So wird es leichter mit den Eltern

„Sei doch dankbar!“ Zwischen Generationen herrschen oft Erwartungen. Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer über die Bereitschaft, einander loszulassen

Die Illustration zeigt die Großeltern sowie die Tochter mit einem Baby, dabei kleiner Schatten, die miteinander agieren
Spannungen in der Familien übertragen sich meist von einer Generationen auf die nächste. © Ula Šveikauskaite für Psychologie Heute

Aus der Sicht der Testpsychologie erreicht der Homo sapiens den Höhepunkt seiner Intelligenzentwicklung im Alter zwischen 14 und 16. Gleichzeitig wird er geschlechtsreif und ist körperlichen Aufgaben optimal gewachsen. In diesem Alter waren junge Erwachsene in der weitaus längsten Periode unserer biologischen Geschichte wirtschaftlich selbständig. Sie gingen jagen und sammelten Pflanzen.

Das spiegelte die Ablösung unter sozialen Tieren: Das Milchkalb bleibt in der Nähe der Mutter. Sobald die junge Kuh Gras…

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die Ablösung unter sozialen Tieren: Das Milchkalb bleibt in der Nähe der Mutter. Sobald die junge Kuh Gras fressen kann, schubst die Mutter sie weg. Grasende Tiere halten Abstand, so nutzen sie die Weide optimal. Schimpansenkinder klammern sich in das Fell der Mutter. Schimpansenjugendliche klettern in die Baumkronen und pflücken selbst.

Wo es – wie bei den Tieren – nichts zu erben gibt, gibt es keine würdigen oder unwürdigen Erben. Wo alle ähnliche Ressourcen haben, fällt die drückende Abhängigkeit der Jugend von den Finanztöpfen der Eltern weg. Wo alle gleichsam Kinder der großen Mutter Natur sind, haben Eltern keine Angst, aus ihren Kindern könnte „nichts werden“; Kinder fürchten sich nicht, ihre Eltern zu enttäuschen. Das heißt nicht, dass Zärtlichkeit, Freude und Nähe in den Beziehungen fehlen.

„Mein Kind soll es besser haben“

Wer Tiermütter beobachtet, ob es nun Hündinnen sind, Katzen- oder Affenmütter, findet sachliche Versorgung, aber keine Aufopferung. Ich habe einmal eine Makakenmutter beobachtet, die ihr Junges auf dem Rücken trug. Sie schälte sorgfältig eine Banane und verzehrte diese. Ihr Kind griff öfter nach der Leckerei, wollte etwas abhaben, bekam aber nichts. Am Ende hatte die Mutter die ganze Banane gegessen und ich mein Bild der „Affenliebe“ revidiert. Romantische Gefühle ließen sich nicht in diese Szene hineinlesen. Ich schwankte: Sollte ich die Mutter herzlos finden oder glauben, dass sie ihr Kind besser auf die Zukunft vorbereitete als ihr aufopfernder Gegenpart in der menschlichen Gesellschaft?

Wenn wir die Geschichte der Eltern-Kind-Beziehungen lesen, sehen wir wachsende Dauer und wachsende Intensität. Lange Zeit ergaben sich Geburten ohne jeden Entscheidungsdruck aus einer frühen sexuellen Praxis. Viele Kinder wurden geboren, nicht wenige starben in den ersten Jahren. Sozialverhalten wurde in Spielgruppen gemischten Alters und gemischten Geschlechts eingeübt. Noch vor hundert Jahren hätten sich die meisten Eltern sehr gewundert, der heute selbstverständlichen Erwartung zu begegnen, dass Erwachsene mit Kindern spielen müssen, wenn das Kind sich langweilt.

Mit der bürgerlichen Revolution und der Industrialisierung begann der Prozess der Individualisierung. Während es in traditionellen Kulturen selbstverständlich ist, dass der Sohn des Bauern Bauer wird und der des Fischers Fischer, galt es jetzt, das eigene Glück zu schmieden und erfolgreicher zu werden als Vater oder Mutter. Der elterliche Gedanke „Mein Kind soll es besser haben“ begann eine Rolle im kindlichen und vor allem jugendlichen Erleben zu spielen. Parallel dazu entstand die Haltung, Kinder zu formen, sie zu bilden, sie mit Erwartungen zu besetzen, die über das reale Vorbild der Eltern hinausgingen.

Vermeidung zögert die Eruption nur hinaus

Ein Beispiel für die entstehenden Widersprüche ist der literarisch eindrucksvolle Brief Kafkas an seinen Vater: „Für mich als Kind war aber alles, was Du mir zuriefst, geradezu Himmelsgebot, ich vergaß es nie, es blieb mir das wichtigste Mittel zur Beurteilung der Welt, vor allem zur Beurteilung Deiner selbst, und da versagtest Du vollständig. Da ich als Kind hauptsächlich beim Essen mit Dir beisammen war, war Dein Unterricht zum großen Teil Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch. […] Knochen durfte man nicht zerreißen, Du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja. Die Hauptsache war, daß man das Brot gerade schnitt; daß Du das aber mit einem von Sauce triefenden Messer tatest, war gleichgültig. Man mußte achtgeben, daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren.

Aus Kafkas Text (der Vater hat den Brief nie erhalten; er wurde im Nachlass des Dichters gefunden) wird deutlich, dass Erziehung ein transformierender Prozess ist, der nach beiden Seiten wirkt. Sobald Eltern beginnen, Erwartungen auf ihre Kinder zu richten und Einfluss zu nehmen, beginnen auch die Kinder, sich mit der Überzeugungskraft von Eltern und der Qualität ihrer Fürsorge zu beschäftigen. Wer benotet wird, zensiert den Lehrer.

In den ersten Sätzen des Romans Anna Karenina schrieb Tolstoi, dass alle glücklichen Familien einander glichen, während die unglücklichen auf ihre jeweils eigene Weise unglücklich seien. In glücklichen Familien bleibt jene sprachlose Wärme erhalten, die den frühen Kontakt zu den Kindern prägt, während in unglücklichen Familien die Angst dominiert, dass unerfüllte Erwartungen zu einer Katastrophe führen, die verhindert werden muss. Wenn Eltern und ihre erwachsenen Kinder einander nicht darin unterstützen können, enttäuschte Erwartungen zu ignorieren, miteinander zu feiern und zu genießen, was möglich ist, überschatten angestrengte Vermeidung und Eruptionen von Streit die Beziehungen.

Die Illustration zeigt einen Kaffeetisch, auf dem zwei Tassen stehen, in denen sich Gesichter spiegeln
Zwischen den Generationen einer Familie können Spannungen entstehen. Die Probleme der Eltern zu kennen, kann helfen.
Die Illustration zeigt einen Kaffeetisch, auf dem zwei Tassen stehen, in denen sich Gesichter spiegeln
Zwischen den Generationen einer Familie können Spannungen entstehen. Die Probleme der Eltern zu kennen, kann helfen.

Von Wärme und Schuld

Wärme entsteht in den glücklichen Familien spontan, wenn sich Familienmitglieder treffen, sorgt aber auch dafür, dass sie einander getrost vergessen können, wenn sie gerade nichts miteinander zu tun haben. Die unglückliche Familie hingegen sucht durch perfektionistische und störanfällige Konstruktionen diesen Mangel zu kompensieren. Es werden erschöpfende Telefonate geführt und lange Texte geschrieben, in der Hoffnung, die Gegenseite doch noch zu überzeugen, die Schuld an der mangelnden Wärme auf sich zu nehmen. Tiefpunkte markieren Beschimpfung, Gewalt und Enterbung.

Es macht einen Unterschied (und kann durchaus Ziel familientherapeutischer Arbeit sein), eine nur noch anstrengende Beziehung zu den Eltern abzubrechen. Das sollte als kleineres Übel anerkannt werden, schließt gegenseitigen Respekt nicht aus und konzediert, dass Positionen so weit auseinanderliegen können, dass die Kraft einfach nicht reicht, sie zu versöhnen.

Wer über mehrere Generationen hin therapeutisch tätig war, erkennt charakteristische Veränderungen in der Erwartungsdynamik zwischen den Generationen. Die nach dem Krieg heranwachsenden Kinder erlebten traumatisierte, desillusionierte Eltern, die wenig über Gefühle sprachen und ihre Kinder zu leistungsfähigen Erwachsenen erziehen wollten. Sie standen auf der Seite der Lehrer, wenn es Konflikte in der Schule gab, waren überzeugt, dass Schläge nicht schaden, schließlich waren sie auch selbst geschlagen worden.

Die Konflikte zwischen den Nachkriegskindern und ihren „Nazieltern“ sind legendär. Es genügte, Jeans zu tragen und sich die Haare wachsen zu lassen, schon war man ein Revoluzzer. Die Revolutionäre wurden älter, gründeten Familien und gingen nun „ganz anders“ mit ihren Kindern um, als sie es selbst erlebt hatten. Kinder sollten frei sein, ohne Triebunterdrückung aufwachsen; die Eltern wollten ihnen nahe sein, über Gefühle mit ihnen sprechen, sie frei von autoritärer Bevormundung und Angstmache erziehen.

Stures Beschweigen wird seltener

Die 68er-Eltern ließen sich mit Vornamen anreden, um die Generationenschranke einzuebnen, konnten aber nicht verstehen, dass ihre Kinder nach eigenen Werten suchten, und reagierten bekümmert und gekränkt. Gegen autoritäre Eltern können Heranwachsende kämpfen; von beleidigten fühlen sie sich allein gelassen, reagieren ihrerseits mit Ängsten, Depressionen und Rückzug.Durch den Auftrag, die Fackel des eigenen Aufbruchs weiterzutragen, waren die Kinder der 68er-Generation ebenso überfordert wie durch die oft unbedachte, gelegentlich sexualisierte Nähe zu den Erwachsenen. Wenn wir den Blick auf die Enkel der 68er richten, scheint mir vor allem eine Veränderung bedeutsam zu sein: Es wird in den Familien mehr über Probleme und Beziehungen gesprochen. Das sture Beschweigen von Konflikten, das viele Familien der beiden Jahrzehnte nach 1945 prägte, ist gegenwärtig selten geworden.

Die Kinder der 68er hingegen haben die Nähe zu ihren Eltern nicht selten mit bleibenden Ängsten verarbeitet, sie müssten sich um ihre Eltern kümmern, seien für ihre Stimmungen verantwortlich. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die überzeugt war, ihre Eltern dürften niemals erfahren, dass sie therapeutische Hilfe beanspruche, sie würden zusammenbrechen und denken, sie seien schlechte Eltern. Als sie endlich den Mut fasste, die Wahrheit zu sagen, war der Vater neugierig; die Mutter sprach davon, sie habe selbst an eine Therapie gedacht.

Einer 1970 geborenen Patientin hatte ihre Mutter erzählt, sie habe heftig unter der Kälte und Distanz der Großmutter gelitten und sich deshalb vorgenommen, alles für die eigenen Kinder zu tun. Die überbehütete Tochter litt an einer sozialen Phobie. 35-jährig suchte sie Hilfe. Sie führte ein reduziertes Leben mit viel Arbeit, ohne erotische Kontakte, aber mit als beschämend erlebten Fantasien über einen Vorgesetzten, mit dem sie sich Liebesszenen ausmalte. Tägliche Telefonate mit der Mutter empfand sie als qualvolles Rollenspiel.

Wie unterirdischer Vulkanismus, der nur gelegentlich feurig ausbricht, aber durch giftige Dämpfe den Bewohnerinnen zu schaffen macht, beherrschen Dankesschulden die unbewusste Dynamik unglücklicher Familien. Sie speisen sich aus dem biblischen Gebot, die Eltern zu „ehren“; selten fällt ein so klares Wort wie: „Ich habe euch nicht darum gebeten, mich in die Welt zu setzen!“ Grandios erfasst hat Cartoonist F.K.Waechter die Ironie der Dankbarkeitsansprüche mit der Zeichnung einer dicken Henne, die sich von einem ausgemergelten Hahn tragen lässt: „Denk immer daran, dass ich dich unter Schmerzen geboren habe!“

In tiefer Dankbarkeitsschuld

Im Alltag bewahrheitet sich Goethes Satz, nur starke Menschen könnten dankbar sein. Wo sich jemand in einer schwachen Position fühlt und überzeugt ist, zu kurz gekommen zu sein, führt Dankbarkeitsdruck zu Aggression. Wer mir von seinem Überfluss etwas abgibt, weckt dann nur Neid auf seinen Reichtum. Sobald Eltern in sich die Fantasie pflegen, viel, ja „alles“ für ihre Kinder getan zu haben, konstruieren sie eine Verpflichtung, die sich nicht einlösen lässt.

Die Analyse der Dankbarkeitsgefühle zwischen Eltern und Kindern zeigt die große seelische Bedeutung solcher Erwartungen ebenso wie den Schmerz, wenn sie versagt bleiben. Eine realistische Perspektive legt nahe, Erwartungen nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart und die Zukunft zu gründen. Der Appell an verjährte und möglicherweise imaginäre Dankesschuld belastet eine Beziehung.

Die Fantasie der Dankbarkeit hilft uns, primitive Formen des Egoismus zu reiferen umzuformen. Die Menschheit wäre ausgestorben, wenn Eltern nicht dazu fähig wären, sich illusionäre Erwartungen darüber zu machen, wie ihre Kinder ihnen dafür danken würden, dass sie diese in die Welt gesetzt haben. Das Paradox der glückenden Eltern-Kind-Beziehung liegt in der Enttäuschung dieser Erwartung und in ihrer überraschenden Erfüllung zugleich. Wenn Eltern lernen können, sich über die Andersartigkeit ihrer Kinder zu freuen und liebevoll zu verfolgen, wie diese wohlversorgt und unbekümmert von ihnen weg hinaus ins Leben gehen, werden sie sich wundern, wie dankbar diese Kinder später sein können; wer hingegen Undankbarkeit anklagt, muss sich nicht wundern, wenn er sie auch findet.

Denn die Dankesschuld gefährdet das Wesen der Dankbarkeit. Schuldgefühle engen die seelische Bewegungsfreiheit ein. Auf alle Versuche, sie zu knebeln, antwortet die Psyche mit Aggression. Einsichtige Eltern werden zugestehen, dass sie ihre Kinder nicht uneigennützig in die Welt gesetzt haben. Einsichtige Kinder werden, sobald sie sprechen, denken und vergleichen können (also von jenem Alter an, das Analytiker das ödipale nennen), ihre Eltern mit anderen Eltern vergleichen und aus diesem Vergleich ableiten, ob sie froh und dankbar über ihre Eltern sein wollen oder ob sie lieber andere Eltern hätten, die Eltern also im Grunde sich bei dem Kind dafür entschuldigen müssten, dass sie es sind, mit denen es sich abfinden muss.

Mit wenigen tiefen Gefühlen wird so oft gemogelt wie mit der Dankbarkeit. Wer schwanger ist und eine Abtreibung scheut, kommt um eine Geburt nicht herum. Muss das Kind dankbar sein? „Ich habe dir das Leben geschenkt!“ So lässt sich der Fortpflanzungsvorgang beschreiben, aber nur ein naives Gemüt wird gläubig lauschen und sich nicht beispielsweise fragen, ob wir unserem Magen dankbar sind, dass er uns den Appetit schenkt.

Liebe nährt sich von Liebe

Während Klagen über missratene Kinder so alt sind wie die ägyptischen Hieroglyphen, sind Klagen von Kindern über Erziehungsfehler und Zuwendungsmängel der Eltern recht neu. Die Kinder vergleichen ihre Eltern mit dem Bild, das sie von „wirklich guten Eltern“ haben. Sie gewinnen diese Bilder aus populären Texten über ein in ihnen fortlebendes „inneres Kind“ und überzeugen sich, dass die Probleme, die sie als Erwachsene haben, mit der Differenz zwischen den realen Eltern und diesem Idealbild zusammenhängen.

Damit sind die Eltern nicht in der Vergangenheit und in der äußeren Welt angesiedelt. Sie halten einen Brückenkopf im Inneren des Erwachsenen, er fühlt sich von ihnen kontrolliert, zur Rechtfertigung verpflichtet. Diese imaginäre Einflussnahme ruft nach Verteidigungsmaßnahmen. Die Eltern ahnen oft nicht, welche Macht ihnen zugeschrieben wird. Sie sind ratlos angesichts von Aktionen des erwachsenen Kindes, die sich gegen eine Besatzungsmacht richten, von der die Eltern gar nicht wissen, dass sie existiert. Die häufigste dieser Aktionen ist der Kontaktabbruch; Kafkas Brief war eine Variante, die zugleich den Vater schonte und den Sohn entlastete.

Schuldgefühle beginnen eine unheilvolle Rolle zu spielen. Wenn ein Heranwachsender wenig Freunde hat und schlechte Schulleistungen bringt, sind die Eltern enttäuscht – sie haben doch dem eigenen Kind mehr gegeben, als sie selbst als Kinder bekommen haben, und so wird es ihnen gedankt! Auch das Kind fühlt sich schuldig, die Eltern zu enttäuschen. In der Verarbeitung dieser Schuldgefühle gelingt es nicht mehr, die Aggressionen zu binden. Die Heranwachsenden entwerten die Eltern, um sich vor deren Forderungen zu schützen. Die Eltern erschrecken vor ihren Fantasien, genauso autoritär und entwertend mit den Kindern umzugehen, wie sie es von ihren Eltern erlebt haben.

Wer Konflikte zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern untersucht, erlebt immer wieder den Mangel an der Bereitschaft, einander loszulassen. Die Affenmutter, die das halbwüchsige Kind wegschubst, wenn es ihre Milch will, hat es leicht, eindeutig zu sein. Menschenmütter haben es sehr schwer, sich nicht schuldig zu fühlen, wenn ein erwachsenes Kind klagt, sie hätten es nicht hinreichend versorgt. Umgekehrt fühlen sich Kinder schuldig, wenn sie das Leiden ihrer Eltern erleben.

Es ist leicht, sich loszulassen, wenn beide Seiten sicher sind, gut füreinander gewesen zu sein. Aber gerade in den psychologisch anspruchsvollen, gebildeten Schichten fällt Unbefangenheit schwer. Das Sprichwort, dass Liebe sich von Liebe nährt, gilt auch für die Elternbeziehung: Wenn ein Kind der Mutter die Sicherheit gibt, sie sei eine gute Mutter, kann die Mutter dem Kind die Sicherheit geben, es sei ein gutes Kind. Das gilt auch umgekehrt.

„Ich glaube, du hast recht!“

Ich bin während vieler Jahre therapeutischer Arbeit häufig unglücklichen Erwachsenen begegnet, die entweder mit ihren Kindern oder mit ihren Eltern höchst unzufrieden waren. Manche hatten den Kontakt abgebrochen; andere erlebten jede Begegnung spannungsreich und wären lieber an jedem anderen Ort gewesen, als die Eltern zu besuchen, mit ihnen einen Geburtstag oder Weihnachten zu feiern. Was mir immer wieder auffiel, war eine obstinate Weigerung beider Seiten, sich mit der Realität ihres Gegenübers abzufinden. Menschen sind sehr verschieden, manche sind schweigsam, andere gesprächig, manche sind sparsam, andere großzügig, manche kontrolliert, andere impulsiv. Aber was veranlasst Familienmitglieder, sich Jahr für Jahr mit ihren Angehörigen zu treffen und mit stets erneuter Empörung festzustellen, diese Frau, dieser Mann sei schon wieder ganz genauso gewesen wie letztes Mal, habe auch diesmal die Unerträglichkeit nicht ablegen können?

Ich habe mich manchmal gefragt, warum ich weder mit meiner Mutter (ich bin Halbwaise) noch mit meinen Kindern solche Erfahrungen machen konnte. Warum hatte ich immer das angenehme, sichere Gefühl, ich könne mit ihnen umgehen? Ich machte mir keine Gedanken, bereitete mich nicht vor, schrieb keine langen Briefe, dass sich unsere Beziehung ändern und bessern müsse. Das Verdienst meines Lehranalytikers war es nicht, denn es war schon vorher so und ist auch nachher so geblieben.

Kann ich mir das erklären? Ich war nicht mit allem einverstanden, was meine Mutter mir vermitteln wollte, aber ich habe viel Brauchbares bekommen und konnte mich grundsätzlich darauf verlassen, dass sie für mich konstant und sozusagen berechenbar fürsorglich war. Eine charakteristische Szene: Als ich ihr erzählte, dass ich mich scheiden lassen werde, sagte sie in ihrer energischen Art, ich hätte mir doch das mit dem Heiraten genauer überlegen müssen und solle jetzt gefälligst durchhalten. Ich entgegnete: „Ich glaube, ich habe mehr Eheerfahrung als du, halte dich da raus!“ In der Tat war sie erst ein Jahr verheiratet, als der Krieg ausbrach; mein Vater wurde sofort eingezogen und war bis zu seinem Tod nur noch auf Fronturlauben zu Hause. Später war sie allen Männern aus dem Weg gegangen. Sie dachte kurz nach, nickte und sagte: „Ich glaube, du hast recht!“

Reine Harmonie ist destruktiv

Was mir bei den Patientinnen und Patienten, die in ihren Elternbeziehungen festhängen, besonders auffällt, ist etwas wie die Unterdrückung ihrer biologischen Überlegenheit. Als ich Kind war, war meine Mutter mächtig und stark; als ich erwachsen wurde, war sie kleiner und schwächer als ich, meine Gefühle entwickelten sich hin zu einer Art ritterlicher Fürsorge. Obwohl sie mir in einigen intellektuellen Bereichen überlegen war und blieb, fühlte ich mich stärker als sie. Sicher war auch das Bündnis mit meinem zwei Jahre älteren Bruder hilfreich. Ich erinnere mich, wie wir gemeinsam kicherten, als wir hörten, dass unsere Mutter in einem katholischen Erwachsenenbildungswerk Vorträge über Erziehung halten sollte. Unsere Mutter! Expertin für Erziehung? Geht’s noch?

Jahre später erlebte ich eine ähnliche Szene mit vertauschten Rollen. Meine jüngste Tochter sagte, als sie zum ersten Mal die Realität des Therapeutenberufs durchdacht hatte: „Papi – die Leute zahlen wirklich dafür, dass du mit ihnen redest?“ Dieses Nichternstnehmen der Eltern scheint mir eine große Wohltat für die kindliche und adoleszente Welt. Es bereitet dem Humor den Weg, den ich schon lange für ein unverzichtbares Medium halte, um mit den drei von Freud identifizierten „unmöglichen Berufen“ umzugehen, als da sind: das Regieren, das Erziehen und die Psychoanalyse. Humor ermöglicht Wärme in Beziehungen, die weder auf Erwartungen verzichten noch sie perfekt erfüllen können.

Eltern sein, Kind sein ist ein Rollenspiel, das schon früh Distanz braucht, um rechtzeitig in Verhandlungen „auf Augenhöhe“ überführt zu werden. In den Fällen, in denen das nachhaltig misslingt, wird nicht etwa zu viel gestritten, gibt es nicht zu viele Enttäuschungen und Differenzen. Im Gegenteil: Destruktiv ist der Anspruch, es müsse reine Harmonie und große Nähe herrschen, alles andere sei Verrat an der von Schuld- und Schamgefühlen bewachten „richtigen Familie“. Autonomie ist nun einmal kein zärtliches Geschenk liebevoller Eltern; sie will erkämpft sein.

Takt ist gefragt, Besserwisserei gefährlich

Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kindern entsteht aus der Unfähigkeit, sich zu versöhnen und auch einmal über unerfüllbare Erwartungen zu lachen. In der Familientherapie gelingt es manchmal, mehr Frieden zu finden, wenn Konfliktparteien erkennen, dass nicht aus bösem Willen, sondern aus schlichter Überforderung heraus gehandelt wurde. Es ist billig, Einsicht und Verständnis zu fordern. Wenn jedoch diese Forderung das eigene Selbstgefühl zu beschädigen droht, wird sie abgewehrt und die „Schuld“ daran der Gegenseite zugeschrieben.

Die moderne Gesellschaft mit ihren hektischen Veränderungen hat dazu geführt, dass Familien auch bei gutem Willen die Unterschiede in den Wertvorstellungen nicht mehr verkraften. Takt ist gefragt, Besserwisserei ist gefährlich. Wenn Eltern und Kinder (oder Geschwister) nicht mehr gerne zusammen sind, weil sie ihre Enttäuschungen nicht vergessen können, ist der Rückzug auf seltene, zur Diplomatie heruntergekühlte Kontakte vernünftig und gewiss kein Versagen, über das man sich schämen muss.

Es ist ein Verlust, auf jeden Fall. Unsere Eltern sind ­unsere eigene Vergangenheit, unsere Geschichte, und wer sich nicht für Geschichte interessiert, versäumt ein großes Stück möglichen Weltverständnisses. Unsere Kinder sind unsere Zukunft; sie bringen sie uns ins Haus, und es ist ein Jammer, wenn uns nichts Besseres einfällt, als ihnen klarzumachen, dass das Neue daran nicht gut und das Gute daran nicht neu sei.

Ödipale Phase

Auch phallische Phase nannte Sigmund Freud die dritte der insgesamt fünf psychosexuellen Entwicklungsstufen, die mit 18 Jahren enden. Im Alter von vier bis sechs Jahren kommt es zu einem Ödipuskonflikt, bei dem Jungen mit ihrem Vater in ein Konkurrenzverhältnis um die Gunst der Mutter geraten. Mädchen entwickeln in der Phase einen Penisneid. In dieser Zeit erkunden die Kinder ihre Genitalien und entwickeln ein Gespür für die eigene Sexualität.

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor, Lehranalytiker und Familientherapeut in München.

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Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind. Psychogramm der Deutschen nach 1945. Herder 2014

Wolfgang Schmidbauer: Böse Väter, kalte Mütter? Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen. Reclam 2024

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2024: So wird es leichter mit den Eltern