Sicheres Nest oder freie Wildnis?

Therapiestunde: Die 21-jährige Lara zieht sich sozial zurück. Die Therapeutin ahnt Maternal Gatekeeping hinter dem engagierten Verhalten der Mutter.

Die Illustration zeigt eine Frau im Vogelhaus, die herausschaut, während eine andere Frau kurz vor dem Abflug ist und dabei skeptisch schaut
Im Nest der Mutter hat sie alles, was sie braucht. Wird sie den Sprung in die eigene Identität wagen? © Michel Streich für Psychologie Heute

Wie definieren wir Generationen? Nach Jahren, Ereignissen oder Eigenschaften? Heute geht es um eine junge Klientin: Lara S.*, 21. Aus populärwissenschaftlicher Perspektive mag man sie der sogenannten Generation Z zuordnen. In der psychotherapeutischen Praxis ist sie kein Einzelfall, sie steht exemplarisch für eine ganze Gruppe von jungen Klientinnen und Klienten, geboren zwischen 1997 und 2012, die sich in ihren Themen auffällig ähneln.

Lara S. bucht sich in meiner Online-Terminbuchungsfunktion ein…

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die sich in ihren Themen auffällig ähneln.

Lara S. bucht sich in meiner Online-Terminbuchungsfunktion ein Erstgespräch, welches in meiner Praxis immer 100 Minuten in Anspruch nimmt. Sich online zu bewegen ist für Lara S. so selbstverständlich wie der morgendliche Gang ins Bad, bedeutet jedoch offenbar nicht zwangsläufig eine Verbindlichkeit, den Termin auch wahrzunehmen.

Also rufe ich die Klientin zu dem versäumten Termin an und frage nach. Sie entschuldigt sich verschlafen, den Termin vergessen zu haben. In mir steigt die Verärgerung einer Mutter hoch, die ich von meinen morgendlichen „Steh auf, wir müssen los“-Aufforderungen meinem Sohn gegenüber kenne. Der tiefenpsychologische Therapeutenanteil in mir macht sich eine mentale Aktennotiz.

Jeder Satz ist eine Frage

Zum zweiten vereinbarten Termin (später am Vormittag) kommt Frau S. in die Praxis, begleitet von ihrer Mutter, die als Erste das Wort ergreift und sich erkundigt, ob sie an dem ersten Gespräch teilhaben könne. Ich weise darauf hin, dass ich allein mit der Klientin sprechen möchte, und mache mir eine weitere mentale Notiz, weil ich gefühlt von Mutter zu Mutter spreche.

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Ich spüre den Impuls, die Klientin zu duzen. Die zierliche und blasse junge Dame wirkt unsicher, spricht mit leiser Stimme, trägt aber einen Kleidungsstil, der an Hip-Hop-Musikvideos aus den 1990er Jahren erinnert. Im Gegensatz zu diesem klaren Fashion-Statement beginnt Lara S., ihr Problem zaghaft zu beschreiben, am Ende eines jeden Satzes hebt sie leicht die Stimme, als wäre er mit einem Fragezeichen versehen.

Sie berichtet von Antriebslosigkeit, wenig Alltagsstruktur, von Ängsten, sozialem Rückzug und einem geringen Selbstwertgefühl. Sie pflege Freundschaften vordergründig über soziale Medien, gehe aber kaum raus. Nach dem Abitur habe sie Praktika im Modebereich und eine kaufmännische Ausbildung angefangen, beides aber nach wenigen Monaten abgebrochen. Sie habe sich mit den Routine­aufgaben unter- und durch Leistungsdruck überfordert gefühlt und suche nach einem Beruf, der sie innerlich erfülle. Sie lebe in ihrem Kinderzimmer und fühle sich nicht gedrängt, ein eigenständiges Leben aufzubauen.

Bitte kein fades Arbeitsleben

Ich erinnere mich zurück an diesen schaurigen und aufregenden Moment, als ich nach dem Abitur zum Studium in eine weit entfernte Stadt gezogen bin, und frage mich, ob der Funke des naiv-ungestümen Befreiungs- und Entfaltungsschlags junger Erwachsener in ihrer Sturm-und-Drang Zeit auch in dieser jungen Frau zu finden sein mag. So stimme ich mich ein auf die Frage nach der wackeligen Ich-Entwicklung der hilfesuchenden jungen Frau in einer Welt, in der es kaum etwas anderes zu geben scheint als Selbstoptimierung und unendliche Optionen.

Ein zielgerichtetes Ich scheint in dieser globalisierten digitalen Welt ebenso schwierig und unübersichtlich wie grenzenlos variabel zu sein. Da wo die meisten entwicklungspsychologischen Stufenmodelle die teils schmerzhaft vehemente Abgrenzung von der vertrauten Sicherheit des Elternhauses als notwendiges Mittel zur Entfaltung einer eigenen Identität verstehen, scheint die innerpsychische Dynamik hier nach anderen Regeln zu verlaufen.

Ich versuche, die Klientin in ihrer Wertestruktur näher zu greifen, und frage sie, was für sie besonders wichtig ist und welche Ziele sie sich für ihre Zukunft vorstellt. Die Klientin beschreibt ein schönes Bild einer liberal gestalteten Arbeitswelt mit flexiblen Arbeitszeiten und -orten, interessanten Projekten und Begegnungen und ausreichend Zeit für Freizeit. Es mache ihr nur große Sorgen, dass sie bisher keinen Berufsbereich gefunden habe, der diesen Vorstellungen tatsächlich entsprochen habe. Sie wolle auf keinen Fall ein fades Leben führen, wie sie es bei anderen beobachte.

Ich frage, ob sie bereit sei für the long distance, sich anzustrengen und klein anzufangen, und erhalte die leise Antwort: „Ja…? Wenn es sich lohnt…?“

Zurückgezogene Bezugsquelle für Selbstwert

Laras Mutter erzählt in einem gesonderten Termin, dass sie seit dem Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder die Rolle der Mutter und Hausfrau mit Hingabe erfüllt habe, da sie ihren Kindern all die Liebe habe geben wollen, die sie selbst von ihrer kühlen Mutter kaum erfahren habe. Lara selbst berichtet von einer stetigen Fürsorge und Unterstützung seitens der Mutter, die stets ansprechbar sei und ihr in allen Lebenslagen helfe. Ihr Vater indes habe immer viel gearbeitet und sich nach der Arbeit oft zurückgezogen. Das Verhältnis zu ihm sei distanziert, eigentlich kenne sie ihn kaum, und wenn er da sei, dann sei er oft nicht gut gelaunt.

Auch die Ehe der Eltern sei eher eine schweigende Toleranz des geteilten Wohnraumes, liebevolle Gesten gebe es nicht. Ich komme nicht umhin zu bemerken, wie viel Raum die mütterliche Wärme, Nähe und Sicherheit im Leben der Klientin einnimmt und wie wenig der Vater seine Rolle als Vater oder Ehemann zu übernehmen scheint. Gerade während der Pubertät ist der Vater als die erste relevante gegengeschlechtliche Bezugsperson für heranwachsende Frauen eine wichtige Bezugsquelle von Selbstwert. So ist die nichtsexuelle Anerkennung der positiven Attribute der äußerlich und innerlich veränderten Tochter ein wichtiger Grundbaustein für eine gesunde Geschlechtsidentitätsentwicklung, ganz unabhängig von der Identitätsausprägung.

Lieber das mögliche Leben auf Netflix

Ich erarbeite mit der Klientin ein Erklärungsmodell für ihre Schwierigkeiten: Die Mutter – selbst stark identifiziert mit der mütterlichen Fürsorge als Reaktion auf eigene emotionale Entbehrungen in der Kindheit – fokussiert wahrscheinlich all ihre emotionalen Energien auf ihre Kinder, insbesondere in einer erkalteten Ehe. Sie meint es gut und unterstützt, wo sie nur kann. Ungeachtet der Notwendigkeit, bereits im Kleinkindalter für Anreize einer eigenständigen Selbstregulation zu sorgen, nimmt sie ihren Kindern Herausforderungen ab und badet sie in Sicherheit und Planbarkeit.

Der Vater fügt sich in das noch dominante Bild des Familienversorgers ein und findet seine emotionale Vaterfunktion verloren in dem sogenannten maternal gatekeeping: Das Phänomen beschreibt das gesteigerte Kontrollbedürfnis („Türstehen“) von Müttern, die durch abwehrendes Verhalten ihrem Partner die Beziehung zum Kind erschweren. Und Laras Vater führt die generationale Linie der passiven Väter ohne großen Kampf fort.

Das heranwachsende Kind wächst auf in einer vollkommenen häuslichen Sicherheit, in der die anstrengende Welt dort draußen nie selbständig bewältigt werden muss; der abwesende Vater und archetypische Vater-Anteil in der Mutter vergessen, das Austesten und Ausgrenzen der eigenen Fähigkeiten und Widerstandskraft durch eigenständige Problembewältigung zu fördern. Die Frustrationstoleranz und Selbstdisziplinierung verkümmern im Kontext der dopaminsüchtigen, konsumgetriebenen Social-Media-Realität.

Nun steht die junge Dame mit der Option, die gesamte Welt aus sicherer Entfernung betrachten zu können, vor der Wahl, das ungemeine geistige Potenzial ihrer Generation zu nutzen und den virtuellen sicheren Raum mit anstrengender, aber lohnender Lebensrealität zu füllen, sich durch therapeutisches Reparenting aus dem sicheren Nest und in die freie Wildnis der globalisierten Welt schier unendlicher Möglichkeiten bewegen zu lassen und den Schritt in ein eigenermächtigtes Leben zu wagen. Oder aber zu Hause das mögliche Leben auf Netflix zu verfolgen. Die Klientin ist nicht wiedergekommen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Daniela Botz ist niedergelassene Psychotherapeutin. Demnächst erscheint ihr zusammen mit Karolina Friese verfasstes Buch Wie der Körper die Seele heilt bei Junfermann.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die Klientin erkennbar machen könnten, wurden verändert

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2024: Ich bin mehr als die Krisen, die hinter mir liegen