Ich habe die Szene noch genau vor Augen. Wir saßen am Esszimmertisch, meine schwer an Parkinson erkrankten Eltern und ich. Die Stimmung war gedrückt. Meine Mutter konnte sich kaum auf ihrem Stuhl halten, sackte immer wieder in sich zusammen und klagte über bleierne Müdigkeit. Meinem Vater, dessen Hand durch den Parkinsontremor zitterte wie Espenlaub, glitt das Saftglas aus der Hand und fiel zu Boden. Ich sprang auf und wollte den Schaden beseitigen. Er herrschte mich an: „Bleib sitzen! Das werde ich doch…
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Ich sprang auf und wollte den Schaden beseitigen. Er herrschte mich an: „Bleib sitzen! Das werde ich doch wohl noch allein hinkriegen.“ Ich sah zu, wie er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in Zeitlupe bückte, um die Scherben zusammenzufegen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und sagte die Sätze, den ich zuvor zigmal heruntergeschluckt hatte. „Es kann hier nicht so weitergehen. Ihr braucht Hilfe. Lasst mich bitte Unterstützung organisieren.“
Wir sind die Kriegsenkel – was können wir tun?
Mein Vater lief rot an vor Wut und schimpfte: „Was redest du denn da für einen Unsinn. Wir brauchen niemanden. Wir kommen hier bestens zurecht.“ Es folgten noch viele frustrierende Gespräche dieser Art. Ich sprach mit Engelszungen und versuchte, ihnen häusliche Hilfe schmackhaft zu machen. Ich zeigte ihnen Prospekte über betreutes Wohnen in der Nähe, rechnete ihnen vor, wie viel finanzielle Unterstützung aus der Pflegeversicherung ihnen zustehen würde, und bot an, mich um alles zu kümmern. Ich redete mir den Mund fusselig und prallte ab an einer Mauer. Wenn ich nicht mehr weiterwusste, wurde ich wütend: „Ihr sagt immer, ihr wollt uns Kindern nicht zu Last fallen. Aber wenn ihr euch weigert, Hilfe anzunehmen, fallt ihr uns tatsächlich zur Last. Ich kann euch in diesem Elend nicht allein sitzen lassen.“
Ich bin Jahrgang 1963 und kenne viele Menschen in meinem Alter, die an Gesprächen mit ihren hilfsbedürftigen Eltern verzweifeln. Nun könnte man einwenden, dass es sich bei meinen Beobachtungen um einen Zufallsbefund handelt. Doch vieles spricht dafür, dass die mühsamen Diskussionen über ambulante Pflegedienste, Haushaltshilfen und Kurzzeitpflege, die zu Tränen- oder Wutausbrüchen auf beiden Seiten führen, typisch sind für die besondere Dynamik zwischen Kriegsenkeln und ihren betagten, gebrechlich werdenden Eltern. Als Kriegsenkel werden diejenigen bezeichnet, die zwischen 1955 und 1980 geboren sind und deren Eltern im Zweiten Weltkrieg Kinder beziehungsweise Jugendliche waren. Die zwischen 1927 und 1947 Geborenen werden in der Literatur Kriegskinder genannt.
„Wir wollen keine fremden Leute im Haus.“
Doch was macht diese Dynamik so besonders? Warum scheitern erwachsene Kinder an der Abwehr ihrer betagten Eltern und fühlen sich ohnmächtig? Warum fällt es vielen Kriegskindern am Ende ihres Lebens so schwer, Hilfe zuzulassen? Diese Fragen stellten sich mir immer wieder.
Mein jüngster Bruder und ich beschlossen, für eine Woche Essen auf Rädern zu bestellen und nicht zu diskutieren. Nach der Probewoche traute sich meine Mutter endlich zu sagen, dass sie sich schon seit Monaten nicht mehr in der Lage gefühlt hatte zu kochen, mein Vater jedoch darauf bestanden hatte. Fortan wurde das Essen geliefert. Wir organisierten nach und nach eine Haushaltshilfe, einen Pflegedienst, eine Friseurin und überredeten die Physiotherapeutin, Hausbesuche zu machen, bis das alles nicht mehr ausreichte und der Umzug ins Pflegeheim unausweichlich wurde. Vor jedem neuen Schritt gab es endlose Diskussionen. Um jede halbe Stunde, die der Pflegedienst länger kommen sollte, wurde erbittert gefeilscht. Und immer wieder wurde ich beschimpft. „Du willst uns wohl entmündigen. Wir wollen keine fremden Leute im Haus.“
Sensibel sein für die seelischen Narben
Die Vorstellung, die eigene Autonomie zu verlieren oder beim Aufstehen, Essen und Waschen auf Hilfe angewiesen zu sein, ist für jeden unangenehm. Mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs im Gepäck wird Gebrechlichkeit jedoch existenziell bedrohlich.
Zugespitzt sorgen fünf Gründe dafür, warum das Thema Hilfsbedürftigkeit zwischen Kriegsenkeln und ihren Eltern für so viel Sprengstoff sorgt. Um das zu verstehen, reicht die psychologische Perspektive nicht aus, es braucht auch den historischen Blick.
Für viele Kriegskinder ist die Vorstellung, ihre Autonomie zu verlieren, besonders bedrohlich, weil diese alte Ohnmachtserfahrungen aus der Kriegszeit heraufholen kann. „Die zentrale Angst alter Menschen ist nicht die vor dem Tod, sondern vor Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Das kann in Verbindung gebracht werden mit traumatischen Ereignissen aus der Kriegszeit, die viele Jahre zurückliegen“, erklärt Gereon Heuft, langjähriger und inzwischen emeritierter Leiter der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster.
Die heute übersiebzig- bis Neunzigjährigen sind größtenteils in seelischer Not und materieller Entbehrung aufgewachsen. Mehr als zwei Drittel gerieten durch Bombardierung oder Beschuss in Lebensgefahr, verloren Angehörige, machten auf der Flucht oder bei Verhaftungen traumatisierende Erfahrungen. Sie litten unter Hunger, standen im Bunker Todesängste aus, mussten Hals über Kopf ihr Zuhause verlassen. Diese Erinnerungen kommen oft im Alter wieder hoch.
Die Kriegskindergeneration wurde im Geist des Nationalsozialismus erzogen. Sie wurde mit einem Menschenbild groß, das keine Schwäche duldete. Säuglinge ließ man schreien. Es galt, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen zum Wohl der Nation. „Die Kriegskindergeneration hat von Anfang an erlebt, dass man ihr nicht hilft“, sagt die systemische Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand. In ihrem Buch Die Kraft der Kriegsenkel beschreibt sie, welche Narben die nationalsozialistische Erziehung und die Gewalterfahrungen bei den Kriegskindern hinterlassen haben, „Als Säugling stundenlang allein gelassen zu werden, bedeutet, Todesangst zu haben. All diese Erfahrungen sind neuronal abgespeichert und kommen bei einer erneuten Hilflosigkeit wieder hoch.“
Zwei Welten prallen aufeinander. Viele Kriegskinder schämen sich ihrer Bedürftigkeit und tun alles, um Anzeichen von Gebrechlichkeit zu vertuschen und ihre Lage zu beschönigen. Ihre Kinder hingegen wuchsen in Friedenszeiten und materiellem Wohlstand auf, sie sind kulturell völlig anders geprägt, auch durch den Einfluss der 1968er-Bewegung, durch Selbsterfahrung und psychotherapeutische Angebote. Für sie ist es viel selbstverständlicher, professionelle Hilfe anzunehmen und sich in Gesprächen mit Freunden oder in einer Psychotherapie zu öffnen und über Schmerzhaftes zu sprechen. Missverständnisse sind vorprogrammiert.
Viele Kriegsenkel haben früh gespürt, dass ihre traumatisierten Eltern in Not waren. „Äußerlich wuchsen sie im Frieden auf, spürten aber den inneren Unfrieden in vielen erwachsenen Menschen deutlich, auch in der eigenen Familie. Die Narrative über den Krieg waren bruchstückhaft, und es wurde immer wieder spürbar, dass vieles nur angedeutet oder unausgesprochen blieb“, so beschreibt die Psychoanalytikerin Angela Moré, Professorin am Institut für Soziologie der Universität Hannover, die unsichtbare Bürde der Kriegsenkel. Als loyale Kinder taten sie alles, um das Leid der Eltern zu lindern, und übernahmen selbst die Elternrolle.In der Psychologie wird von „Parentifizierung“ gesprochen. Kommen die Eltern im hohen Alter nicht mehr allein zurecht, werden die alten Muster wieder aktiviert. Nicht selten übernimmt die parentifizierte Tochter, die sich schon als Kind für das Wohlergehen der depressiven Mutter oder des cholerischen Vaters zuständig fühlte, wie selbstverständlich die Verantwortung. Andere Geschwister fühlen sich dadurch an den Rand gedrängt oder halten sich von vornherein raus, was wiederum zu Konflikten führt.
Eine Langzeitstudie der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung mit 400 Patientinnen und Patienten, die zwischen 1990 und 1993 eine Psychoanalyse beendet haben, kommt zu dem Ergebnis: Etwa ein Drittel der deutschen Kriegskinder nichtjüdischen Glaubens wurde traumatisiert und hat mit Langzeitfolgen zu kämpfen, darunter psychosomatischen Beschwerden, Empathie- und Beziehungsstörungen, Problemen mit Selbstfürsorge. Ein weiteres Drittel gilt als leicht traumatisiert.
Wie wirkt sich das auf den Umgang mit Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit im Alter und auf die Familiendynamik aus? Dazu gibt es bislang kaum Forschung. Das liege auch daran, dass für das Thema Pflege wenig Forschungsgelder bewilligt würden, kritisiert Frank Weidner, Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung, einer gemeinnützigen Einrichtung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Er begleitete unter anderem das Projekt „Alter und Trauma“, das sich mit der Frage beschäftigte, wie traumatische Erlebnisse die Pflege erschweren und was sich konkret ändern müsste.
Erinnerung an Situationen, in denen sie schutzlos ausgeliefert waren
„Viele Kriegskinder werden im Alter, wenn sie Hilfe brauchen, an Situationen erinnert, in denen sie schutzlos ausgeliefert waren. Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte wissen viel zu wenig darüber“, sagt Weidner. „Wir müssen den Begriff Alterstraumatologie völlig neu definieren. 99 Prozent des medizinischen Personals versteht darunter immer noch Unfallchirurgie. Natürlich ist es tragisch, wenn jemand einen Oberschenkelhalsbruch erleidet, aber die seelischen Narben können auch sehr schmerzen. Dafür gibt es zu wenig Sensibilität.“
Im Pflegeheim beklagte sich mein Vater darüber, dass er in seinem Zimmer, das sehr aufgeräumt war, nichts mehr finde. Er wurde fuchsteufelswild, wenn er seine Brille oder den Rasierapparat suchte. Allen war rätselhaft, warum er, der im Kopf noch vollkommen klar war, wegen einer vermeintlichen Kleinigkeit ausrastete. Irgendwann dämmerte mir, dass der Umzug ins Pflegeheim für ihn die vierte Evakuierung war. In seiner Kindheit und Jugend war er dreimal evakuiert worden. Mit Sack und Pack musste seine Mutter mit vier Kindern im Schlepptau das Haus verlassen. Beim ersten Mal kamen sie bei Bauern in einer Scheune unter. In dieser Zeit starb seine jüngste Schwester als Säugling an einer Entzündung, die unter normalen Umständen hätte behandelt werden können. Die Erfahrung, alles Vertraute zu verlieren und dem machtlos ausgeliefert zu sein, kam im Pflegeheim wieder hoch.
Trauma, das nie bearbeitet wurde
„Wer sein Trauma nie anschauen konnte, weil es dafür keinen Raum gab und kein Verständnis, fühlt sich völlig ausgeliefert, wenn früheste Erfahrungen plötzlich wieder hochkommen“, erklärt die systemische Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand. Vieles kann belastende Erinnerungen auslösen: Wenn ein Gewitter losbricht oder samstags um 12 Uhr der Feuerwehrprobealarm ausgelöst wird. Es können aber auch Schritte mit schweren Schuhen auf dem Gang sein. Und dann fängt ein Bewohner an zu schreien, weil er sich an die Stiefel der SS-Schergen vor der Gefängnistür erinnert. Bei einer intimen Berührung kann sich plötzlich der Schmerz über eine lange verdrängte Vergewaltigung Bahn brechen.
Millionen von Frauen und Mädchen erlebten im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit sexuelle Gewalt. Sie hatten kaum Möglichkeiten, über das Erlebte zu sprechen, und erhielten keine Unterstützung. „Immer sind diese Übergriffe mit Scham- und Schuldgefühlen und Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden“, weiß Frank Weidner. „Pflege ist eine Profession mit Körperkontakt. Es passiert häufig sehr schnell, dass jemand auch Intimpflege braucht.“ Wenn Pflegerinnen und auch die Angehörigen jedoch nicht dafür sensibilisiert sind, dass eine Berührung schreckliche Erinnerungen wachrufen kann, wundern sie sich, warum eine Achtzigjährige plötzlich um sich schlägt, wenn sie gewaschen wird. Doch das Wissen zu Trauma und Traumafolgen ist immer noch kein geregelter Lerninhalt in der Pflegeausbildung.
Auch die Angehörigen, weiß Frank Weidner, brauchen Unterstützung. Wenn jemand abwehrend oder merkwürdig reagiert, sei es wichtig sich zu fragen: Was könnte dahinterstecken?
Schuldgefühle, wenn die Pflegerin aus Polen kommt
Ingrid Meyer-Legrand hält es für wichtig, zu verstehen, dass die Überlebensstrategien der Kriegskinder, eigene Bedürfnisse zu ignorieren, es ihnen im Alter schwermachen, sich bedürftig zu zeigen. Die erwachsenen Kinder sollten versuchen, sich in ihre Eltern hineinzuversetzen und zu fragen: Können meine Eltern überhaupt Hilfe und Pflege annehmen? Oder versinken sie bei dem Gedanken vor Scham im Boden? Hinzu geselle sich die Angst. Der oft ausgesprochene Satz „Wir lassen niemand Fremdes ins Haus“ müsse auch geschichtlich verstanden werden. „Die Generation der Kriegsenkel hat Vertrauen in Freundschaften und Netzwerke entwickelt. Doch deren Eltern haben gelernt, sich nach außen abzuschotten und sich auf diese Weise vor öffentlicher Kontrolle und Denunziantentum zu schützen.“
Die Vorstellung wiederum, eine Pflegerin aus Osteuropa zu beschäftigen, kann auch unbewusste Schuldgefühle auslösen, denn viele Pflegerinnen kommen aus Polen, dem Land, das von Deutschland überfallen wurde. Sich klarzumachen, in welche inneren Konflikte die Eltern stürzen könnten, wenn zu Hause eine polnische Pflegerin beschäftigt wird, kann helfen, die Abwehr zu verstehen – aber auch ins Gespräch zu kommen: Was könnt ihr euch vorstellen? Was geht nicht?
Dass die erwachsenen Kinder in einem unlösbaren Dilemma landen, liegt auch daran, dass Deutschland ein überwiegend familienbasiertes Pflegesystem hat. „Der größte Pflegedienst der Nation sind hierzulande immer noch die Angehörigen“, kritisiert Frank Weidner. Weidner berichtet vom System in Skandinavien, das eher dienstleistungsorientiert ist und wo professionelle sowie familiäre Hilfen viel besser vernetzt sind. In Deutschland lasse das Sozialsystem Menschen auf den letzten Metern ihres Lebens viel zu oft allein und lade die Hauptlast auf den Angehörigen ab. Sie müssten sich durch ein undurchdringliches Dickicht von Informationen durchkämpfen weil es bislang abgesehen von den Pflegestützpunkten zu wenig professionelle Netzwerke gibt.
Wieder warm werden
Lange Zeit war es allein die Aufgabe und Pflicht von Frauen aus der Familie, sich um die eigenen Eltern und die Schwiegereltern zu kümmern. Auch wenn viele sagen: „Wir wollen euch nicht zur Last fallen“, verbirgt sich dahinter oft die unausgesprochene Erwartung, dass die Kinder sich um sie sorgen werden. „Letztlich opfern sich dann die Kinder auf, die nicht mehr zuschauen können, wenn es den Eltern immer schlechter geht“, beobachtet Ingrid Meyer-Legrand. Doch viele Kriegsenkelinnen waren schon als Kinder in einer Position, in der sie sich um die Eltern, denen es offensichtlich schlechtging, gekümmert haben. „Sie wurden zu Eltern ihrer Eltern und stellten eigene Bedürfnisse zurück. Dieser Mechanismus setzt wieder ein, wenn die Eltern gebrechlich werden. Man muss wertschätzen, wenn sie sich um die Pflege der Eltern kümmern, gleichzeitig ist es eine große Krux, nicht in das eigene Leben zu kommen und sich für die Eltern aufzuopfern.“
Wer die Eltern in ein Pflegeheim gibt, entscheidet sich für das eigene Leben, wird jedoch oft von Schuldgefühlen geplagt. In seinem Bestseller Eine Arbeiterin beschreibt der französische Soziologe Didier Eribon eindrucksvoll die widerstreitenden Gefühle vor und nach dem Umzug seiner Mutter in ein Pflegeheim.
Erst sagte sie, sie habe es sich anders überlegt und wolle nicht mehr von zu Hause weg. Das war ein Reflex, eine Panik-reaktion auf diese unmögliche, aber notwendige Entscheidung, die ihr mindestens genauso schwerfiel wie uns. Was antwortete man auf so etwas? Natürlich sollte sie das selbst entscheiden. Aber eine Lösung musste her. Sie konnte nicht mehr allein leben. Die Diskussion begann von vorn. Du musst vernünftig sein, es geht nicht anders, beharrte ich, als bringe es etwas, mit Vernunft gegen ihre beklemmende Angst zu argumentieren.
Sieben Wochen, nachdem sie ihr Zimmer im Pflegeheim bezogen hatte, starb Eribons Mutter. Rückblickend macht er sich Vorwürfe und kommt gleichzeitig zu dem Schluss, dass er keine andere Wahl hatte, auch weil die Politik die skandalöse Situation vieler alter Menschen ignoriert.
Chance für Annäherung zu den Eltern
Doch so herausfordernd die letzten Lebensjahre für beide Seiten sein können, sie bieten auch die Möglichkeit, sich noch mal näherzukommen. Viele berichten, dass sie die Chance genutzt haben, ein anderes Verhältnis zu den Eltern zu entwickeln, mit ihnen endlich offen reden konnten oder indem sie einfach beieinandersaßen, etwas vorlasen oder sangen. Meiner Mutter wurde jeden Vormittag eine halbe Stunde lang eiskalt, wenn die Depression sie überfiel. Sie erstarrte vollkommen und konnte eine Weile nicht mehr sprechen. Ich setzte mich schweigend neben sie, hielt ihre Hand, und irgendwann löste sie sich aus ihrer Starre, schaute mich an und sagte: „Das hat gutgetan. Jetzt ist mir wieder warm.“ So entstand mitten in dieser für alle schier unerträglichen Situation ohne Worte eine Nähe zwischen uns, die vorher all die Jahre nicht möglich gewesen war.
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Quellen
Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Suhrkamp 2024
Christina Demmerle u.a : Psychotherapists experiences providing at home-psychotherapy for oder adults with long-term care needs and depression. Journal of Counceling Psychologogy, 2023, 70/4, 403-414
Marianne Leuzinger-Bohleber: Die langen Schatten von Krieg und Verfolgung. Beobachtungen und Berichte aus der DPV Katamnesestudie. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 2003, 57, 783–788
Ingrid Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen. Europaverlag 2016
Astrid Romeike: Reaktivierung von Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg – Erscheinungsformen und Umgang mit der Thematik in der stationären Altenhilfe. Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft, 2017, 22
Frank Weidner u.a: Alter und Trauma: Unerhörtem Raum geben. Mabuse 2016