Herr Konrad, Sie haben 1984 in Ravensburg begonnen, psychisch kranke Menschen in Gastfamilien zu vermitteln, basierend auf den Erfahrungen aus Geel. Was haben Sie sich davon versprochen?
Anfangs war ich sehr skeptisch. Ich hatte gerade mein Psychologiestudium beendet und vertrat eine ähnliche Meinung wie viele andere Fachleute zu dieser Zeit. In den modernen Familienstrukturen hielt ich es nicht für möglich, die psychiatrische Familienpflege noch einmal umzusetzen; ich dachte, ihre Zeit sei vorüber.
Warum?
Als…
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für möglich, die psychiatrische Familienpflege noch einmal umzusetzen; ich dachte, ihre Zeit sei vorüber.
Warum?
Als dieses Konzept in Deutschland erstmals Fuß fasste, am Ende des 19. Jahrhunderts, wurden psychisch erkrankte Menschen vor allem von bäuerlichen Großfamilien aufgenommen und als preiswerte Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eingesetzt. Doch die bäuerliche Lebenswelt war genauso wie die Großfamilien in den 1980er Jahren schon auf dem Rückzug. Als mich Paul-Otto Schmidt-Michel, der Oberarzt am ZfP Ravensburg-Weißenau war, fragte, ob ich mit ihm ein solches System einführen wolle, sagte ich trotz meiner Zweifel zu. Und bald merkte ich: Es funktioniert, sehr gut sogar.
Wie haben Sie das Projekt aufgebaut?
Wir wollten es anders machen als in der Weimarer Zeit. Da war die Familienpflege direkt an die Kliniken angeschlossen und behielt immer einen psychiatrischen Touch. Wir haben unsere Familienpflege deshalb nicht an eine Klinik, sondern an einen Verein angebunden. Die Gastfamilien suchten wir über Zeitungsannoncen. Wir sagten ihnen fachliche Unterstützung und eine Vergütung von monatlich 1000 Mark für Betreuung, Verpflegung und Unterbringung zu. Viel zu wenig, wie sich bald herausstellte, denn die Rückmeldungen waren dürftig. Als dann der Betrag um 20 Prozent erhöht wurde, ging es richtig voran. Zehn Jahre nach dem Start hatten wir etwa 50 Familien beisammen, heute sind es 68.
Die therapeutische Wirkung wurde nie allumfassend erforscht. Was lässt Sie so sicher sein, dass es psychisch Kranken in Familien besser geht als in einem Wohnheim mit Fachkräften?
Ich glaube, es gibt kein Besser oder Schlechter in diesem Fall. Diese Form der Familienpflege ist ein Angebot, das für eine bestimmte Gruppe von Patienten und Patientinnen sehr gut funktioniert. Dafür muss die Zuordnung stimmen: Wenn Patient und Gastfamilie harmonieren, kann der Patient ein einigermaßen zufriedenes Leben führen. Das haben wir in Ravensburg ganz deutlich gesehen. Was ich dabei auch beobachtet habe, ist, wie vorurteilsfrei die Familien mit ihren neuen Mitbewohnerinnen umgingen. In den Kliniken und Wohnheimen, so war mein Gefühl, wurden sie von den Angestellten immer etwas schematisch behandelt.
2022 waren in ganz Deutschland 2500 Menschen in der Familienpflege untergebracht. Glauben Sie noch an den großen Durchbruch?
Mal mehr, mal weniger – gerade herrscht Stillstand. Zur Ursache habe ich viele Hypothesen. Am wahrscheinlichsten erscheint mir, dass die Gastfamilie als Konkurrenz zu dem psychiatrischen System angesehen wird. Manch einer empfindet es als Kränkung, dass Menschen, die nicht ausgebildet wurden, in manchen Fällen besser mit psychisch Kranken umgehen sollen als Fachkräfte. Die Psychiatrie ist nie so richtig warm damit geworden. Der knappe Wohnraum ist auch ein Faktor. Und nicht zuletzt ist das Konzept ziemlich komplex. Es passt nicht zum Wunsch nach Sicherheit und Einfachheit, der unsere Gesellschaft gerade erfasst – die Welt ist schon unübersichtlich genug. Der Trend geht deshalb eher in Richtung ambulant betreutes Wohnen.
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Michael Konrad leitete 22 Jahre lang den Geschäftsbereich Wohnen Ravensburg-Bodensee am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg. 2017 wurde der Diplompsychologe Referent im baden-württembergischen Sozialministerium, ehe er 2021 in Rente ging. Heute ist der 68-Jährige als Autor tätig.