„Eine Schonhaltung gegenüber den Eltern ist nie gut“

Wie gelingt die Beziehung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern? Pasqualina Perrig-Chiello weiß, es braucht Reifeprozesse – auf beiden Seiten.

Die Illustration zeigt eine erwachsene Frau mit Ihrer Mutter im Hintergrund, dabei einen kleineren Schatten, der zeigt wie die Mutter und Tochter vor Jahren waren
Die inneren Konflikte mit der Mutter vor dieser fernzuhalten, ist nicht sinnvoll. Es schiebt die Eruption der Gefühle nur hinaus. © Ula Šveikauskaite für Psychologie Heute

Eltern beklagen sich bei ihren erwachsenen Kindern über Vernachlässigung; diese wiederum fühlen sich von Vater und Mutter bevormundet und kritisiert. Nervenaufreibende Familienfeiern, tiefsitzender Groll und ständige Spannungen – wie blicken Sie aus entwicklungspsychologischer Sicht darauf?

Das Verhältnis von Eltern und Kindern ist keine Konstante, sondern muss immer wieder aufs Neue definiert werden. Wenn erwachsene Söhne und Töchter äußerst empfindlich auf Kritik reagieren, dann hat der Ablösungsprozess…

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Wenn erwachsene Söhne und Töchter äußerst empfindlich auf Kritik reagieren, dann hat der Ablösungsprozess von den Eltern wohl nicht richtig stattgefunden, sie sind auf ewig das Kind geblieben. Wir wissen, dass überfällige, späte Ablösungs­prozesse schmerzlich sind. Schmerzlicher als bei jenen, die als Jugendliche ihre eigene Identität definiert haben und ihren Weg gegangen sind, ohne die Bindung abzubrechen. Wenn man diesen Entwicklungsschritt verpasst hat, und es nicht gelungen ist, die Eltern-Kind-Symbiose aufzulösen, gerät man zumeist in eine große Krise.

In der Praxis gehe ich mit den Betroffenen den Prozess durch, wir schauen: Wo waren die Punkte, an denen die Schritte in Richtung Autonomie unterlassen wurden? Wovor hatten sie Angst, loszulassen? Überfällige Ablösungen können aber auch später nachgeholt werden. Krisen bedeuten ja, dass etwas nicht funktional war und geändert werden muss. Dies kann mit psychologischer Begleitung geschehen, aber auch indem man sich informiert – es gibt so viel gute Literatur hierzu. Vor allem aber indem man sich mit dem Partner, der Partnerin, Freundinnen und Freunden austauscht. Da kann man dann erstaunt feststellen, wie viele andere sich mit ähnlichen Problemen herumplagen.

Woher rührt die Angst vor Ablösung?

Langzeitstudien von den Psychologen Karin und Klaus Grossmann zeigen: Kinder, die sicher gebunden sind, bringen als Erwachsene ihren Eltern ein höheres Maß an Hilfsbereitschaft und Unterstützung entgegen als bindungsunsichere. Von elterlicher Seite bedeutet das, dass ich mein Bestes tue, wie immer. Und das gilt umgekehrt für die Kinder. Treten Probleme auf, sucht man gemeinsam Lösungen. Eine sichere Bindung erlaubt, vertrauensvoll miteinander zu sprechen und auszuhandeln, was man füreinander machen kann und was nicht.

Unsicher gebundene Kinder hingegen, vor allem die ambivalent ­gebundenen, reagieren ängstlich oder vermeidend in schwierigen Situationen. Sie grenzen sich ab, haben Schuldgefühle: Bin ich in den Augen von Mutter oder Vater eine schlechte Tochter oder ein schlechter Sohn? Bin ich ihnen überhaupt etwas schuldig? Wichtig ist jedenfalls, dass man sich bei der Unterstützung der Eltern nicht hineinsteigert und unmerklich über die Grenze der eigenen Möglichkeiten geht. Denn darauf folgt unweigerlich der Zusammenbruch.

Sind das die Familien, bei denen sich die Feiertage abspielen wie in einem Werbespot? Alle reißen sich zusammen und bemühen sich um eine aufgesetzte Harmonie. Aus Rücksicht auf die hochbetagten Eltern nimmt man eine Art Schonhaltung ein.

Diese Schonhaltung, wie Sie sie beschreiben, kann unterschiedlich motiviert sein, aber sie ist nie gut. Sie ist kontraproduktiv und führt zu noch mehr gegenseitiger Abhängigkeit und Angebundensein. Rücksicht ja, aber sich nicht verstellen, sondern authentisch sein und für seine eigenen Bedürfnissen einstehen, das ist wichtig. In Familien sind regelmäßige Standortbestimmungen unerlässlich, bei ­denen man auch schwierige und tabuisierte Themen aufgreift und sich immer wieder neu abspricht. Wie ist die Situation, welche Erwartungen bestehen seitens der Eltern, an wen konkret und warum? Wie viel ist man bereit zu geben, und was ist überhaupt möglich? Und was ist mit den Geschwistern? Spielt Geld eine Rolle?

Wichtig ist, dass man einen Lageplan macht, mögliche Lösungen bespricht und alsdann verbindliche Absprachen trifft. Weil sich der Gesundheitszustand der Eltern stetig ändert, ist ein regelmäßiger Austausch wichtig und nicht bis zur nächsten Familienzusammenkunft an einem Feiertag zu warten. Feiertage sind definitiv der falsche Zeitpunkt dafür, da erwarten alle Frieden und Harmonie.

Während die einen ihre Eltern in Watte packen, sind die anderen im Unfrieden mit ihnen. Da waren in der Kindheit zu wenig Liebe, Wärme und Akzeptanz da. Wie gehen wir damit um, wenn wir hoffen, das emotionale Loch werde am Ende doch noch gefüllt?

Wir sollten nicht erwarten, dass Eltern frühere Schulden, die sie bei uns haben, begleichen. Späte Einsichten seitens der Eltern mögen kommen, etwa wenn sie im höheren Alter auf ihr Leben zurückblicken und mit sich ins Reine kommen wollen. Selbst noch auf dem Sterbebett. Aber darauf warten würde ich nicht. Ich bin entschieden dagegen, die eigene Befindlichkeit von anderen und von äußeren Umständen definieren zu lassen. Wir müssen Selbstverantwortung übernehmen und nicht immer an dem eigenen „inneren Kind“ hängen. Man braucht es nicht, von den Eltern zu hören: Du bist ein liebes Kind.

Was stört Sie an dem Konzept des inneren Kindes?

Ich halte nicht viel davon. Ja, wir haben prägende Bindungserfahrungen gemacht. Spätestens im mittleren Lebensalter gilt es aber, sich loszulösen von Illusionen wie etwa der Sicherheit durch die Eltern. Derlei Zeug ist nur hinderlich für die persönliche Entwicklung. Genauso wie die Illusion der ewigen Liebe oder Treue. Diese Loslösung ist ein Befreiungsschlag, der einem erwachsenen, reifen Ich mit mehr Realitätssinn und Selbstverantwortung Platz macht. Man kann ja immer noch Träume haben, aber bitte keine Illusionen.

Ständig im Groll zu sein, die Eltern mit Schuldzuweisungen zu überziehen ist zudem aus psychologischer Sicht so was von daneben. Vielleicht tragen sie Schuld, aber will man sich davon lebenslang abhängig machen? Oder doch lieber über den eigenen Schatten springen und ihnen vergeben? Man kann innerlich vergeben, ohne daraus ein Psychodrama zu machen. Das Gegenteil von Vergebung sind Wut und Rachegefühle. Die Eltern brauchen im Alter meine Hilfe? Aus Trotz lasse ich sie im Stich. Aber Achtung: Im Englischen gibt es den treffenden Ausdruck anger kills. Verbitterung und Groll machen krank.

Sie sprachen die Hilfsbedürftigkeit der Eltern an. Was macht diese Situation so konfliktreich?

Die mit dem Alter zunehmende Hilfsbedürftigkeit der Eltern erfordert von den erwachsenen Kindern einen Rollenwandel, der just in einer Phase erforderlich wird, wo sie mitten im Leben stehen und durch eigene Kinder, Partnerschaft und auch durch den Job extrem gefordert sind. Diese neue Situation erfordert eine Neudefinition als erwachsenes Kind, das nicht mehr Hilfe beanspruchen kann, sondern selbst Hilfe geben muss: Man ist nun selbst am Ruder. Vielleicht waren die Eltern bislang der sichere Hafen gewesen und nun können sie uns keinen Rat und Beistand mehr geben. Das löst zumeist intensive und auch ambivalente Gefühle aus. Diese sogenannte filiale Krise erfordert ein neues Rollenverständnis und adaptierte Kommunikationsformen, um die betagten Eltern so zu akzeptieren, wie sie sind, ihnen zu helfen und sich zugleich von ihnen abgrenzen zu können, ohne Schuldgefühle zu entwickeln.

Wovon hängt deren Schwere ab?

Sanft kann die Krise für diejenigen sein, die Wandel als Normalität empfinden. Hat man Angst vor Veränderungen, wird es schwieriger. Die Eltern fallen als Unterstützer aus und mehr noch: Ich muss jetzt liefern. Mitanzusehen, wie die Eltern, die einst so toll dastanden und vielleicht auch Vorbilder waren, nicht mehr diejenigen sind, die sie einst waren, erfordert einen Prozess des Loslassens. Gleichzeitig ist es erschöpfend, die Rolle der betreuenden, pflegenden Tochter – meistens sind es ja die Töchter – lange Zeit zu erfüllen. Die filiale Reife erlangen wir, wenn wir Ambivalenzen akzeptieren und aushalten können. Auf der einen Seite die Eltern zu unterstützen und auf der anderen Seite die eigenen Bedürfnisse und das Leben übereinzubringen.

Wie schafft man hier einen für alle Beteiligten tragfähigen Kompromiss?

Noch vor zwanzig Jahren, als ich die ersten Studien dazu durchgeführt habe, war es eine Selbstverständlichkeit, dass die erwachsenen Kinder einspringen, das wurde in Familie und Gesellschaft erwartet. Nun haben wir eine Generation von Töchtern und Söhnen, die beruflich stärker eingebunden sind, es sind auch weniger Geschwister und Verwandte da, die helfen könnten. Deshalb sollten wir das Thema, das eh schon in der Luft liegt, beizeiten ansprechen. Dann rutschen wir erst gar nicht in Selbstverständlichkeiten hinein, die finde ich nie gut. So ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Großeltern Enkelkinder betreuen. Generationenbeziehungen müssen immer ausgehandelt werden, wenn sie gut sein sollen.

Müssten sich dabei denn nicht auch die Eltern entwickeln?

Unbedingt. Ihre Aufgabe besteht darin, ihren selbstverantwortlichen Teil beizutragen, also die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen, auf sie Rücksicht zu nehmen und Konzessionen einzugehen. Das ist parentale Reife. Dazu gehört, kein return on investment zu erwarten: Ich habe so viel für dich getan, jetzt musst du mir entsprechend viel zurückgeben. Es besteht kein Automatismus des Zurückgebens. Unsere Kinder schulden uns streng genommen nichts. Man ist Eltern geworden, weil man es so wollte und hoffentlich auch Freude daran hatte.

Seit den siebziger Jahren hat die Erziehung einen Liberalitätsschub erfahren. Die Millennials und die folgenden Generationen erfuhren zugewandte Eltern. Wird ihr Verhältnis später besser sein?

Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, weil sie offener sind und mehr miteinander sprechen, wird später das intergenerationelle Verhandeln leichter. Tabuisierte Themen und unausgesprochene Erwartungen treffen heute auf eine höhere Gesprächsbereitschaft. Die intergenerationellen Beziehungen in Familien haben sich eindeutig verbessert, auch wenn das auf der gesellschaftlichen Ebene nicht so aussieht. Da die Geschlechterrollen nicht mehr so starr sind, wird die Care-Arbeit besser aufgeteilt werden, die Männer werden sich stärker engagieren. Die kommenden Generationen der Älteren werden offener für neue Lebensentwürfe sein und sich in neuen Wohnformen zusammentun – auch aus Rücksicht auf ihre Kinder. Das wäre dann parentale Reife vom Besten.

Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern und systemische Familientherapeutin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das mittlere und höhere Lebensalter sowie Generationenbeziehungen.

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Quellen

Pasqualina Perrig-Chiello: Own your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte. Die Psychologie der Lebensübergänge nutzen. Beltz 2024

Pasqualina Perrig-Chiello: In der Lebensmitte. Die Entdeckung des mittleren Lebensalters. NZZ Libro 2011

Pasqualina Perrig-Chiello, Sara Hutchison: Family caregivers of elderly persons: A differential perspective on stressors, resources, and well-being. GeroPsych, The Journal of Gerontopsychology and Geriatric Psychiatry, 23/4, 2010, 195–206

Pasqualina Perrig-Chiello: Strapazierte familiale Generationensolidarität? Pflegende Töchter und Söhne im Spannungsfeld zwischen Sollen und Können. In P. Perrig-Chiello & M. Dubach (Hrsg.). Brüchiger Generationenkitt? Generationenbeziehungen im Umbruch. Zürich: vdf-Hochschulverlag 2012

Pasqualina Perrig-Chiello: Wenn Kinder gross und Eltern alt werden. Familiale Veränderungen im mittleren Lebensalter. In: Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) (Hrsg.): Online-Familienhandbuch 2014

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2024: So wird es leichter mit den Eltern