder sehr heftig verliebt – Emophilie oder Bindungsangst? Ganz trennscharf lassen sich die beiden Eigenschaften nicht unterscheiden. Sie treten häufig zusammen auf. „Es gibt eine starke Korrelation“, sagt Daniel Jones. Doch während der ängstliche Bindungsstil auf Unsicherheit und dem Bedürfnis basiert, nicht allein zu sein, werden emophile Menschen angetrieben von der Suche nach dem aufregenden Hochgefühl.

In der Motivationspsychologie unterscheidet man zwischen Vermeidungs- und Annäherungszielen. „Der eine braucht ganz unbedingt, der andere will ganz unbedingt“, erklärt Jones. „Ein Mensch mit Emophilie sagt vielleicht: ‚Du bist die ganze Welt.‘ Jemand mit einem ängstlichen Bindungsstil sagt dagegen: ‚Ohne dich kann ich nicht leben.‘ Oder anders formuliert: Während bei dem einen die Bremse nicht funktioniert, steht der andere mit dem Bleifuß auf dem Gaspedal.“

Die große Begeisterungsfähigkeit emophiler Menschen beeinflusst ihr Verhalten. Daniel Jones hat bestimmte auffällige Muster gefunden. Beispielsweise haben Emophile überdurchschnittlich häufig ungeschützten Sex. Sie scheinen nicht nur früher zu heiraten als andere, sondern auch häufiger im Laufe des Lebens.

Doch vor allem fällt es ihnen schwer, treu zu bleiben. Denn wenn sie schließlich eine feste Beziehung eingehen, vergucken sie sich weiterhin in andere Menschen. Ihre Lust am Verlieben hört nicht auf. Sie entwickeln immer wieder romantische Gefühle außerhalb der Partnerschaft, auch wenn es dabei nicht immer zum Sex kommt. „Sie sind gewissermaßen ‚süchtig‘ nach dem Rausch und neigen deswegen dazu, in zwei Menschen gleichzeitig verliebt zu sein“, sagt Jones.

Verlockungen im Kaufhaus

Solche Versuchungen ließen sich mit der bunten Warenwelt in einem Kaufhaus vergleichen, so Guy Bodenmann. „Wenn man viele verlockende Dinge sieht, die man gerne hätte, sie sich jedoch nicht leisten kann, werden die meisten dies mit Bedauern so hinnehmen. Ein Kleptomane dagegen wird zugreifen. Wie bei der Liebe geht es um Einstellungen und Impulskontrolle.“

Wer den Verstand ausschaltet, verliert auch sein Urteilsvermögen für das Gegenüber. Denn wenn man mit Vollgas in eine Liebesromanze steuere, übersehe man leicht die Warnschilder, die am Wegesrand stehen, meint Daniel Jones. „Sätze wie ‚Sorry, ich bin verheiratet‘ oder ‚Ich will keine feste Beziehung‘ überhört man einfach“, bestätigt Julia Kathan aus eigener leidvoller Erfahrung.

„Ich war ein Liebesjunkie. Es musste intensiv sein. Nur dann war es Liebe. Nur dann fühlte ich mich lebendig.“ Doch je höher diese Hochs waren, desto tiefer anschließend der Fall. Kathan geriet immer wieder an „den Falschen“. Die inzwischen 53-Jährige glaubt, dass sie sich vor allem in solche Männer verliebte, die ihren hohen Erwartungen an die ganz große Liebe gar nicht entsprechen konnten.

Die dunkle Triade

Tatsächlich scheinen emophile Menschen stärker als andere von Persönlichkeitseigenschaften aus der sogenannten dunklen Triade angezogen zu werden. Dunkel sind diese Merkmale deshalb, weil sie mit geringer Empathie einhergehen und zu einem unsozialen Verhalten führen können, auch wenn sie unterhalb der Schwelle einer Störung liegen. Zur dunklen Triade gehört erstens der Machiavellismus, also die Tendenz, andere Menschen zu manipulieren und sich jedes Mittels zu bedienen, um die eigenen Ziele zu erreichen.

Menschen mit einer leichten Psychopathie dagegen neigen zu Impulsivität, Unberechenbarkeit und Regelbruch. Die dritte Eigenschaft der Triade ist Narzissmus, der die Neigung beschreibt, sich selbst zu überhöhen und von anderen bewundern zu lassen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Narzissten mit ihrem (oft nur vermeintlich) großen Selbstvertrauen auf viele Menschen besonders attraktiv wirken. Gerade im ersten Moment des Kennenlernens ist die übersteigerte Selbstliebe dahinter noch nicht zu erkennen.

Um zu prüfen, ob emophile Menschen tatsächlich eine Schwäche für dunkle Charaktereigenschaften haben, ließen Daniel Jones und seine Kollegin Jacqueline Lechuga in einer aktuellen Studie die männlichen Teilnehmer für ein fiktives Datingportal Profile von sich erstellen. Die weiblichen Freiwilligen sollten dann wählen, welche Profile ihnen am attraktivsten erschienen.

Es stellte sich heraus: Je ausgeprägter die Emophilie, desto mehr waren diese Frauen an potenziellen Partnern mit „dunklen Eigenschaften“ interessiert. „Ich glaube, der alte Spruch: ‚Die Bad Boys kriegen die besten Mädchen‘, müsste eigentlich heißen: ‚Die Bad Boys kriegen die emophilen Mädchen‘“, kommentiert Jones das Ergebnis.

Die Spirale durchbrechen

Sich oft und heftig zu verlieben sei an sich kein Problem. Das Problem seien die Folgen, die mit diesem Verhalten verbunden sind, betont Jones „Man ist verletzlich, denn man öffnet sein Herz und wird damit anfällig für Manipulation.“ Diese Schwäche nutzen beispielsweise Heiratsschwindler und Onlineliebesbetrüger aus, die ihren Opfern erst den Kopf verdrehen, um ihnen dann das Geld aus der Tasche zu ziehen.

„Kennen Sie den Film Der Tinder-Schwindler?“, fragt Jones. Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte des Hochstaplers Shimon Hayut, der mindestens zehn verschiedene Frauen insgesamt um Millionen brachte, indem er sich bei ihnen Geld lieh und es nie zurückzahlte. Alle diese Frauen hatten wahrscheinlich einen Hang zur Emophilie, meint Jones.

Ist Emophilie also eher Frauensache? Im Gegenteil. Jones geht davon aus, dass Männer sogar häufiger zur Emophilie neigen als Frauen – direkt untersucht hat er den Zusammenhang nicht. Doch ganz allgemein scheinen sich Männer schneller als Frauen zu verlieben.

So stellte beispielsweise die Psychologin Marissa Harrison von der Pennsylvania State University bei einer Umfrage unter Studierenden fest, dass zwar sowohl Frauen als auch Männer glauben, dass Frauen in Liebesfragen schneller den Kopf verlieren. Tatsächlich waren es aber die männlichen Studienteilnehmer, die sich schneller verliebten und schneller bereit waren, ihre Liebe zu gestehen. Frauen seien dagegen im Allgemeinen vorsichtiger.

Hoffnungslose Romantiker

Thomas Heuer erzählt von einer Frau, die er beim Online­dating kennengelernt hat. „Es war verdammt perfekt, ich hatte mich sofort verliebt. Nach drei Treffen waren wir ein Paar.“ Diesmal hatte er eine Frau getroffen, die sich ähnlich schnell wie er verlieben konnte. Aber dann kamen Zeichen, die ihm hätten zu denken geben sollen. Warum wollte sie auch nach Monaten als Paar nicht mit ihm zusammen auf eine Geburtstagsfeier von Freunden gehen? Warum log sie ihn an und verheimlichte ihm, dass sie seit zehn Jahren ohne ernste Beziehung lebte?

„Ich sehe solche Warnsignale, aber ich ignoriere sie gekonnt. Jetzt weiß ich: Diese Frau hangelte sich von einer Affäre zur nächsten. Und ich war nur eine davon.“ Heuer hat sich fest vorgenommen, es bei der nächsten Frau ruhiger angehen zu lassen. Er weiß nicht, ob ihm das gelingen wird: „Ich bin einfach ein hoffnungsloser Romantiker.“

Wer sich bedingungslos und ohne Bedenken in die ganz großen Gefühle wirft, läuft Gefahr, sich dabei selbst zu verlieren. Das kennt auch Julia Kathan: „Ich hatte die starken Gefühle und ich hatte den Salat. Ich lebte eigentlich in einem chronischen Liebeskummer.“ Irgendwann stelle man fest, dass sich alles um die Bedürfnisse des anderen drehe, meint Kathan. Dass der Angehimmelte keine Zeit für ein Treffen hat, während man selbst im Terminkalender alles andere zur Seite schiebt. „Und wenn der andere sich nicht meldet, fängt man sogar an, ihn telefonisch zu stalken.“

Einen Riegel vorschieben

Wie können Menschen sich davor schützen, sich immer wieder viel zu schnell zu verlieben? „Paradox an der Situation ist, dass Liebe ja spontan sein sollte, dass man sich von den Liebesgefühlen wegtragen und sich in die Liebe hineinfallen lassen sollte. Von Amors goldenem Pfeil getroffen, hat die Ratio eigentlich keinen Platz“, sagt Paarforscher Bodenmann. Um uns zu verlieben, müssen wir das Risiko eingehen, eventuell auch verletzt zu werden. Wer nicht bereit ist, sich einzulassen, kann auch nicht erwarten, dass die oder der andere sich für das Abenteuer öffnet.

Dennoch sei es ratsam, auch im Rausch des Verliebtseins einen Moment zu überlegen, abzuwägen und zu prüfen. „Menschen, die sich leicht durch die Liebe entzünden lassen, fehlt genau dieses reflektierte Prüfen oder es erfolgt sehr viel später“, meint Bodenmann und rät: „Wer schon häufig an die falsche Person geraten ist, sollte beim Verlieben erst einmal den Riegel vorschieben, also nicht gleich in der ersten Nacht mit dem Date ins Bett gehen oder die aufschäumenden Gefühle täglich durch Nachrichten und Treffen weiter befeuern. Es hilft, stattdessen mal einige Tage zu warten, das Ganze in Ruhe zu überdenken und die Gefühle sacken zu lassen.“

Wenn es mit dem einen nicht klappt, dann eben mit dem nächsten? Julia Kathan gelang es schließlich, diese Spirale zu durchbrechen. Zwei Jahrzehnte ist das jetzt schon her. Ironischerweise war es ein Mann, der ihr damals sagte, dass sie etwas verändern müsse. Dass sie sich, bevor sie sich wieder verliebe, erst einmal um sich selbst kümmern müsse. Sie schrieb aus ihren Erfahrungen einen Ratgeber und begann vor 14 Jahren, andere liebessüchtige Frauen zu coachen. Ihr Credo: „Man kann sich vornehmen, sich nicht mehr kopflos zu verlieben. Aber das klappt nicht. Man kann damit nur umgehen, indem man lernt, sich selbst zu lieben.“

Zum Selbsttesten

Ein von Daniel Jones entwickelter Emophilie-Test: bit.ly/PH_Emophilie-Test

Zum Weiterlesen

Julia Kathan: Alles für ein bisschen Liebe? Schluss mit Warten & Schmachten. Liebessucht erkennen und heilen. Die Silberschnur, Güllesheim 2016

Zum Austauschen

Das Liebeskummerforum auf psychic.de und auf trennungsschmerzen.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2022: Frauen und ihre Mütter