Frau A.*, Ausbildungskandidatin in Supervision, schickt mir eine Mail: „Ich würde gerne eine Extrasitzung haben, ich weiß nicht, ob ich mit Herrn X.* weiterarbeiten kann.“ Herr X. ist ein Patient mit sozialen Ängsten und einer mittelgradigen Depression, Programmierer, beruflich fest im Sattel, in seinem Privatleben verarmt und nicht in der Lage, eine Freundin zu finden. Zu dem verabredeten Termin erscheint Frau A. in dunklen Farben und ebensolcher Stimmung. Sie kleidet sich sonst modebewusster und bunter.
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Frau A. in dunklen Farben und ebensolcher Stimmung. Sie kleidet sich sonst modebewusster und bunter.
„Die letzte Stunde war eigentlich wie immer, Herr X. hat über den Geburtstag seiner Mutter erzählt, die ihn genervt hat mit ihrer Frage, wann er denn endlich eine Frau mitbringt, sie hätte so gerne Enkelkinder. Er fand sich blöde, weil ihm nichts anderes eingefallen ist, als zu sagen, er habe eben die Richtige nicht gefunden. Dann hat er sich über seinen Chef beklagt, der Druck macht, endlich ein Programm zum Laufen zu bringen. Wir haben an seinen Problemen gearbeitet, negative Gefühle zuzulassen, und darüber nachgedacht, warum er der Mutter nicht erklären kann, dass sie ihn nicht unter Druck setzen solle. Außerdem haben wir überlegt, ob es andere Möglichkeiten gibt, sich mit dem Chef auseinanderzusetzen, als zu kündigen.“
„Und was ist dann passiert?“ „Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass er nicht richtig bei der Sache ist, ich habe mir auch überlegt, ob ich ihm noch einmal vorschlage, doch auf der Couch zu arbeiten, weil er mich so anstarrte.“ Wie hatte er auf den Vorschlag damals reagiert? „Ich hatte erklärt, dass er sich dann besser auf seine inneren Prozesse konzentrieren kann. Das wollte er aber nicht. Damals sagte er: ‚Ich hab Sie lieber im Blick‘, aber ich hab das nicht weiter beachtet.“ „Und dann?“
„Ich möchte sie zum Essen einladen!“
Sie errötet. „Es war auf dem Weg zur Tür. Als ich die Stunde schon beendet hatte. Wir standen einander gegenüber, er grinst und sagt: ‚Das T-Shirt steht Ihnen sehr gut, das haben Sie extra für mich angezogen, mit dem Spruch da. Und die Ohrringe neulich, die waren auch toll. Sie machen sich schön für mich, ich würde Sie gerne zum Essen einladen!‘ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte doch nicht sagen: ‚Was soll der Scheiß, ich bin hier die Therapeutin, und es geht Sie nicht das Geringste an, wie ich mich anziehe.‘ Ich habe nur gesagt, dass unsere Zeit um ist. Er ist gegangen, aber ich konnte danach kaum schlafen. Wie bringe ich Herrn X. wieder in die Spur?“
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„Was haben Sie sich denn so überlegt?“ „Es ist ein Durcheinander. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich ansprechen soll, was er da gesagt hat, oder ob ich abwarte, ob er von sich aus darauf zurückkommt. Wenn ich es aufgreife, dann denkt er vielleicht, ich interessiere mich besonders für das Thema; wenn ich abwarte und gar nichts sage, dann spinnt er weiter seine Fantasien.“„Das hört sich so an, als würden Sie sich verantwortlich dafür fühlen, was Herrn X. einfällt. Was stand eigentlich auf Ihrem T-Shirt?“ „Choose Life!“ „,Wähle Leben‘ ist doch kein schlechtes Motto für eine Psychotherapie!“„Eigentlich habe ich das Shirt gekauft, weil mir die Farbe gefällt. – Wie bringe ich ihm nur bei, dass ich nichts von ihm will?“ „Mir ist aufgefallen, dass Sie sich heute betont unauffällig angezogen haben.“ „Merkt man das? Ich weiß einfach nicht, was richtig ist. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für seine Gefühle, und gleichzeitig macht es mich wütend, dass ich mich verantwortlich fühle und er das ausnutzt.“
Sie errötet wieder, stockt, spricht weiter. „Ich habe gedacht, Sie sagen mir, ich kann nicht mit ihm weiterarbeiten, weil ich da etwas ausgelöst habe, das ich nicht in den Griff kriege. Es ist mir schrecklich peinlich!“ Sie fühlt sich also verantwortlich für die Fantasien ihres Patienten und glaubt sogar, ich würde sie dafür zur Rechenschaft ziehen, sie bestrafen. Ich überlege eine drastische Deutung: den Vergleich mit der vergewaltigten Frau, die sich schuldig fühlt, weil sie ein ausgeschnittenes Kleid trug. Passt nicht. Ein Scherz, wonach Therapeuten und Therapeutinnen nur in weißen Kitteln praktizieren dürfen? Passt auch nicht. Ich versuche also, erst einmal das krisengeschüttelte Selbstgefühl zu festigen, dann sehen wir weiter.
Eine Frau, die ihn umsorgt wie eine Mutter
„Sie haben alles richtig gemacht“, sage ich. „Sie haben das Interesse von Herrn X. geweckt und erreicht, dass er vor ihnen weniger Angst hat als vor seiner Mutter und wohl auch vor anderen Frauen, mit denen er gerne anbandeln würde. Ich denke, dass er auch genau weiß, dass eine reale Beziehung nicht im Angebot ist. Interessant finde ich Ihre Fantasie, dass ich Ihnen Ihren Patienten wegnehmen könnte. Wir arbeiten doch immer mit Übertragung und Gegenübertragung.“ „Aber er denkt doch, dass ich etwas von ihm will!“ „Er erwartet, dass Sie ihn dominieren, wie seine Mutter!“ Sie lacht endlich.
„Wir können die Bedürfnisse unserer Patienten und Patientinnen nicht erfüllen. Aber wir können uns für diese Bedürfnisse interessieren. Herr X. möchte, dass Sie sich für ihn schön machen, er will mit Ihnen flirten, er will Sie einladen. Dass er Sie als Therapeutin nicht respektiert, können Sie ihm nicht ankreiden, Sie haben ihn ja aufgefordert zu sagen, was ihm einfällt. Sie müssen ihn auch nicht zurechtweisen, sondern das Mögliche tun, um ihm klarzumachen, was sein Verhalten bedeutet. Er wünscht sich eine Frau, die ihn versorgt wie eine Mutter, eine Frau, die ihn verführt. Er will in seiner Therapie nicht seine Angst bearbeiten, sondern sehnt sich danach, dass die Therapeutin ihm das abnimmt.“
„Und was mache ich in der nächsten Sitzung?“„Die Rezepte sind mir schon im Januar ausgegangen, und jetzt ist Juli!“ Sie lacht wieder. „Wie soll ich mich bei der nächsten Sitzung anziehen? So wie heute? Kein Schmuck und keine bedruckten T-Shirts?“ „So wie Sie sich wohl fühlen – eben wie immer. Es geht darum, sich authentisch zu verhalten, es ist nicht hilfreich, die Begegnung zu manipulieren.
Wenn die Bombe platzt
Der Weg aus der Therapiestunde zur Tür ist eine Art Zwischenreich, so wie die Raunächte zwischen Weihnachten und Epiphanie, in denen Geister erscheinen und die Wilde Jagd spukt. Für die analytische Arbeit können die paar Minuten fruchtbar sein, in denen die offizielle Sitzung zugleich beendet und nicht beendet ist. Da kommt bisher Vermiedenes an die Oberfläche, das wir gleichzeitig festhalten und loslassen sollten. Die Sitzung wird pünktlich beendet, aber beiden Beteiligten muss klar sein, dass die zutage getretenen Gefühle und Gedanken in der Therapie weiter untersucht und geklärt werden.“
„Und was mache ich mit meiner Angst, dass er gar nicht therapeutisch arbeiten will, sondern mich nur noch mit seinen Blicken verschluckt?“ „Warten wir ab. Ich denke, Sie unterschätzen gerade Ihre Fähigkeiten als Therapeutin ebenso wie seine, die Patientenrolle ordentlich zu spielen. Menschen wollen von Natur aus kooperieren, Patienten eingeschlossen. Versuchen Sie, sich wie Farbe zu fühlen, mit der ein Maler arbeitet. Sie sind etwas wie das Material, das Herr X. braucht, um sich selbst und sein Verhalten gegenüber Frauen zu verstehen.“
„Das hört sich gut an“, sagt Frau A. zögernd. Wir verabschieden uns. Ich sehe sie mit einem Gefühlsgemisch aus Neid und Scham gehen. Weil ich alt bin, bekomme ich nur selten erotische Übertragungsinhalte zu sehen; weil ich ein Mann bin, fühlte ich mich früher in solchen Situationen eher geschmeichelt als bedroht. Hoffentlich bin ich Frau A. gerecht geworden. Meine Patientinnen und Patienten halten sich an ihre fünfzig Minuten und verwirren mich nicht mit dem, was die US-amerikanische Psychotherapeutin Daniela Gitlin die doorknob bombshell nennt.
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die angehende Supervisorin und den Klienten erkennbar machen könnten, wurden verändert
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München. Sein Buch Böse Väter, kalte Mütter? Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen ist 2024 bei Reclam erschienen.
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