Traumatische Geburt

Immer wieder berichten Frauen von Traumata bei der Geburt. Vereinzelt mag das am Arzt liegen. Doch es gibt auch andere Gründe ​

Die Illustration zeigt eine Frau, die erschöpft und traumatisiert ihr Baby im Arm hält
Der Geburtsschmerz hat auf einer Skala von 1 bis 10 die 10. Da gibt es nichts zu beschönigen. Doch genau das tut unsere Gesellschaft. © Marianna Gefen

Es war eine „fürchterliche erste Geburt mit extremen Schmerzen, die in einem ungewollten Kaiserschnitt endete“, erinnert sich Mascha Grieschat. Die zierliche Frau mit langen braunen Haaren, dreifache Mutter und Lehrerin, gründete auf diese Erfahrung hin 2013 die „Initiative für eine gerechte Geburt“ und startete die Kampagne „Roses Revolution“ in Deutschland. Im Rahmen dieser weltweiten Bewegung legen Frauen, die Gewalt unter der Geburt erlebt haben, jeweils am 25. November eines Jahres eine rote Rose vor…

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Jahres eine rote Rose vor den betreffenden Kreißsaal. Grieschat brachte damit hierzulande maßgeblich eine gesellschaftliche Diskussion über die Zustände während der Entbindung in Gang. Fast 15000 Abonnenten und Abonnentinnen weist die Facebookseite von Roses Revolution Deutschland auf. Es sind also beileibe nicht nur einzelne Eltern, die sich der fundamentalen Kritik anschließen.

„Ich bekomme durchgehend schlimme Geschichten geschildert, viele hundert Mails pro Jahr“, sagt Grieschat. „Schockierende Berichte über den Kristellerhandgriff beispielsweise.“ Bei dieser Technik presst die Geburtshelferin ihre Hand außen auf den Bauch der Gebärenden, so soll das Kind schneller durch den Geburtskanal gelangen. „Der Handgriff ist eigentlich für Mehrfachgebärende gedacht, deren Gebärmuttermuskulatur erschlafft ist. Aber er wird bei Erstgebärenden zur Beschleunigung der Geburt angewandt. Dabei passieren schlimmste Verletzungen“, kritisiert Grieschat. Kaiserschnitte würden zu oft ohne Aufklärung und Mitsprache der Gebärenden entschieden, ebenso Dammschnitte. Und in den meisten Krankenhäusern betreue ein Geburtshelfer mehrere entbindende Frauen gleichzeitig. „In einem Moment größter Schutzbedürftigkeit werden Frauen allein gelassen. Das ist strukturelle Gewalt und kann traumatisch sein“, sagt sie.

Nun ist die Geburt für gewöhnlich ein Lebensereignis, dem werdende Eltern mit Vorfreude entgegensehen. Aber natürlich gibt es Risiken, und so wird die Freude vielleicht von einem leisen Bangen begleitet. Auch der Schmerz löst eine diffuse Furcht aus, vor der ersten Geburt ist er eine unbekannte Größe und vor jeder weiteren rufen die vorausgehenden Geburten die Erinnerung daran wach. Auch von der Wochenbettdepression mag man schon gehört haben. Dass das Erleben im Kreißsaal traumatisch sein könnte, spielt im Vorfeld meist eine untergeordnete Rolle.

Eine „gewaltige“ Erfahrung

Traumatische Geburtsverläufe untersuchen nur einige Dutzend Studien weltweit. Dabei zeigte sich, dass traumatische Symptome nach der Geburt gar nicht so selten sind. Die mit Abstand größte Erhebung aus Deutschland ist schon mehr als zwei Jahrzehnte alt, seitdem mag sich einiges geändert haben, doch da neuere Erhebungen hierzulande nicht folgten, berufen sich viele Expertinnen nach wie vor darauf. Die Universitätsfrauenklinik Bonn hatte 424 Frauen befragt, die in den Jahren 1997 und 1998 entbunden hatten. Jede sechste kämpfte im Wochenbett mit Ängsten infolge der Entbindung. Etwa jede achte erlebte die Geburt im Geiste noch einmal – das zeugt von der Wucht des Ereignisses, losgelöst davon, ob sie schön oder schlimm verlief. Fast genauso viele fühlten sich niedergeschlagen und kraftlos. Ein kleinerer Anteil hatte Albträume von der Geburt.

Einen ähnlichen Eindruck gewann die Krankenschwester und Gesundheitswissenschaftlerin Sarah De Schepper vom Karel de Grote University College in Antwerpen 2016. Sie befragte 229 Gebärende in der ersten und dann noch mal in der sechsten Woche im Wochenbett nach ihrem Befinden. Ein Viertel stand kurz nach der Entbindung unter deren emotionalem Echo: Die Frauen erlebten diese in Episoden wieder, hatten Flashbacks oder wurden in Träumen davon eingeholt. Bis zur sechsten Woche schrumpfte der Anteil derer, die diese belastenden Erinnerungen heimsuchten, auf 20 bis 13 Prozent.

Die Angaben der Mütter unterstreichen, dass „eine Geburt immer eine gewaltige Erfahrung ist“, sagt Almut Dorn. Die Psychotherapeutin promovierte 2003 basierend auf der Bonner Erhebung zu den Ursachen des Geburtstraumas. Mittlerweile bietet sie in ihrer Praxis in Hamburg Psychotherapie für Betroffene an sowie Supervision für Hebammen: „Die Geburt ist mit Schmerzen und Überforderung verbunden – schon aus anatomischen Gründen.“ Das Baby mit einem Kopfumfang von durchschnittlich 35 Zentimetern muss mit Muskelkraft aus der Gebärmutter und durch den Geburtskanal ans Licht der Welt gepresst werden. Das ist eine körperliche und seelische Grenzerfahrung, die regelhaft viele Stunden einnimmt. Üblicherweise erholt man sich davon jedoch wieder. Manchmal kann sich die Frau danach sogar gestärkt fühlen. Nicht normal ist, wenn sich traumatische Symptome, zum Beispiel Ängste und wiederkehrende Erinnerungen, zur dauerhaften Krankheit entwickeln, einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

Die kalte Liege, das Klappern des OP-Bestecks

Blickt man genauer auf den Begriff des Geburtstraumas, fällt auf, dass zwar viele Frauen (etwa jede fünfte) nach einer Geburt traumatische Symptome beklagen, aber nur wenige eine manifeste PTBS entwickeln. Je nach Studie gibt es andere Zahlen: In der Bonner Erhebung war es nur ein Prozent der Frauen, die die Diagnosekriterien erfüllten. Als der Gynäkologe Christian Marth von der Universitätsklinik für Frauenheilkunde Innsbruck 2012 eine Umfrage unter Frauen machte, die bereits mehrfach entbunden hatten, zeigten acht Prozent von ihnen eine PTBS. Zuletzt legten britische Forscher 2016 eine Gesamtschau vor: Sie analysierten 50 Studien aus 15 Ländern an etwas mehr als 21000 Frauen. Etwas mehr als drei Prozent erlitten infolge der Geburt eine PTBS. Die Wochenbettdepression ist etwa viermal so häufig.

„Typisch für eine traumatische Geburtserfahrung sind Nachhallerinnerungen“, erklärt Dorn. Der Verlauf der Entbindung taucht in Bildern immer wieder so eindrücklich vor dem geistigen Auge auf, dass es sich für die Frauen so anfühlt, als würden sie die Geburt noch einmal erleben. Sie spüren wieder die kalte OP-Liege an ihrem Rücken, hören das Klappern des OP-Bestecks für den Dammschnitt. Sätze, die eine Hebamme oder ein Arzt sagte, ertönen in ihrem Kopf. Sie müssen sich vielleicht sogar wieder erbrechen oder bekommen Atemnot wie unter der Geburt. In der Nacht plagen sie Albträume mit dem einschneidenden Erlebnis.

Frauen, die die Entbindung als Grauen erlebt haben, vermeiden es, darüber zu sprechen, das nennt Dorn als ein weiteres Charakteristikum. Sie wollen auch nicht die Geburtsberichte anderer Frauen hören und bleiben mitunter Krabbelgruppen und anderen Treffen fern, bei denen diese ein Thema sein könnten. Einige umfahren weiträumig das Krankenhaus, in dem ihr Kind zur Welt kam, um dem Schrecken zu entrinnen. Hinzu kommen Symptome, wie sie auch bei einer Wochenbettdepression auftreten: ausgeprägte Ängste und Depressionen, das Gefühl, keine gute Mutter zu sein, der Rückzug von Freundinnen und Familie. „Das Gefährliche ist: Im schlimmsten Fall vermeiden sie das Kind als Traumaverursacher“, führt Kerstin Weidner aus. Sie ist Professorin für Psychosomatik und Psychotherapie und erforscht am Universitätsklinikum in Dresden Traumata im Kontext von Entbindungen. „Die betroffenen Mütter versorgen zwar ihr Baby körperlich, entwickeln aber keine gute emotionale Bindung.“

Das subjektive Geburtserleben

Aber woran liegt es nun, wenn eine Geburt ein Trauma hinterlässt? „Was objektiv passiert ist, also dass eine Saugglocke zum Einsatz kam, es hektisch wurde oder gar ein Notkaiserschnitt gemacht wurde, deckt sich nicht unbedingt mit dem traumatischen Erleben der Frauen“, sagt Dorn. Die dokumentierten Eingriffe erklären die psychische Verfassung der Frauen nicht in dem Maße, wie man es annehmen könnte. Das konnte sie in ihrer Doktorarbeit an den 424 Frauen, die an der Universitätsklinik Bonn entbunden hatten, nachvollziehen. „Wir haben die Mutter, die ganz dankbar ist, obwohl sogar die Geburtshelfer die Geburt schrecklich fanden. Und wir haben Frauen, bei denen das medizinische Personal den Verlauf als ganz normal wahrgenommen hat, die sich aber völlig im Stich gelassen und wie ,ein Stück Fleisch‘ behandelt fühlen“, berichtet die Psychologin.

Entscheidend ist das subjektive Geburtserleben, also die Wahrnehmung der Frau. Empfand sie die Entbindung als schrecklich, ist die Gefahr einer traumatischen Erfahrung besonders groß. Das subjektive Erleben sagt den Studien zufolge am ehesten eine posttraumatische Belastungsstörung vorher. „Der Schlüssel ist dabei die Betreuung“, führt Dorn aus. „Wenn die Frau sich gut umsorgt gefühlt hat, können heftige medizinische Eingriffe schlicht als notwendig erlebt werden. Hat die Frau sich schlecht betreut gefühlt, rutscht das gesamte Erleben auf die negative Seite.“ Frauen, die eine traumatische Geburt schildern, empfanden sich im Kreißsaal hilflos und ausgeliefert, ergänzt Weidner. Der Verlust der Kontrolle bedingt dann ein insgesamt negatives Geburtserleben. Somit kommt es sehr wohl auf den Verlauf der Geburt an, aber vornehmlich auf den Umgang und die Fürsorge, weniger auf die Eingriffe an sich.

Problematisch sei, so Dorn, dass viele Frauen die Geburt heutzutage überwiegend allein oder nur mit ihrem Partner zubringen, weil die Hebammen mehrere Gebärende gleichzeitig betreuen und nebenbei noch dokumentieren. Dann und wann schauen sie nach der Schwangeren und reden in kurzer Zeit das Nötigste. „Ich erlebe, dass die Frauen einzelne Sätze dann minutiös wiedergeben“, so Dorn. „Aber vonseiten der Geburtshelfer wird dies oft nicht bedacht und nicht empathisch genug kommuniziert.“ Es mache einen großen Unterschied, ob diese sagen: „Ich gebe Ihnen noch eine Stunde und dann schauen wir mal“, oder: „Ich habe den Eindruck, Sie sind sehr erschöpft. Sollen wir gemeinsam über einen Kaiserschnitt nachdenken?“

Ein hilfreiches Nachgespräch

Kerstin Weidner erweitert die Bedeutung der Kommunikation. „Sätze wie: ‚Schreien Sie nicht so, ist doch gleich vorbei‘, können die Sätze eines früheren Peinigers sein und Retraumatisierungen bei Frauen auslösen, die Opfer von sexuellem Missbrauch sind“, erklärt sie. 37 Prozent aller Frauen hierzulande sind schon einmal körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen und 13 Prozent mindestens einmal sexualisierter Gewalt, erhob das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Weidner setzt sich deshalb dafür ein, dass Frauen schon in der Schwangerschaft nach Gewalterfahrungen gefragt werden. Das geschieht derzeit selten. Wenn dann ein männlicher Geburtshelfer eine gynäkologische Untersuchung durchführt oder das Personal zu einer bestimmten Gebärposition auffordert, kann das ein Trigger sein und eine Retraumatisierung auslösen.

Wie sehr die Betreuung und die Kommunikation das Geburtserleben kolorieren, erfuhr auch Sarah De Schepper in den Telefoninterviews mit 229 Frauen. Jene, die während der Entbindung Gelegenheit hatten, Fragen zu stellen, und denen die Hebamme das Gefühl gab, dass alles gut verlaufe, hatten weitaus seltener ein traumatisches Geburtserleben. „Die Betroffenen brauchen das Gefühl, selbstwirksam zu sein und dass alles unter Kontrolle ist.“

Wenn Fragen offenbleiben, wirkt sich das jedenfalls negativ auf die Verarbeitung des Geschehens aus. Das ist ein weiterer Risikofaktor für ein belastendes Geburtserleben, sagt Dorn unter Berufung auf ihre Doktorarbeit. Sehr hilfreich sei deshalb ein Nachgespräch, auch wenn die Frauen das im ersten Reflex ablehnen sollten. „Es gibt einen widerstreitenden Effekt zwischen ‚Ich will es vergessen‘ und ‚Ich kann es nicht vergessen‘. Das durchzusprechen hilft meiner Erfahrung nach sehr.“

Über den Kopf der Frau entschieden

Dass die Begleitung der Geburt über das subjektive Geburtserleben entscheidet und dieses so zentral ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Lebensumstände der Frau und ihre Persönlichkeit eine Rolle spielen. In De Scheppers Erhebung waren unter den Traumatisierten häufiger Frauen mit geringem Einkommen. Das kann ein höheres Ausmaß an Alltagsstress bedeuten. Auch hatte die Gruppe der Traumatisierten zuvor öfter als die Übrigen schon einmal einen Psychotherapeuten aufgesucht. „Vorausgegangene psychische Erkrankungen sind ganz klar ein Risikofaktor, eine Geburt traumatisch zu erleben“, sagt Weidner. Traumatisierungen können wieder aufflammen; Depressionen und Angsterkrankungen können die Seele unter der Grenzerfahrung der Geburt verletzlicher machen. Auch eine ausgeprägte Geburtsangst wirkt in dieser Weise. Die meisten Studien arbeiten den Einfluss der seelischen Verfassung vor der Geburt deutlich heraus.

Spielen indes die medizinischen Eingriffe gar keine Rolle? „Doch“, entgegnen die Forscherinnen. „Es ist vor allem der sekundäre Sectio, also der Kaiserschnitt, der unter der Geburt entschieden wird, der ein Problem für die Frauen sein kann“, sagt Weidner. Der Grund sei aber weniger der Eingriff an sich als die damit verbundenen Vorstellungen und Umstände. Der sekundäre Sectio wird meistens in kurzer Zeit von einem Arzt über den Kopf der Frau hinweg entschieden. Selten fühlen sich Schwangere – in diesem Moment in völlig erschöpftem Zustand – in diese Entscheidung ernsthaft einbezogen. Außerdem muss die Frau die Kontrolle abgeben und ihr Kind unter Narkose zur Welt bringen. Sie kann den entscheidenden Moment also nicht selbsttätig und natürlich miterleben. Meist widerspricht das dem Wunsch und der Erwartung des Paares. Das bringt Enttäuschung mit sich. Oft fühlt sich die Schwangere selbst als Versagende, weil ihr keine Spontangeburt gelang. „Schuld und Scham sind dann ein großes Thema“, sagt Dorn.

Die Erwartungen und die Vorstellungen von einer Geburt beeinflussen ganz generell maßgeblich das Erleben. „Viele Frauen haben heutzutage die Idee einer schönen oder sanften Geburt“, meint Barbara Maier, Fachärztin für Geburtshilfe. „Das ist ein Missverständnis: Das Kind soll sanft empfangen werden, aber die Austreibung selbst ist harte Arbeit, wie der treffende englische Begriff labour besagt.“ Die Vokabel, die wir meist mit „Arbeit“ übersetzen, steht auch für die Wehen.

Der Geburtsschmerz ist eine 10

Maier zufolge greift die Kritik an mangelnder Betreuung und Kommunikation in den Kreißsälen zu kurz. „Wir haben bei uns an der Universität Wien eine Eins-zu-eins-Betreuung und immer Nachgesprächsangebote. Und trotzdem beobachte ich auch etwas anderes: Es gibt im Netz sehr viel zu lesen über das Gebären, aber es gibt einen Verlust existenziellen Wissens in unserer Gesellschaft. Eine Geburt ist wie ein Aufstieg zum Großglockner. Das ist anstrengend. Man glaubt, man kann nicht mehr. Und wenn es gar nicht mehr geht, ist das Kind da – hoffentlich.“

Und noch ein anderes Phänomen trägt Maier zufolge zu negativen Geburtserfahrungen bei: „Wir sind in unserer Gesellschaft immer weniger bereit und gewöhnt, Schmerzen auszuhalten und Herausforderungen aktiv anzupacken. Der Geburtsschmerz hat nun einmal die 10 auf einer Skala von 1 bis 10. Da gibt es nichts zu beschönigen“, sagt sie. Maier erinnert sich an eine Frau, die kürzlich entband und bei der ersten Wehe nach einer Periduralanästhesie verlangte. „Irgendwann fragte sie mich: ,Kann ich auch etwas tun?‘“, sagt Maier. „Ja, aktiv mitgebären!“

Die Verklärung der Geburt hat auch mit einer Sprachlosigkeit in der Gesellschaft zu tun. Geburtsberichte bleiben oft oberflächlich und wenig eindrücklich. Es sei mit großer Scham behaftet, zu gestehen, dass man sich überfordert gefühlt habe, und Details preiszugeben, etwa dass man sich während der Geburt erbrochen habe und Angst hatte, dass nicht alles normal sei. „Viele Frauen sagen nachher einfach, was von ihnen gesellschaftlich erwartet wird. Und Frauen, die noch kein Kind haben, sagen sie auch deshalb nichts, weil sie ihnen keine Angst machen wollen“, weiß Dorn. „Dass Schwangere in der Ausnahmesituation der Geburt auch das medizinische Personal beißen, schlagen und treten, darüber spricht übrigens niemand. Gewalt gibt es aber auch umgekehrt!“

Empathie mit der Mutter oder Sicherheit des Kindes?

Zugleich sind die Risiken einer Geburt oft wenig gegenwärtig. War die Entbindung einst ein gefährliches Ereignis für Mutter und Kind und ist es in Gesellschaften mit schlechterer medizinischer Versorgung noch heute, so ist die Gefahr, dass die Schwangere oder das Baby im Kreißsaal hierzulande stirbt, äußerst gering. Vier von tausend Babys kommen jährlich tot zur Welt. Das liegt daran, „dass Geburtshelferinnen in Sekunden entscheiden, ob Empathie mit der Mutter gefragt oder die Sicherheit des Kindes vorrangig ist“, sagt Weidner. Ist es nur kurze Zeit von der Nährstoffversorgung abgeschnitten, kann es bleibende Schäden davontragen. Besonders in der Austreibungsphase kann es um Minuten und Sekunden gehen. Wenn das Baby nur mit schnellem Handeln lebend und gesund geboren werden kann, kann das einen heftigen und unerklärten Eingriff gegenüber der Mutter rechtfertigen, wenn er wenigstens im Nachgang besprochen wird. „Deshalb bin ich vorsichtig mit der Bezeichnung Gewalt unter der Geburt", resümiert Weidner.

Grieschat sieht das anders. Ihrer Einschätzung nach werden die Eingriffe, auch der Kristellerhandgriff, oft vorschnell und ohne die Frau einzubeziehen angewandt, um Zeit und damit Geld zu sparen. So kann die Geburtszeit verkürzt und der Kreißsaal schneller wieder belegt werden. Richtig ist, dass Krankenhäuser pauschal je Geburt und dann zusätzlich für jeden Eingriff abrechnen und Gelder erhalten. Es bestehen also durchaus finanzielle Anreize, den Geburtsprozess zu beschleunigen.

Grieschats zweites Kind kam zu Hause zur Welt. „Das hat mir ganz viel Kraft gegeben“, berichtet sie. „Die Schmerzen waren kein Vergleich mit der ersten Entbindung.“ Wegen starker Blutungen musste sie danach allerdings mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden, weil sich die Plazenta nicht ablöste. „Das klingt für viele bestimmt schrecklich. Für mich war es eine positive Geburt.“

Retraumatisierung

Von einer Retraumatisierung spricht man, wenn sich eine posttraumatische Belastungsstörung verstärkt, weil jemand erneut ein Trauma erlebt. Dies ist umso wahrscheinlicher, je hilfloser, ohnmächtiger, ausgelieferter sich die Person dabei fühlt. Manchmal führen auch mit dem Trauma assoziierte Situationen zu einer Retraumatisierung, zum Beispiel das Sprechen darüber. Der Begriff wird uneinheitlich gebraucht und gelegentlich synonym mit Reaktualisierung verwendet.

Quellen:

Almut Dorn: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach Entbindung. Shaker, Herzogenrath, 2003

Almut Dorn u.a.: Psychosomatik in der Gynäkologie. Kompaktes Wissen – Konkretes Handeln, Schattauer, Stuttgart, 2017

Christian Marth u. a.: Post-traumatic Stress Disorder Post Partum. The Impact of Birth on the Prevalence of Post-traumatic Stress Disorder (PTSD) in Multiparous Women. Geburtshilfe Frauenheilkd., 72/1, 2012, 56–63. doi: 10.1055/s-0031-1280408

Hans Neumann, Barbara Maier: Geburt positiv erleben. Springer, Wiesbaden 2019

Katrin Schock u.a.: Retraumatisierung–Annäherung an eine Begriffsbestimmung. PPmP-Psychotherapie· Psychosomatik· Medizinische Psychologie, 60/07, 2010, 243-249.

Sarah De Schepper u. a: Post-Traumatic Stress Disorder after childbirth and the influence of maternity team care during labour and birth: A cohort study, Midwifery, 32, 8792, 2016. doi: 10.1016/j.midw.2015.08.010

Kerstin Weidner: Traumatische Geburtsverläufe: Erkennen und vermeiden. Thieme, Leipzig 2018

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2021: Menschen verstehen wie die Profis