„Ich muss ein Entfesslungskünstler sein“

Psychotherapeut Jens Winkler über die Emotionen seiner Klienten – und wie es gelingt, diese nicht persönlich zu nehmen

Ein männlicher Patient ringt in der Therapie mit seinen Gefühlen. © izusek/Getty Images

Das Prinzip der Übertragung war in Sigmund Freuds therapeutischem Konzept zentral. Was hat er darunter verstanden?

Freud hat entdeckt, dass die Gefühle, die seine Patientinnen und Patienten im Kontakt mit ihm entwickelten, gar nicht ihm als Realperson galten, sondern Menschen aus der Vergangenheit. Die Patienten übertrugen also Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste, Enttäuschungen und Wut aus früheren Beziehungen auf den Analytiker, klassischer Weise aus den wichtigsten Beziehungen, nämlich zum ersten Mann im Leben und zur ersten Frau im Leben, also zu Vater und Mutter. Freud hat das damals so schön als „Irrtum in der Zeit“ beschrieben. Anfangs sah er in der Übertragung einen starken Störfaktor für den psychoanalytischen Prozess, weil er merkte: „Das, was hier aufkommt, das gilt gar nicht mir. Wie arbeite ich jetzt damit?“ Erst später erkannte er den hohen Wert dieser Übertragungsgefühle. Durch sie können der Therapeut oder die Therapeutin die alten unverarbeiteten Emotionen in der Gegenwart erleben und mit der Patientin verstehen und durcharbeiten. Durch die Wiederholung ist ein Zugriff möglich und damit eine Verarbeitung.

In der frühen Psychoanalyse sollten der Therapeut, die Therapeutin wie eine „weiße Leinwand“ sein, also möglichst keine eigenen Gefühle zeigen. So wollte man sicherstellen, dass alle Emotionen, die der Klient in der Therapie äußerte, aus seinem eigenen Inneren stammten und keine Reaktion auf sein Gegenüber waren. Wie hat sich dieses Modell über die Jahrzehnte verändert?

Ja, am Anfang dachte man: Hier sitzt die Patientin mit ihren Neurosen und dort der Analytiker, der komplett neutral und durchanalysiert ist, so dass alles, was sich in ihm abbildet, Teil der pathologischen Übertragung der Klientin ist. Dann kam vor etwa 40 Jahren die so genannte „intersubjektive Wende“, die besagt, dass das Erleben und Verstehen in der Therapie sich innerhalb der Beziehung ereignen.

Der Therapeut sieht sich nun als ein fehlbarer, verletzlicher Mensch mit einem eigenen Gefühls- und Erlebensraum; er ist nicht rein objektiv, sondern verändert sich in der Begegnung. Übertragung meint in diesem Fall alle Gefühle, die der Patient der Therapeutin gegenüber hat, also sowohl alte Gefühle, als auch solche, die der realen Person im Hier und Jetzt gelten. Es begegnen sich zwei Menschen auf Augenhöhe, und das Verstehen wird ein gemeinsamer Prozess – und nicht ich als Therapeut habe die Deutungshoheit. Diese Wende wird auch als Übergang von der Ein-Personen- zur Zwei-Personen-Psychologie in der Therapie bezeichnet.

Gilt diese Veränderung auch für die Gegenübertragung?

Ja. Die Gegenübertragung war ja am Anfang einfach nur die Reaktion des Therapeuten auf die neurotischen Übertragungsgefühle der Patientinnen und Patienten. Heute versteht man unter Gegenübertragung viel allgemeiner alle Gefühle, Gedanken, Empfindungen der Therapeutinnen in der Beziehung zum Patienten. Das wird der Komplexität der therapeutischen Situation viel besser gerecht.

Die Art und Weise, wie offen ein Therapeut ist und wie sehr er sich selbst durch die Begegnung verwandeln lässt, variiert. Therapeuten sind ja nicht objektiv. Sie lernen über Jahre eine bestimmte Sicht auf den Menschen, auf psychisches Leid und Beziehungen. Sie suchen also eine therapeutische Richtung und finden einen Stil, der zu ihrer Persönlichkeit passt. Und das ist auch gut so. Genauso sollten Klientinnen auch wählen können, welche Art der Therapie zu ihnen passt. Leider wird das in der Realität durch zwei Faktoren begrenzt: Zum einen werden nur wenige Verfahren von den Krankenkassen übernommen. Zum anderen gibt es zu wenige niedergelassene Therapeutinnen. In der Realität kann man also leider kaum wählen, die meisten sind froh, wenn sie überhaupt einen Therapieplatz finden.

Sie haben in der Therapie nicht das Gefühl, eine „weiße Leinwand“ sein zu müssen?

Nein, ich zeige mich in den Gesprächen unterschiedlich deutlich, natürlich immer im Hinblick auf die Frage: Ist das im Sinne der Therapie, wenn ich etwas von mir erzähle? Manchmal hilft das meinem Gegenüber, sich selbst zu öffnen.

Meine Grundhaltung ist: Ich muss überhaupt nichts wissen. Aber ich muss mich interessieren. Und wenn ich darauf stoße, dass ein Patient eine persönliche Frage an mich hat, dass ihn mein Verhalten irritiert oder er ärgerlich ist, dann rechtfertige ich mich nicht sofort oder beschwichtige, um ein Bild von mir aufrechtzuerhalten. Sondern ich stelle Fragen: „Wie ist das für Sie, mich so zu erleben?“ Und dann kann ich irgendwann schon auch sagen, wie es mir dabei geht. Denn eine Spiegelplatte zu sein, die vollkommen neutral nur das Neurotische widerspiegelt – das finde ich total vermessen.

Ein etwas holzschnittartiges Beispiel: Eine Klientin ist wütend auf ihren Vater, weil sie von ihm nie geliebt wurde, und überträgt diese Wut auf Sie. Wie gelingt es Ihnen, die Wut nicht persönlich zu nehmen?

Im wörtlichen Sinne würde ich erst einmal sagen: Ich nehme alles in der Therapie persönlich. Ich bin nicht der objektive Experte oder Heiler, der mit einem geheimen Wissen Menschen analysiert. Sondern ich bin ein Gegenüber mit einem Repertoire an Gefühlen, Erlebnissen und Gedanken. Und mit diesen Instrumenten setze ich mich einem Zusammenhang aus, den ich noch nicht verstehe. Ich nutze die Emotionen, die ich im Austausch mit der Patientin erlebe, frage nach und will sie genauer verstehen.

Gleichzeitig ist mit „persönlich nehmen“ aber ja noch etwas anderes gemeint: Etwas auf mich beziehen, gekränkt sein, mich aus dem Kontakt rausnehmen, um so mein idealisiertes Selbstbild zu schützen. Als Therapeut, als Therapeutin muss man an seinem Narzissmus arbeiten. Wenn ich unbedingt ein großartiger Therapeut sein möchte, dann brauche ich meine Klienten, damit die mich als hilfreich spiegeln. Das spüren sie natürlich. Und sie werden folglich nichts machen, was mich enttäuscht oder kränkt, werden mir nicht alles erzählen und werden etwas tun, was viele ihr ganzes Leben lang getan haben: Schauen, was die Erwartungen der anderen sind. Mit einem hohen Preis: Sie müssen sich dafür selbst verlassen. Die Therapie gerät dadurch ins Stocken.

Wie können Psychotherapeuten an ihrem Narzissmus arbeiten?

Wenn ich als Therapeut dazu neige, leicht gekränkt zu sein und als gut gespiegelt werden zu müssen, sollte ich mir diesen Teil genau anschauen, um unbefangener bleiben zu können. Oder, wie ein Supervisor von mir sagt: Als Therapeut muss ich ein Entfesslungskünstler sein; natürlich darf ich meine Patientin nicht für meine Bedürfnisse instrumentalisieren, ich darf mich aber auch nicht unbewusst entsprechend der Rollenerwartungen meiner Patienten verhalten.

Da wir eine Beziehung mit einem anderen Menschen eingehen, ist es normal und völlig in Ordnung, dass wir Dinge persönlich nehmen – als Menschen sind wir unsicher, verletzlich, wollen geachtet und respektiert werden und sind auch kränkbar. Als Psychotherapeut ist es nur entscheidend, dass wir nicht beim persönlich nehmen bleiben. Wir dürfen uns nicht innerlich gekränkt aus der Beziehung zurückziehen. Meine Aufgabe als Therapeut ist es, dranzubleiben, neugierig und zugewandt zu bleiben. Ich muss immer wieder die Verbindung suchen. Oder zum Thema machen, wenn ich merke, dass die Verbindung abbricht. Ich bin in der Therapie sowohl Mensch, als auch in meiner Rolle als Therapeut. Wenn ich bei einem bestimmten Thema wiederholt gekränkt und befangen bin, sollte ich in der Supervision mehr über dieses persönliche Thema verstehen und daran arbeiten.

Wie lernt man das – sich nicht gemäß der Erwartungen des anderen zu verhalten, aber ihn umgekehrt auch nicht für meine Bedürfnisse zu instrumentalisieren?

Es ist ein Prozess. Ich habe am Anfang meiner Arbeit auch Angst gehabt oder bin unsicher geworden, wenn ich gemerkt habe: Da ist viel Wut im Spiel und die braucht einen Ableiter und der bin nun mal ich. Mittlerweile habe ich einige Prozesse erlebt und begleitet, und es ist mir lieber, dass ein Klient oder eine Klientin wütend auf mich sind, als dass sie diese Gefühle unterdrücken oder auf sich selbst lenken. Viele haben ja die Erfahrung gemacht: Wenn ich wütend bin, dann bricht der Kontakt ab, ob subtil oder unsubtil. Und deshalb lade ich inzwischen bewusst zu solch einem Gefühl ein und sage, wenn jemand rumdruckst: „Kann es sein, dass Sie wütend auf mich sind?“ Dann schauen wir uns das Gefühl zusammen an, wir bleiben im Kontakt. Und irgendwann kann ich mich auch dafür interessieren, wo die Wut „eigentlich“ hingehört.

Leitend ist dabei die Frage: Wie kann ich meine Gefühle, die im Kontakt entstehen, so ansprechen, dass mein Gegenüber etwas für sich erkennen kann und damit mehr Handlungsspielraum bekommt?

Gerade bei heftigen schwierigen Gefühlen hilft mir das therapeutische Konzept von Übertragung und Gegenübertragung sehr. Weil ich spüre: Ich bin nicht gemeint. Hier spricht mein Gegenüber eigentlich gerade zu den Personen in seiner Vergangenheit, und zwar auf eine Art und Weise, die damals nicht möglich war.

Klienten sind nicht gegen uns, sondern sie handeln immer für sich. Und ich versuche, negative Gefühle nicht persönlich zu nehmen, sondern zu schauen: Was sagt da jemand über sich aus? Bei manchen Menschen, die tiefe Wunden haben, sind die Gefühle auch so diffus, dass sie die Symptomatik eher über das Handeln ausagieren. Als Beispiel: Die Patientin kommt nicht zur Sitzung. Oder jemand äußert ständig, wie wichtig die Therapie ist, bleibt aber oft unentschuldigt den Sitzungen fern. In der Regel weisen solche Widersprüche auf tiefere, nicht verarbeitete innere Konflikte hin.

Oder er bezahlt seine Rechnung nicht.

Ja, oder plötzlich steht die Partnerin vor der Tür und die Klientin sagt: „Die will jetzt mal zugucken.“ Für mich ist es wertvoll, dass ich dann einerseits die Realbeziehung habe, aber eben auch aus der Vogelperspektive draufgucken kann und mich fragen: Wovor schützt sich mein Gegenüber? Klienten agieren, um weniger zu leiden. Da ist es mir lieber, wenn ich was abkriege und wir das gemeinsam verstehen können, als dass jemand dauerhaft weiter leidet.

Sie praktizieren seit zehn Jahre als Psychotherapeut. Am Anfang ist es doch vermutlich eine sehr kognitive Entscheidung zu sagen: „Die Patientin meint nicht mich.“ Dauert es nicht Jahre, bis man das auch glaubt?

Absolut. Am Anfang habe ich in einer Suchtklinik gearbeitet, dort war ich häufig mit Rückfällen konfrontiert – es kam zum Beispiel heraus, dass jemand schon seit zwei Wochen wieder getrunken hat. Ich habe sehr damit gehadert, weil ich noch nicht einschätzen konnte, was Teil der Situation war, welche Dynamiken schlicht normal sind. Ich dachte: Das passiert, weil ich eine schlechte Therapie mache. Das ändert sich tatsächlich nur über die Erfahrung, man lernt: Welche Verhaltensweisen zeige ich immer wieder, wie wirke ich auf andere, wo habe ich blinde Flecken? Das dauert und darf dauern. Und wenn jemand wirklich abwertend ist – das kam in den zehn Jahren vielleicht ein, zwei Mal vor – dann sage ich auch: „Abwerten lass ich mich nicht. Aber für Kritik bin ich offen.“

Meine Aufgabe als Therapeut ist es, dranzubleiben, neugierig und zugewandt zu bleiben. Wenn ich bei einem bestimmten Thema wiederholt gekränkt und befangen bin, sollte ich in der Supervision mehr über dieses Thema verstehen und daran arbeiten.

Auf der anderen Seite steckt in den Rückmeldungen unserer Patientinnen und Patienten eben auch immer ein wahrer Kern. Sprich: Manchmal bin ich auch wirklich persönlich gemeint! Ich kann eher Zugeständnisse machen und einfach authentischer sein, wenn ich mich als fehlbar und unsicher in der therapeutischen Beziehung sehe. Es ist eine Last, den unfehlbaren, allwissenden Experten zu mimen – und es kostet Kraft. Es klingt paradox, aber: Ich selbst kann in dem Maße Unsicherheit und Nichtwissen zugeben, wie ich mich innerlich sicher fühle.

Gibt es auch körperliche Reaktionen, an denen Sie merken: Jetzt werde ich wütend, ich habe Magenschmerzen, weil mich etwas so sehr trifft oder weil ich Angst habe?

In der Suchtklinik gab es mal jemanden, der bedrohlich gewirkt hat. Das habe ich damals als beängstigend und verwirrend wahrgenommen, auch wenn in der Situation nichts passiert ist. Aber ich war nicht handlungsfähig, ich hätte das nicht nützen können. Wenn ich heute merke, dass ein Verhalten gar nicht geht, dann würde ich das spiegeln und fragen, was mein Gegenüber braucht. Und wenn ich mich nicht sicher fühle, würde ich das Gespräch auch beenden.

Ich komme aus der Kampfkunst, da habe ich gelernt, auf mein Bauchgefühl zu achten. Und Männer, die sich ja auch in ihrer Stärke und Kraft spüren oder vielleicht auch messen wollen, merken, dass ich nicht so schnell Angst habe. Gleichzeitig kenne ich natürlich auch zierliche Frauen, die sehr gut mit Zorn umgehen können, die das Thema so gut durchgearbeitet haben, dass sie vor Aggressionen keine Angst haben – das hat also nicht nur mit eigener körperlicher Dominanz zu tun.

Emphatisches Mitschwingen ist als Therapeut sehr wichtig, aber bei manchen Themen kommt man nur mit Mitschwingen nicht weiter. Sondern man muss die schwierigen Gefühle, die in einem ausgelöst werden, auch versprachlichen – und dazu braucht es dann wirklich eine gute Anbindung an die eigene Aggression. So dass man sich nicht zurückzieht, sondern sagt: „Das ist doch interessant, lassen Sie uns an diesem Gefühl mal dranbleiben.“ Durch eine psychische Abwehr kommt man nicht hindurch – dafür ist sie ja da. Man kann sie nur benennen und dann gemeinsam schauen, was daraus entsteht.

Wenn ich bei einer Klientin etwas konfrontiere, stößt das natürlich häufig erstmal nicht auf „Ja, das ist ja toll, dass Sie mir das zurückmelden“. Sondern auf: „Nee, das ist nicht so.“ Aber man kann darauf vertrauen, dass das, was gesagt wird, bleibt. Und häufig sagt eine Klientin dann zwei, drei Stunden später: „Das war total wichtig, darüber habe ich nachgedacht.“

Jetzt gibt es ja nicht nur negative Gefühle in der Übertragung, sondern auch positive. Ein Patient idealisiert Sie als den perfekten Helfer oder eine Patientin verliebt sich womöglich in Sie. Wie gelingt es Ihnen, auch diese Gefühle „nicht persönlich zu nehmen“ und genauso zu sagen: Da bin ich nicht gemeint?

Eine schwierige Frage.Ich fühle mich befangen, wenn ich als idealer Therapeut gesehen werde, und ein Stück weit objektiviert. Natürlich habe ich – wie jeder Mensch – auch meine narzisstischen Anteile, die wollen, dass die Klienten sagen: „Da gehe ich gerne hin“ oder „Den kann ich empfehlen“. Und wenn mir jemand eine positive Rückmeldung gibt, bei der ich mich gesehen fühle in dem, was ich anbiete, freue ich mich sehr. Aber wenn ich merke, dass ein Bild über mich gelegt wird, das reine Projektion ist – das mag ich nicht. In einer solchen Idealisierung ist ja auch keine Beziehung möglich.

Als Faustregel gilt: Eine milde, positive Übertragungsbeziehung ist in Ordnung, am Anfang dürfen Patienten auch erstmal idealisieren, wenn sie das brauchen. Aber es ist so lange keine richtige Beziehung zwischen zwei Menschen auf Augenhöhe möglich, so lange die Idealisierung im Spiel bleibt. In ihr steckt ja die drohende Enttäuschung schon drin. Bei Patientinnen, die stark idealisieren, ist die Aufarbeitung der Enttäuschung später viel mühsamer.

Sie enttäuschen Ihre Patientinnen und Patienten?

Als Therapeut muss man lernen auszuhalten, enttäuschend und frustrierend für andere zu sein. Weil Beziehung einfach auch enttäuschend ist. Ich hatte mal eine Klientin, die gefragt hat: „Herr Winkler, heute sind Sie so anders, was ist los?“ Ich frage dann: „Was meinen Sie denn? Was ist Ihnen aufgefallen?“ Einerseits lasse ich mir das dann beschreiben und interessiere mich und nehme mich zurück, um etwas über die Gefühle der Patientin zu lernen. Aber ich halte mich auch nicht komplett raus, sondern sage zum Beispiel: „Da haben Sie eine richtige Wahrnehmung – ich habe total schlecht geschlafen und bin müde.“ Wenn ich mich komplett raushalten würde als Mensch, dann macht die Person, wie bei vielen anderen Menschen vielleicht zuvor, die Erfahrung, dass sie suchen muss, was los ist. Und ist verunsichert. Wenn ich sie dann mit einer eigentlich zutreffenden Wahrnehmung stehen lasse, schwäche ich in gewisser Weise ihre Instinkte.

Ich habe auch Patienten, die pikiert darauf reagieren, wenn ich sage: „Ich bin heute etwas erschöpft.“ Die antworten dann zum Beispiel: „Dann brauch ich auch gar nicht hier sein, wenn ich von Ihnen nur die Hälfte kriege.“ Aber auch das ist ja eine interessante Reaktion, bei der wir zusammen schauen können: Welche Objekterfahrungen, welche Beziehungserfahrungen hat der Mensch gemacht, wie frustrierend waren die? Die Enttäuschung gilt nicht mir als Person und der Therapie, sondern es gibt eine Riesenenttäuschung aus grundlegenden Beziehungen, eine große Bindungsunsicherheit. Das können wir untersuchen. Da kommen wir zusammen weiter.

Nun sind Sie ja Profi darin, Dinge als Therapeut nicht persönlich zu nehmen. Würden Sie sagen: Das hilft Ihnen im Privatleben?

Es gibt eine Trennung zwischen meiner beruflichen Rolle und meinem Privatleben. Meine Frau ist auch Therapeutin. Wenn ich mir unsere Beziehung anschaue, würde ich sagen: Da geht es ziemlich untherapeutisch zu. Je tiefer die Bindung ist, desto mehr kann man verletzt werden. Und die Lebensbeziehungskonflikte und -themen, die ändern sich nicht, die lösen sich nicht auf. Im Idealfall schlagen die Konflikte irgendwann nicht mehr so hohe emotionale Wellen und die gemeinsame Verbindung ist schneller wieder möglich. Und es wäre auch schlimm, wenn ich in die Beziehung zu meiner Frau hineingehen würde mit dem Selbstverständnis: Ich bin hier der Profi.

Früher habe ich Seminare geleitet für junge Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht haben. Da haben wir oft ein Rollenspiel gespielt, Werwolf, bei dem man eine Karte bekommt und die anderen wissen nicht, wer man ist – es geht darum, die anderen zu täuschen. Und ich weiß noch, dass die Jugendlichen oft wahnsinnig enttäuscht waren, dass ich – als Psychotherapeut, als Menschenversteher – in dem Spiel nicht besser war als sie. Meist schlechter! Diese mitschwingende Erwartung, man wüsste wirklich, wie der andere tickt, das hat eine gewisse Verführungskraft. Aber man merkt schnell, dass Beziehungen etwas intersubjektives und nicht hierarchisches sind – und dass solche Beziehungen auch nicht so richtig viel Spaß machen. Da fehlt dann der Andere, in seiner Eigenartigkeit, der mir letztendlich nie ganz verfügbar sein wird und mich deshalb anzieht und verändert.

Jens Winkler ist tiefenpsychologisch arbeitender Psychotherapeut mit einer Praxis in Konstanz sowie Autor des Buches Mut zum Hier und Jetzt. Übertragung und Gegenübertragung im therapeutischen Dialog, das bei Springer erschienen ist

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