Zwischen Liebe und Pflichtgefühl

Wenn Eltern älter werden und Hilfe von ihren Kindern benötigen, brechen alte Konflikte oft wieder auf. Dann gilt es, den Kontakt neu zu gestalten.

Collage zeigt eine jüngere zusammen mit einer älteren Frau, beide lächelnd
Verbunden statt verstrickt: Wer sich mit Kindheitsprägungen auseinandersetzt, profitiert davon. © Elke Ehninger

Die Veränderungen im Haushalt ihrer Mutter beobachtete Iris Thormanns * schon eine Weile mit Sorge. Wenn die 47-Jährige am Sonntag zum Kaffee kam, war es im Elternhaus ungewohnt unordentlich, ihre 79-jährige Mutter bewegte sich langsam, unsicher. Krank sei sie nicht, erklärte die Mutter – nur müde. Häufiger äußerte sie nun die Bitte, ihre Tochter möge doch auch unter der Woche noch einmal kommen. Obwohl Iris Thormanns sah, dass ihre Mutter Hilfe brauchte, überhörte sie diesen Wunsch einige Wochen einfach.…

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sie diesen Wunsch einige Wochen einfach. Zum einen weil sie sich als berufstätige Mutter zweier Söhne ohnehin ziemlich eingespannt fühlte. Die Vorstellung, die 80 Kilometer von Köln nach Aachen nun auch noch unter der Woche zu fahren, machte ihr Druck. Zum anderen fühlte sie auch eine innere Sperre. Die Bitte ihrer Mutter machte sie wütend. Schließlich, so dachte sie, war ihre Mutter schon immer fordernd gewesen, hatte von ihr in der Jugend oft Höchstleistungen erwartet, die Iris überfordert hatten. „Ich reagierte trotzig“, sagt sie im Rückblick. Rational war ihr klar, dass sie mit ihrer Mutter sprechen und eine Lösung finden sollte, doch sie wäre am liebsten weggelaufen. Aber das sei bei der eigenen Mutter natürlich unmöglich.

Eine starke Verbindung

Die emotionale Gemengelage, mit der Iris Thormanns kämpfte, kennen viele. Vor allem in Umbruchsituationen wird klar, dass die Beziehung zu den Eltern nicht nur lebenslang bestehen bleibt, sondern uns auch in jedem Lebensabschnitt vor neue Aufgaben stellt. „In Übergangsphasen wird für viele Erwachsene greifbar, wie wichtig die Beziehung zu den eigenen Eltern noch immer ist“, sagt Heike Buhl, Professorin für pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Universität Paderborn, die gerade eine Studie über die Beziehung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern abgeschlossen hat. Mit umfangreichen Fragebögen und Tagebuch-Tools untersuchte sie 200 Familien mit Kindern zwischen 20 und 45 Jahren und fand heraus, dass die Beziehung von allen Beteiligten in allen Lebensphasen als bedeutsam und positiv eingeschätzt wurde. Doch die Forscherin fragte nicht nur nach der Stärke der Eltern-Kind-Beziehung, sie wollte auch wissen, was die Verbindung stabilisiert. Laut Buhls Studie ist eine gelungene Beziehung von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern von Widersprüchen gekennzeichnet. Es gehe stets darum, dass Verbundenheit auf der einen Seite und Abgrenzung auf der anderen gelinge. Buhl benutzt deshalb auch nicht mehr den Begriff des „Ablösens“ der Kinder von den Eltern. „Eher sprechen wir von Interdependenz, einer gegenseitigen Bezogenheit. Diese wird durch eine stimmige Balance zwischen Verbundenheit und Abgrenzung möglich.“

Buhl befragte erwachsene Kinder in verschiedenen typischen Übergangsphasen, etwa nach dem Auszug zu Hause und in der ersten Zeit mit eigenen Kindern. Dabei stellte sie fest, dass die Stärke der Verbundenheit über die verschiedenen Beziehungsphasen hinweg weitgehend gleich bleibt, die Abgrenzung aber immer stärker und wichtiger wird – doch das ist ein Prozess von Jahrzehnten. „Eltern und Kinder begegnen sich oft erst mit etwa 45 Jahren vollständig auf Augenhöhe“, sagt Buhl. So wird unter Umständen ein 35-jähriger Grundschullehrer darunter leiden, dass sein Vater seinen Beruf nicht akzeptiert, weil der ihn lieber der Familientradition gemäß als Juristen gesehen hätte. Erst nach und nach wird der Sohn selbstbewusster mit seiner Berufsidentität umgehen und sich unabhängiger machen. Und der Vater wird möglicherweise einen Schritt zurücktreten und seinen Sohn als Erwachsenen mit eigenem Berufsweg akzeptieren. Zwischen Eltern und erwachsenen Kindern finden also über Jahre immer wieder komplexe Lern- und Beziehungsprozesse statt, die vielen von uns gar nicht bewusst sind. „Oberflächlich ist es natürlich auch so, dass jeder sein eigenes Leben lebt“, erklärt Heike Buhl. „Doch wenn man zusammentrifft, werden Abgrenzung und Nähe immer wieder ausgehandelt und weiterentwickelt.“

Der Kitt für alles

Dass die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern sich quasi über einen ganzen Lebenszyklus hinweg wandelt, ist in der Psychologie lange nicht beachtet worden. Doch das ändert sich gerade. Das wachsende Interesse hat laut Heike Buhl auch mit der demografischen Entwicklung zu tun: Waren zum Beispiel Väter und erwachsene Kinder zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Schnitt nur 15 bis 20 Jahre gemeinsam auf der Welt, sind es heute 50 oder 60 Jahre, wie eine Studie des Soziologen Hans Bertram zeigt. Dazu kommt, dass die letzte gemeinsame Lebensphase heute oft davon geprägt ist, dass Kinder ihre Eltern unterstützen. „In dieser Zeit geht die Beziehung auf Augenhöhe zum Teil wieder verloren“, erklärt Buhl. In der letzten gemeinsamen Entwicklungsphase stehen deshalb für alle Beteiligten noch einmal komplexe persönliche Lernprozesse an.

Dass die Eltern-Kind-Beziehung heute als eine Art kontinuierlicher Prozess inklusive verschiedener Umbrüche gesehen wird, birgt Chancen: Letztlich kann man in jeder gemeinsam durchlebten Phase alte Schieflagen zurechtrücken oder bestehende Verbindungen stärken. All das wirkt sich dann wiederum darauf aus, wie die letzte gemeinsame Phase, die Pflege- und Abschiedsphase gelingt.

Altersforscher und Entwicklungspsychologen haben einige konkrete Aspekte gefunden, die eine positive Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung bis in die letzte Phase hinein begünstigen. Zentral ist die sogenannte Reziprozität: Heike Buhl fand in einer Befragung zur potenziellen Pflegebereitschaft erwachsener Kinder heraus, dass diese immer dann angaben, ihren Eltern helfen zu wollen, wenn sie das Gefühl hatten, in Kindheit, Jugend und im frühen Erwachsenenalter viel von ihnen bekommen zu haben. Natürlich kann man die Vergangenheit nicht zurückdrehen, unerfüllte oder unausgewogene Eltern-Kind-Beziehungen nicht mehr kitten. Doch etwas Einfluss kann man immer noch nehmen. Denn das Prinzip von Geben und Nehmen funktioniert laut Heike Buhl nicht nur auf der Langstrecke. Schon über einen Zeitraum von vier Wochen macht es sich bemerkbar. Eine Tagebuchstudie, in der 100 erwachsene Kinder und ihre Eltern kleine Hilfssituationen, Unternehmungen und Telefonate festhielten, zeigte: Wer im Alltag von seinen Eltern unterstützt wurde und einen lebendigen Austausch erlebte, war auch selbst bereit, in den kommenden Tagen und Wochen viel für die Eltern zu geben und sie zu unterstützen. Das heißt, dass erwachsene Kinder und ihre Eltern allein durch eine Veränderung der alltäglichen Interaktion die Beziehung verbessern können. Mehr Aufmerksamkeit und Interesse füreinander stärkt die Verbindung – auch in Hinblick auf spätere Krankheits- und Pflegezeiten.

Ein zweiter Faktor, der die Beziehung langfristig verbessert, ist die schon erwähnte Abgrenzung. Erwachsene Kinder, die sich autonom fühlen, ihre eigenen Forderungen stellen, Ambivalenz aushalten und eine eigene Meinung haben, erleben die Beziehung zu ihren Eltern meist als harmonisch. Weniger abgegrenzte Kinder berichten dagegen häufiger von Konflikten. In Extremsituationen, etwa wenn die Eltern pflegebedürftig sind, ist die Autonomie besonders wichtig. Gerontopsychologen sprechen von der sogenannten filialen Reife, also einem letztlich selbstbewussten Erwachsensein, das dazu führt, dass Kinder die Anforderungen von Pflege und Unterstützung alter Eltern besser meistern. Dass man dieses „Nachreifen“ gezielt lernen kann und dadurch die Kommunikation mit alten Eltern erleichtert wird, zeigt etwa eine Masterarbeit der Psychologin Anita Bisig an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. In der Studie nahmen Frauen zwischen 42 und 58 Jahren an einem Training teil, in dem sie lernten, erwachsener zu agieren. Sie bekamen unter anderem beigebracht, besser nein zu sagen, Konflikte auf ruhige Art zu regeln, unangemessene Schuldgefühle ihren Müttern gegenüber weniger wichtig zu nehmen. In einer Befragung nach dem Training zeigte sich, dass sich viele der Frauen in einzelnen Bereichen kompetenter fühlten. Sie gaben an, nun besser mit ihren Müttern umgehen zu können. Auch in der Angehörigenarbeit für Demenzkranke werden oft Module zur filialen Reife angeboten, damit Konflikte nicht eskalieren, Angehörige besser ihre Grenzen wahren. Die Fähigkeit, kindliche Rollen bewusst loslassen zu können, ist besonders in dieser letzten gemeinsamen Phase zentral. Wie seltsam es dagegen ist, wenn man das als erwachsenes Kind in diesem Lebensabschnitt nicht tut, sieht man an Iris Thormanns. Diese war nach einigen Wochen selbst davon befremdet, wie wenig selbstbewusst sie mit den neuen Anforderungen umging.

Verstrickungen durch Altlasten

Dass Menschen im Kontakt mit ihren Eltern oft irrational, trotzig oder geradezu hilflos reagieren, hat meist eine tiefere Dimension – und hängt mit Verstrickungen aus der Kindheit zusammen. „Viel häufiger, als man vielleicht annehmen mag, begegnen wir unseren Eltern in einer Art Kind-Modus“, erklärt der Lübecker Paar- und Familientherapeut Peter Bartning. Er ist davon überzeugt, dass wir alle Verletzungen aus der Kindheit – wie etwa Zurückweisung oder Ohnmacht – in uns tragen, die oft ohne unser Wissen bis ins Erwachsenenalter weiterwirken. „Solange wir uns die alten Verletzungen nicht klar vor Augen führen, fährt unser Unbewusstes mit uns Schlitten“, sagt Bartning. So sei es durchaus möglich, dass ein selbst schon 50-jähriger Mann vor seinem gebrechlichen Vater steht, ihn aber innerlich immer noch als mächtigen Tyrannen erlebt, der dieser früher gewesen war. Gefangen in seiner kindlichen Angst, kann der Sohn dem Vater nicht mit dem Mitgefühl begegnen, das dieser brauchen würde. Aber in derart festgefahrenen Prägungen brauchen wir nicht zu verharren. „Wenn wir uns bewusstmachen, an welchen Stellen wir in kindliche Muster rutschen und warum, können wir die inneren Verstrickungen oft lösen“, sagt Bartning. Das gelingt etwa, indem man mit unterschiedlichen inneren Anteilen ins Gespräch kommt: Das „innere Kind“ – ein kindlicher Anteil, der immer da ist – sollte dabei nicht etwa darauf hoffen, dass es von den tatsächlichen Eltern noch einmal Liebe bekommt. Besser man begegnet ihm mit einem eigenen „inneren Erwachsenen“, der das Kind tröstet, ihm Liebe und Fürsorge gibt. „So hilft man nicht nur den kindlichen verletzten Anteilen. Man stärkt auch die eigene erwachsene Seite.“

Grenzen des Verzeihens

Doch verbessert sich durch eine Arbeit mit inneren Anteilen auch die Beziehung zu den realen Eltern? Könnte etwa Iris Thormanns so ein liebevolleres Verhältnis zu ihrer Mutter aufbauen? „Eine Garantie gibt es nicht“, sagt Bartning. „Und es wäre auch nicht ratsam, sich mit inneren Anteilen nur zu beschäftigen, damit sich die Beziehung zu den Eltern verändert. Primär geht es ja darum, unabhängiger zu werden und kindliche Automatismen abzulegen.“ Im Laufe des Prozesses berichten dennoch viele von Bartnings Klienten, dass Wut, Trotz und Ohnmacht den Eltern gegenüber abnehmen – und das obwohl die realen Eltern sich genauso verstockt, rätselhaft oder fordernd verhalten wie immer. Die Beziehung zu den Eltern kann sich also spürbar vereinfachen, wenn wir persönliche Altlasten bearbeiten. Ein Patentrezept für jede Eltern-Kind-Beziehung sei das dennoch nicht. Laut Peter Bartning gibt es Familien, in denen so viele seelische und körperliche Übergriffe stattgefunden haben, dass es für erwachsene Kinder nicht nur schwer sei, davon zu heilen – es sei oft auch nicht möglich, den Kontakt zu den Eltern gut zu gestalten. „Dann kann es hilfreich sein, den Kontakt auf ein Mindestmaß zu reduzieren oder sogar ganz abzubrechen“, sagt Bartning. In einem solchen Fall sei es aber umso wichtiger, die „innere Arbeit“ fortzusetzen – um für sich selbst ein liebevollerer Erwachsener zu sein.

Doch auch in Eltern-Kind-Beziehungen auf Augenhöhe gibt es Differenzen. Besonders wenn es um die Frage geht, wie Kinder ihre alten Eltern begleiten können, sind oft komplexe Aushandlungsprozesse nötig. Solche Konflikte auszutragen ist für viele Familien schwer. Das hat auch damit zu tun, dass erwachsene Kinder und Eltern das Streiten quasi verlernt haben. Laut Heike Buhls Studien nehmen mit zunehmendem Alter der Kinder jedenfalls offene Konflikte stetig ab. In einer Studie hat Buhl Väter und Söhne sowie Mütter und Töchter unter Laborbedingungen streiten lassen. Die Paare durften sich Reizthemen aussuchen. Es zeigte sich ein großes Unbehagen zu streiten, Diskussionen kamen nur schleppend in Gang.

Ein wirklich explosives Thema war bei Mutter-Tochter-Beziehungen die Kindererziehung: Wenn die Mütter die Erziehungsmethoden der Töchter kritisierten, entstanden hitzige Dispute. Das hat laut Buhl viel damit zu tun, „dass uns die Meinung von Familienmitgliedern – ob wir wollen oder nicht – übermäßig wichtig ist“. Die Kindererziehung sei ein besonders sensibles Thema, weil der Wertekanon in Familien bezüglich Erziehungsfragen über die Generationen hinweg ohnehin ähnlich sei. In einer Längsschnittstudie des Entwicklungspsychologen Klaus Schneewind mit Daten von fast zweihundert Familien stellte sich etwa heraus, dass mittlerweile erwachsene Kinder, die 16 Jahre nach einer ersten Erhebung noch einmal befragt wurden, weitgehend gleiche Erziehungswerte vertraten wie ihre Eltern zwei Jahrzehnte zuvor. Das heißt: Auch wenn die Elterngeneration einen Wert wie „Gehorsam“ noch anders, etwa mit mehr Härte, umgesetzt hat, ist die Chance groß, dass erwachsene Kinder später bei eigenen Kindern ebenfalls diesen Wert verfolgen. Auch deshalb sind erwachsene Kinder vermutlich besonders angefasst und verunsichert von der elterlichen Kritik am Erziehungsstil.

Familienwerte lassen sich übrigens nutzen, um die Bindung zu den Eltern zu stärken. Die Berliner Gerontopsychologin Katja Werheid schreibt in ihrem Ratgeber Nicht mehr wie immer. Wie wir unsere Eltern im Alter begleiten können, dass Werte etwas seien, das Familien verbinde. Sie empfiehlt deshalb, sich in einer ruhigen Stunde einmal aktiv auf die Suche nach gemeinsamen Werten zu begeben. Wenn man herausfindet, dass in der Familie etwa Ehrlichkeit oder Humor besonders wichtig ist, kann man den Eltern bei passender Gelegenheit offen dafür danken, dass sie einem diesen Wert vermittelt haben. Das Wissen um eine gemeinsame Basis hilft dann oft auch bei schwierigen Gesprächen, die anstehen, wenn Eltern hilfsbedürftig werden. Dass man nach einer langen konfliktscheuen Phase über Jahrzehnte die Problemthemen dann aber immer möglichst sachlich und konkret angehen sollte, betont Gerontopsychologin Werheid immer wieder: „Wenn die Eltern Hilfe brauchen, ist es nicht mehr ratsam, mit ihnen über alte Verletzungen zu sprechen oder ausschweifende Vorwürfe zu machen.“ Das überfordere alle Beteiligten – und lenke den Fokus zu sehr in die Vergangenheit, weg von den realen neuen Aufgaben in der Zukunft, die man gemeinsam bewältigen muss.

Iris Thormanns hat tatsächlich eine Zeitlang überlegt, ob sie mit ihrer Mutter offen sprechen sollte – sie erhoffte sich Klärung, Erleichterung, Nähe, kurz: einen „reinen Tisch“. Doch nach einem Gespräch mit ihrem Mann ließ sie die Idee fallen. Stattdessen versuchte sie, mit ihrer Mutter ein sachliches Gespräch zu führen. Thormanns sagte der Mutter ehrlich, dass sie eine zusätzliche Fahrt nach Aachen unter der Woche nicht schaffe. Gemeinsam überlegten Mutter und Tochter, was hilfreich sein könnte. Thormanns fand für ihre Mutter eine Haushaltshilfe. Außerdem würde sie einmal im Monat zusätzlich unter der Woche vorbeikommen. „Vorher hatte ich ein ungutes Gefühl, mich so klar abzugrenzen – aber ich war erstaunt, dass meine Mutter das gut angenommen hat“, sagt Thormanns. „Sie wollte vor allem Klärung und Halt. Und das hat sie offenbar bekommen.“

Was müssen wir zurückgeben?

Die Frage, wie man den alten Eltern helfen könnte, stürzt dennoch viele Menschen in innere Konflikte. Sie denken über den Generationenvertrag nach, fragen sich, ob sie es ihren Eltern schulden, sich um sie zu kümmern. „Auch wenn man weiß, dass diese Tendenz stark ist: Schuldgefühle sind kein guter Ratgeber, um Entscheidungen rund ums Thema Pflege zu treffen“, sagt der Soziologe Karl Stanjek (siehe Interview Seite 26). Psychologisch gesehen sei das Leiden unter starken Schuldgefühlen wiederum ein Zeichen dafür, dass man in einer kindlichen Rolle verharre, so Peter Bartning.

Aber das Thema hat neben der psychologischen auch eine gesellschaftliche und philosophische Komponente: Der Frage, was wir unseren Eltern schulden, widmet etwa die Philosophin Barbara Bleisch von der Universität Zürich ein ganzes Buch. Sie zieht Thesen aus der Ethik heran, um auszuloten, ob es etwas gibt, das wir unseren Eltern aufgrund dessen, was diese für uns geleistet haben, zurückgeben müssen. Sie kommt zu dem Schluss, dass das nicht der Fall sei. Als erwachsene Kinder, so Bleisch, haben wir „keine speziellen Pflichten über das hinaus, was wir allen Menschen schulden“. Es gebe also keine filialen Pflichten. Dennoch solle man sich darüber klar sein, dass man es mit einer besonderen, letztlich nicht lösbaren Beziehung zu tun habe, die sehr fragil sei und gerade durch ihre Einzigartigkeit ein hohes Kränkungspotenzial bereithalte. Wenn man seinen Eltern bestimmte Wünsche abschlage, etwa an einer Geburtstagsfeier teilzunehmen, müsse man sich daher bewusstmachen, dass die Eltern darüber gekränkt seien, so Bleisch. Das bedeute nicht, dass man sich deshalb hinquälen müsse. Doch man solle die Verletzlichkeit der Beziehung einkalkulieren und eine sorgsame Absage oder eine plausible Erklärung vorbringen.

Dieses Prinzip lässt sich laut Bleisch auch auf die Situation von Hilfestellung und Pflege übertragen und erweitern. Wenn man sich frage, welche Begleitung den alten Eltern helfen würde, unterscheidet Bleisch sogenannte „generische“ und „spezifische“ Güter. Generische Güter befriedigen Bedürfnisse, die für alle Menschen existenziell und zentral sind, etwa Essen zu bekommen, begleitet zu werden, ein Dach über dem Kopf zu haben, letztlich also das, was unter pflegerische Tätigkeiten fällt. Für diese Hilfe bedarf es keiner einzigartigen Beziehung, sie kann laut Bleisch auch von Pflegekräften übernommen werden. Die „spezifischen Güter“ sind dagegen solche, für die es einer tiefen Beziehung bedarf. Im Kontakt mit betagten Eltern heißt das etwa ein vertrautes Gespräch, das Betrachten eines Fotoalbums, das Schmücken des Weihnachtsbaums. Für solche Momente, in denen man gemeinsame Geschichte aufleben lässt oder liebgewonnene Rituale pflegt, sollten erwachsene Kinder so oft wie möglich da sein.

Lebenslange gemeinsame Entwicklung

Heike Buhl würde das aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie unterschreiben. „Es geht darum, die Verbindung in ihrer Einzigartigkeit zu gestalten“, sagt sie. Deshalb sehe sie auch den Ansatz vieler amerikanischer Kollegen kritisch, deren Ansicht nach Eltern und Kinder im Erwachsenenalter quasi zu Freunden werden. Mit dieser Gleichstellung würde man das Besondere an der Eltern-Kind-Beziehung verwässern. „Als Kinder unserer Eltern bleiben wir letztlich ein Stück weit auch immer Kinder“, sagt Buhl. In ihren Studien formulieren Befragte etwa häufig, dass sie es auch als ältere Erwachsene noch genießen würden, wenn sie zurück zu ihren Eltern kämen, dort bekocht würden oder um Rat fragen könnten. Das freilich sei in der letzten Lebensphase oft nicht mehr möglich. Aber solange es noch geht, sei es umso wichtiger, das gemeinsam zu zelebrieren, so Buhl.

Auch wenn wir also keine Verpflichtung oder Schuldigkeit unseren Eltern gegenüber haben, empfehlen die Philosophin Barbara Bleisch und die Psychologin Heike Buhl gleichermaßen, dass wir etwas für die gute Beziehung zu unseren Eltern tun. Hilfreich ist hierbei laut Heike Buhl das neue Verständnis der Eltern-Kind-Beziehung als einer lebenslangen Entwicklung. Wenn man nicht nur für die Spanne der Kindheit und Jugend konkrete Übergangsphasen definiere – wie die Pubertät als Umbruchzeit –, sondern realisiere, dass auch noch im Erwachsenenleben verschiedene Entwicklungskrisen mit den Eltern anstehen, könne man sich darauf besser einstellen und zu der Erkenntnis gelangen, dass es sich hierbei um Prozesse handelt, die alle Menschen erleben, mit denen alle umgehen müssen. Das gilt für die Zeit, in der erwachsene Kinder aus dem Haus gehen, ebenso wie für die letzte Lebensphase, in der die Eltern hilfsbedürftig werden. „In jeder Phase mit unseren Eltern heißt es auch: Jetzt müssen wir nachreifen und selbst wieder dazulernen“, sagt Buhl. Dass es allen so geht, kann tröstlich sein.

„Sorgende Gemeinschaft“

Drei Viertel der pflegebedürftigen Menschen hierzulande werden im häuslichen Umfeld versorgt, oft von Familienangehörigen. Der Soziologe und Sozialpädagoge Karl Stanjek erklärt, was man sich zumuten kann – und wo Grenzen sind

Herr Stanjek, fast alle erwachsenen Kinder stehen heute irgendwann vor der Frage, wie sie ihre alten Eltern unterstützen sollen und wer konkret die Pflege übernimmt. Wie bereitet man sich auf diese Situation vor?

Indem man bewusst hinschaut, von Anfang an mitbekommt, wann Eltern welche Begleitung brauchen. Denn die Hilfsbedürftigkeit ist ja meist nicht Knall auf Fall da. Es ist ein Prozess. Wenn Angehörige das verstehen, kann man die Fürsorge für Eltern organisch gestalten, selbst kleine Hilfen anbieten und frühzeitig auch ein Netz aus Freunden und Nachbarn aufbauen, die mitunterstützen. Gerade anfangs steht oft eher Versorgung an, man bringt den Senioren Lebensmittel oder eine Kiste Sprudel mit, hilft im Garten oder schaut mal nach dem Rechten. All das müssen nicht engste Familienangehörige tun. Bei der zweiten Phase der Pflege, die man Unterstützung nennt, ist schon mehr Einsatz gefragt, man geht mit den Eltern Kleidung kaufen oder hilft beim Putzen. Auch hier kann man noch nachbarschaftliche Hilfsnetze einbeziehen. Nur die eigentliche Pflege, die dritte Stufe, die bis zur Bettlägerigkeit und palliativen Pflege geht, wird bis heute vor allem vom engsten Familienkreis und dann auch noch zu 80 Prozent von Ehefrauen, Partnerinnen und Töchtern mitübernommen.

Auf diese dritte Phase beziehen sich die meisten Sorgen: Wie kann man eine Entscheidung treffen, ob man als Sohn oder Tochter Teile dieser klassischen Pflege übernimmt?

Zentral ist, persönlich zu klären, warum man überhaupt die Pflege der Eltern übernehmen will, also die eigenen Motive abzuklopfen. Denn einige sind ungünstig und ungesund. Wer etwa denkt, er müsse den Eltern gegenüber etwas wiedergutmachen, wer immense Schuldgefühle hat, sollte keinesfalls ja sagen. Auch die Befürchtung, kritisiert und abgelehnt zu werden – Stichwort: „Was sollen die Nachbarn denken?“ –, ist kein guter Grund. Manchmal werden vor allem Frauen auch vom direkten Umfeld, etwa Geschwistern oder dem eigenen Partner unter Druck gesetzt, die Pflege zu übernehmen. In allen diesen Fällen ist es wichtig, sich klarzumachen, dass die Entscheidung, ein Elternteil zu pflegen, immer von Freiwilligkeit geprägt sein sollte. Ein guter Grund, die Eltern pflegerisch zu begleiten, wäre etwa, dass man Freude am Helfen hat oder auch einen echten Wunsch, die Eltern noch eine Weile zu begleiten.

Was kann man konkret tun, wenn man merkt, dass man diese Art häuslicher Pflege nicht übernehmen kann und will?

Klar kommunizieren und sich deutlich abgrenzen. Und zwar frühzeitig und auch den Eltern gegenüber, die vielleicht die Erwartung haben, dass man diese Aufgabe übernimmt. In den Kursen für Angehörige, die ich jahrelang geleitet habe, ging es oft genau um solche Entscheidungsfragen. Wir haben uns dann im Seminar vorgestellt, was schlimmstenfalls passieren kann, wenn man ablehnt, die Pflege zu übernehmen. Außer dass Eltern oder Geschwister kurzzeitig sauer wären, ist den meisten Seminarteilnehmern nichts eingefallen. Was einem außerdem die Angst nehmen kann: Meist geht es ja gar nicht um ein absolutes Nein, sondern darum, dass man sich eine bestimmte Begleitung vorstellen kann, eine andere nicht. Es beginnt also eher ein Aushandlungsprozess unter Geschwistern und Angehörigen, man aktiviert das soziale Netzwerk, überlegt gemeinsam, wer was an Pflege übernehmen kann – und wo professionelle Helfer dazukommen. Diese geteilte Verantwortung ist ohnehin vielversprechender. Eine einzelne Person kann kaum die komplette Betreuung eines alten und kranken Elternteils übernehmen. Damit überfordert man sich.

Das müssen Sie erklären.

Wenn Söhne oder Töchter die Pflege der Eltern übernehmen, überschauen sie oft nicht, worauf sie sich einlassen. Zum einen kann die Pflegephase lange dauern, bei Demenz bis zu zehn Jahre. Zum anderen ändert sich bei dementen Menschen der Tag-Nacht-Rhythmus, sie geistern nachts durch das Haus, wollen vielleicht Mensch ärgere Dich nicht spielen. Das kann man kaum leisten! Bevor man also eine solche Aufgabe übernimmt, sollte man sich durch einen Pflegestützpunkt beraten lassen. Meist ist eine Einbindung professioneller Pflegekräfte hilfreich.

In manchen Familien ist es tabu, die Pflege quasi an Fremde zu geben. Viele Kinder haben deshalb ein schlechtes Gefühl, wenn ein Netz aus Helfern oder Dienstleistern aktiv wird.

Gerade diese Abschottung ist kontraproduktiv. Der Soziologe und Altersforscher Leopold Rosenmayr hat einmal gesagt, dass es in Pflege- und Versorgungssituationen ganz wichtig ist, dass man die Zugbrücke herunterlässt, dass man sich als Familie Hilfe holt, in die Karten schauen lässt, über Probleme spricht. Diese Öffnung hilft nicht nur, eine gute Struktur und ein Hilfsnetz aufzustellen. Sie ist generell als Haltung ratsam: Wer etwa als pflegendes Familienmitglied an Grenzen kommt, müde und ausgelaugt ist, für den ist es umso wichtiger, sich zu zeigen und zuzugeben: So schaffe ich das nicht. Jetzt müssen wir was ändern. Wer das ehrenrührig findet, dem sei gesagt: Nur Helfer, die Unterstützung haben, bleiben gesund und können die Versorgung anderer auch leisten.

Ausgelaugte Helfer, Nachbarn, die aktiv werden: Wälzt man so das Pflegeproblem nicht komplett auf die private Ebene ab?

Natürlich gibt es kritische Stimmen, die anprangern, dass Pflege von alten Menschen zu sehr ins häusliche und kommunale Umfeld abgeschoben wird. Andere sagen: Genau da gehört Pflege auch hin. Ich schließe mich letzterer Ansicht an. Wichtig ist, dass die Kommunen genügend Anlaufstellen für Beratung schaffen, dass Hilfsangebote bestehen. So kann der Gedanke von einer „sorgenden Gemeinschaft“ wachsen. Und dieses Prinzip hat laut Altenforschung letztlich die meisten Vorteile – für die ­Senioren und für die Angehörigen.

Karl Stanjek ist Soziologe, Sozialpädagoge, Mediator sowie Lehrbeauftragter an der FH Kiel. Er hat 30 Jahre Erfahrung in der Beratung von Pflegekräften und von Angehörigen in der Pflege. Karl Stanjek ist Herausgeber des Buches Altenpflege konkret: Sozialwissenschaften (Urban & Fischer)

Literatur:

Peter Bartning: Auf dem Weg mit dem inneren Kind. Leben im Einklang mit sich selbst. Herder, Freiburg 2015

Anja Bisig-Theiler: Wege zu einem besseren Miteinander innerhalb der Mutter-Tochter-Beziehung im Erwachsenenalter. Seminarlehrgang für erwachsene Töchter auf dem Konzept der filialen Reife, Masterarbeit, Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Schaffhausen 2013

Barbara Bleisch: Warum wir unseren Eltern nichts schulden. Hanser, München 2018

Heike M- Buhl. My mother: My best friend? Adults' relationships with significant others across the lifespan. Journal of Adult Development, 16, 4, 2009, S. 239-249 DOI: 10.1007/s10804-009-9070-2

Heike M. Buhl. Development of a model describing individuated adult child-parent relationships. International Journal of Behavioral Development, 32, 5, 2008, S. 381-389, DOI: 10.1177/0165025408093656

Heike M. Buhl: Significance of individuation in adult child-parent relationships. Journal of Family Issues, 29, 2, 2008, S. 262-281, DOI: 10.1177/0192513X07304272

Helga Käsler-Heide: Wenn die Eltern älter werden. Ein Ratgeber für erwachsene Kindert. Beltz, Weinheim 2009

Cornelia Nack: Zwischen Liebe, Wut und Pflichtgefühl. Frieden schließen mit den älter werdenden Eltern, Kösel, München 2004

Klaus A. Schneewind: Persönlichkeits- und Familienentwicklung im Generationenvergleich. Zusammenfassung einer Längsschnittstudie über 16 Jahre. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 21, 1, S. 23-44, 2001

Katja Werheid: Nicht mehr wie immer. Wie wir unsere Eltern im Alter begleiten können. Ein Wegweiser für erwachsene Kinder. Piper, München 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2019: Zwischen Liebe und Pflichtgefühl