Wenn Kinder Eltern verlassen

Brechen erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern ab, schmerzt das beide Seiten. Warum Autor Martin Angler sich dennoch für den Schritt entschied

Die Illustration zeigt einen Mann, der traurig zur Seite blickt, dahinter steht abseits seine erwachsene Tochter, die ihm den Rücken kehrt und aus dem Fenster schaut
Martin W. Angler ist Wissenschaftsjournalist und lebt in Bozen, Italien. © Jan Feindt für Psychologie Heute

Einen Augenblick lang hielt meine Mutter inne, als sie mir die Tür öffnete. Ich sagte: „Hallo Mama.“ Sie erwiderte: „Du siehst aus wie ein Penner mit diesen langen Haaren.“ Meine Umarmung erwiderte sie mit halber Kraft und bat mich rein. „Ich freu mich auch, dich zu sehen“, sagte ich und trat ein. Auch ich war überrascht über ihr Erscheinungsbild, behielt das aber für mich. Sie war immer klein und zierlich gewesen, doch diesmal wirkte sie fahl und blass. War es der Frust darüber, dass wir uns jahrelang…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

immer klein und zierlich gewesen, doch diesmal wirkte sie fahl und blass. War es der Frust darüber, dass wir uns jahrelang nicht gesehen hatten?

In den Tagen davor hatte es vieler Telefonate bedurft, bis sie einem Besuch zustimmte. Ich rief sie vom Auto aus an und sagte, ich sei unterwegs. „Martin, nein, lass gut sein. Das hat doch keinen Sinn“, sagte sie. Das Nein ließ ich nicht gelten. „Mama, es ist Heiligabend, ich schau heute vorbei.“ Als ich eintrat, bedankte sie sich kurz für die mitgebrachten Weihnachtsgeschenke und legte sie beiseite. Unser Gespräch verlief kühl, irgendwann flammten die alten Vorwürfe wieder auf, ich käme ja nie zu Besuch. Nach einer Stunde ging ich. Dass wir uns so nie wiedersehen würden, ahnten wir beide nicht.

Ausgehen? Privatsphäre? Verboten!

Zwölf Jahre zuvor war ich mit 25 aus der Wohnung meiner Mutter ausgezogen. Ein befreundeter Spediteur hatte mich samt Bett, Schreibtisch und Computer ins 25 Kilometer entfernte Bozen gebracht, in meine erste eigene Wohnung. Die Hauruckaktion dauerte nur einen Tag. Bei der letzten Fuhre stand meine Mutter in der Tür und weinte. Später sagte sie mir: „Du bist ja richtig geflüchtet von hier. Vor mir.“ Damit hatte sie nicht Unrecht. Ich hatte lange auf diesen Moment hingearbeitet, mein Studium in Windeseile abgeschlossen und mir meinen ersten richtigen Job als Lehrer besorgt.

Mein Plan war allmählich und unbewusst gewachsen, weil ich zu Hause erstickte. Als Teenager durfte ich weder selbst entscheiden, was ich anzog, noch allzu häufig bei Freunden sein. Ausgehen? Verboten. Ein Poster in meinem Zimmer aufhängen oder gar die Tür abschließen? Verboten. Das zog sich bis in die Studienzeit. Als ich mit 22 Jahren von einem eintägigen Bergausflug mit Freunden nach Hause kam, musste ich mir anhören, was mir einfalle, meine Mutter so lange allein zu lassen. Solche Erlebnisse erodierten meine Gefühle zu ihr immer mehr. Zum Kontaktabbruch kam es aber erst Jahre später.

Töchter, die ihre Väter „ghosten“

Entfremdungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern sind häufiger, als ich gedacht hatte. Eine soziologische Studie der Universitäten Ohio und Alabama zeigt, dass bis zu einem Viertel der Eltern keinen Kontakt mehr zu einem ihrer Kinder haben. Meistens brechen die Kinder den Kontakt ab, und am häufigsten sind es erwachsene Töchter, die ihre Väter „ghosten“. Die genauen Gründe für die Entfremdung sind in solchen Studien nur schwer objektiv zu ermitteln, weil sich beide Seiten unterschiedlich daran erinnern. Liebend gern hätte ich meine Mutter zu ihrer Sicht auf unsere Entfremdung befragt. Doch das geht nicht mehr.

In Deutschland passieren Entfremdungen ähnlich häufig, wie eine Langzeitstudie zu dem Phänomen zeigt. Ein Team um den Soziologen Oliver Arránz Becker von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat über einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht, wie häufig erwachsene Kinder und Eltern Kontakt pflegen. Die erste Herausforderung war, überhaupt zu definieren, wer als entfremdet gilt. „Erst wenn es gar keinen Kontakt mehr gibt, zählt das für uns als Entfremdung“, sagt Arránz Becker. „Gibt es noch Kontakt, aber sehr selten, dann fragten wir die Menschen auch: Wie nah fühlen Sie sich der anderen Person?“

Laut der Studie sind 20 Prozent der deutschen Väter von einem ihrer Kinder entfremdet, auch hier meist von der Tochter. Bei den Müttern liege die Rate bei 9 Prozent, sagt Arránz Becker. In den Interviews befragten die Forschenden die Probandinnen und Probanden zwar nicht direkt danach, ob sie sich tatsächlich entfremdet fühlten und weshalb der Kontaktabbruch zustande gekommen sei. Einiges lässt sich aber dennoch ableiten: So zeigen die Daten, dass sich erwachsene Kinder häufiger von ihren Eltern trennen, wenn es davor eine Scheidung gab. Meist zum Nachteil der Väter.

„Auf dich ist kein Verlass.“

Dieser Geschlechtsunterschied überrascht Arránz Becker nicht. „Väter sind weniger anwesend und bei einer Scheidung bleiben die Kinder meist immer noch bei den Müttern.“ Räumliche Trennung als Katalysator für eine Vater-Entfremdung leuchtet mir zwar ein, trifft in meinem Fall aber nicht zu. Zwar habe ich tatsächlich keinen Kontakt zu meinem leiblichen Vater, doch das ging nicht von mir aus. Mit meinem Stiefvater dagegen hatte ich stets ein gutes Verhältnis. Es war eher so, dass er mir manchmal etwas Luft verschaffte, wenn meine Mutter zu dominant war.

Retten konnte mich das nicht. Die beiden stritten sich im Wochentakt. Ihre offenen Auseinandersetzungen um Huren, Betrug und Faulheit endeten oft so: Ich stieg nichtsahnend aus dem Schulbus, und wenn ich in das Haus meines Stiefvaters trat, standen im Flur bereits die gepackten Koffer. „Los Martin, ich hab schon deine Sachen gepackt. Wir ziehen wieder zurück“, sagte meine Mutter. Mitspracherecht hatte ich nicht. Genauso wie ich nicht gefragt worden war, überhaupt erst auf den Bauernhof in ein 400-Seelen-Dorf zu ziehen.

Die On-off-Beziehung meiner Mutter zu meinem Stiefvater vereinnahmte meine ganze Jugend. In den Off-Phasen zogen wir immer wieder zurück in die alte Heimat, jährliche Schulwechsel waren die Folge für mich, manchmal waren sie schon nach einem Semester fällig. In den Trennungsphasen war ich der Puffer, der den ganzen Frust über meinen Stiefvater auffangen musste. Die Gespräche liefen immer gleich ab, seit ich elf Jahre alt war: Ich saß meiner Mutter gegenüber, sie rauchte und schimpfte stundenlang über meinen Stief- oder leiblichen Vater. Ich musste nicken und zustimmen. Tat ich es nicht, sagte sie: „Auf dich ist kein Verlass, du bist auf der Seite von diesem Scheißkerl.“

Auf Post-its diktierte Telefonate

Der Druck war zu viel für mich als Kind. Immer wieder hieß es: „Du musst mich im Alter einmal versorgen, wenn ich nicht mehr arbeiten kann.“ Wollte ich in diesen Tagen etwas von ihr, musste ich vorher meinen Stiefvater anrufen und ihm in „meinen“ Worten sagen, wie sehr er meine Mutter und mich enttäuscht habe und was für ein schlechter Mensch er sei. Die auf gelbe Post-its diktierten Worte klebten neben dem Telefon. Oft beschwerte sie sich danach, ich hätte ihm dies und jenes nicht gesagt. Dann war meine Mutter beleidigt mit mir.

Als Kind taten diese eingetrichterte Schuld und die Vorhaltungen einfach nur weh. Als Erwachsener sehe ich die Lage etwas differenzierter und bemerke dabei eine gewisse Ambivalenz in mir selbst: Ich habe Verständnis dafür, wie hart das Leben meiner Mutter war. Wir waren relativ arm. Sie hatte eine katastrophale Ehe mit meinem leiblichen Vater voller Leid überstanden. Als ich zehn war, starb meine Schwester bei einem Autounfall. Rechtfertigen diese Schicksalsschläge einen emotionalen Missbrauch mir gegenüber? Nein. Aber sie erklären Teile davon und helfen mir, Nachsicht zu üben.

Vergleiche mit ,besseren‘ Kindern

Fortwährender emotionaler Missbrauch ist wissenschaftlich betrachtet einer von verschiedenen Gründen für eine spätere Entfremdung. Das hat Karl Pillemer von der Cornell University in mehreren Langzeitstudien herausgefunden. Pillemer ist Professor für Humanentwicklung und forschte ursprünglich daran, was Menschen im Alter am meisten bereuen. „Zu meiner Überraschung waren das nicht profane Gründe, wie einen lukrativen Job verpasst zu haben oder zu wenig gereist zu sein“, sagt Pillemer. „Was fast alle bereuten, waren abgebrochene Beziehungen zu Familienmitgliedern.“

In vielen hundert Interviews mit entfremdeten Eltern und ihren Kindern fand Pillemer heraus, dass die Eltern oft überrascht sind über den Rückzug der Kinder. „Wenn ich sie dazu befragte, hieß es oft: Mein Sohn hat seit einem Jahr kein Wort mehr mit mir gesprochen. Ich weiß nicht, warum“, erzählt Pillemer. Doch in längeren Gesprächen fand er heraus, dass der Entfremdung eine ganze Serie negativer Interaktionen vorausgegangen war. „Dazu zählen Vorwürfe über die Lebensweise der Kinder, aber auch abwertende Vergleiche mit den anderen, ,besseren‘ Kindern.“

Vorwarnungen des Kontaktabbruchs

Pillemers letzter Satz trifft einen wunden Punkt. Meine Schwester war 1992 von einem Auto überfahren worden. Meine Mutter kam über den Verlust verständlicherweise nie hinweg und verlor ihre ganze Freude am Leben. Ich dachte zuerst an eine Depression, doch erst jetzt weiß ich, dass sie an einer anhaltenden Trauerstörung erkrankt war. Wenn wir stritten, sagte sie oft: „Schäm dich. Claudia hätte nie so mit mir geredet.“ Oder: „Ich wünschte mir, Claudia wäre noch hier.“ In meinen Ohren klang es, als fehle nur noch dieser Nachtrag: „…und nicht du.“

Deshalb warf ich meiner Mutter vor, sie hätte lieber auf mich verzichtet als auf Claudia. Sie verneinte das immer vehement. Gleichzeitig warf mir meine Mutter bei jedem Streit vor, ich sei genau so böse wie mein Vater, den sie abgrundtief hasste. Das schmerzte jedes Mal, und ich sagte ihr oft: „Die Vergleiche müssen aufhören oder du hörst nichts mehr von mir.“

Vor jeder neuen Entfremdungsphase warnte ich meine Mutter auf diese Weise mehrfach vor. Ich sagte ihr, welches die Gründe für meinen Kontaktabbruch seien und wie es mir ging. Das erleben nicht alle Eltern so. In der Forschungsliteratur und den Anekdoten meiner Interviewpartnerinnen und -partner zeigt sich, dass viele Eltern ohne jede Vorwarnung verlassen werden. Herrscht völlige Funkstille, verlieren die Eltern nicht nur ihre Kinder, sondern auch mögliche Enkelkinder – denen dann wiederum der Kontakt zu den Großeltern fehlt.

Pingpongspiel mit der Schuldfrage

Emotionaler Missbrauch durch die Eltern – wie in meinem Fall – macht etwa 10 bis 15 Prozent der Gründe für eine Entfremdung aus. Das gibt es auch umgekehrt, wenn der emotionale Missbrauch von den Kindern ausgeht, die dann den Kontakt unter einem Vorwand abbrechen. In anderen Fällen geht es um Unterschiede im Lebensstil, moralische Werte und Erbstreitigkeiten. In diesen Grauzonen lässt sich nur schwer feststellen, wer wie viel Anteil an der Entfremdung hat. Ein Pingpongspiel mit der Schuldfrage ist ohnehin nicht hilfreich, wenn man sich versöhnen möchte.

Die Entfremdung von meiner Mutter entwickelte sich nach meinem Auszug schleichend. Wenn ich mich längere Zeit nicht meldete, war das für meine Mutter in Ordnung, solange ihre Beziehung mit meinem Stiefvater halbwegs lief. Lief sie schlecht, forderte sie mehr von mir. Dann fielen die alten Vorwürfe und Vergleiche. Aus unseren stundenlangen Streitgesprächen wurden lange Telefonate, die oft in Auseinandersetzungen endeten und sehr erschöpfend waren. Daraus wurden irgendwann nur noch SMS-Nachrichten. Auch die waren voll von harten Worten. Und irgendwann kam nichts mehr. Nicht von mir. Aber auch nicht von meiner Mutter.

Mal dauerte eine solche Phase Wochen, mal Monate, und immer wieder wagte ich mich mit zaghaften Kontaktversuchen vor. Ein paar Jahre nach meinem Auszug fuhr ich mit meiner Freundin an die Adria. Während ich im flachen trüben Meer watete, rief ich meine Mutter an, um ihr einen Gruß aus dem Urlaub zu schicken und sie das Meeresrauschen hören zu lassen. Meine Freude wurde sofort gedämpft. „Wie soll’s mir schon gehen? Claudia hätte mich mit ans Meer genommen, aber dir käme das ja nie in den Sinn“, tönte es aus dem Hörer. Ich wollte mein Mobiltelefon ins Meer schleudern.

Chance auf Versöhnung?

Eine solche Zurückweisung schmerzt und ist eines der ­Leitsymptome jeder Entfremdung. Doch anders als in ­meinem Fall trifft die Zurückweisung meist die entfremdeten Eltern, deren Kinder alle Kontaktversuche abschmettern. Laut Karl Pillemer gibt es noch drei weitere solcher schmerzhaften Symptome, die er im Family Estrangement & Reconciliation Project mit 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern identifiziert hat. Dazu zählen neben einer Kränkung auch chronischer Stress und die Trauer über den Verlust einer engen Bindung zu einem lieben Menschen. Davon sind Eltern wie Kinder betroffen. Besonders schwer wiegt die ­Ungewissheit darüber, ob die kaputte Beziehung jemals gekittet werden kann. Diese Ungewissheit schwebt auch heute noch über mir, obwohl ich weiß, dass eine Versöhnung nicht mehr möglich ist.

Etwa ein Jahr nach meinem Meer-Erlebnis versuchte ich eine Einzeltherapie, so wie viele Entfremdete. Die systemische Psychotherapeutin empfahl mir, eine Art Routinekontakt mit meiner Mutter einzurichten. Also rief ich meine Mutter immer donnerstags an. Doch das glückte nicht. Statt eines „Hallo“ kam sofort der Vorwurf, ich kümmere mich nicht um sie. Auch der Versuch, sie am Telefon auf klare Regeln einzustimmen, klappte nicht. Ich sagte: „Ich melde mich gerne häufiger, aber nur wenn du die Vorwürfe und Vergleiche lässt.“ Sie hörte meine Worte, doch es änderte nichts.

Bessere Beziehung zu dir und zu mir selbst

Karl Pillemer schreibt in seinem Buch Fault Lines. Fractured Families and How to Mend Them, dass die meisten entfremdeten Menschen – Eltern wie Kinder – zuerst eine Psychotherapie für sich allein suchen, um den Schmerz für sich zu verarbeiten. Diese Zeit half Pillemers Probandinnen und ­Probanden, ihr Selbstvertrauen aufzubauen und zu verstehen, was von der Beziehung realistisch zu erwarten war. Es gab auch einige Fälle, in denen sich nach einer solchen Phase zwei Entfremdete auf eine gemeinsame Familientherapie einließen und wieder versöhnten.

Unter den 300 Befragten zeigte sich laut Pillemer ein wichtiges Muster: Diejenigen, die die Entfremdung initiiert hatten, wollten meist einem Zustand chronischer Angst entfliehen. Das passe zu der Theorie von Murray Bowen, einem US-Psychotherapeuten, der die systemische Familientherapie mitbegründet hat. Einer der Kernpunkte der Bowen-Theorie: Menschen brechen den Kontakt zu Familienmitgliedern nicht aus einem Mangel an Gefühlen ab, sondern ganz im Gegenteil gerade weil die Emotionen für ihr Gegenüber so groß sind und sie erdrücken.

Ein Therapieziel ist deshalb oft, mit diesem Emotionsüberschuss umgehen zu lernen, bevor sich zwei entfremdete Familienmitglieder wieder annähern können. Ob dieser erste Schritt gelingt, hängt sehr vom Einfühlungsvermögen der Therapeutinnen und Therapeuten ab, wie eine britische Studie aus dem Jahr 2022 zeigte: Das Forschungsteam befragte dafür 46 entfremdete Eltern und Kinder, was bei ihrer Therapie geklappt hatte und was nicht. Wichtig war ein Gefühl von Wärme, Verständnis und Sicherheit, das von den Therapeuten ausging.

„Als besonders wertvoll empfinden es die Patienten, wenn ihnen ihre Therapeutinnen schwierige Familienkonstellationen erklären, bei denen Alkoholismus und Missbrauch stattfinden“, sagt die Psychologin Lucy Blake von der University of the West of England. Blake ist Erstautorin der Studie und hat zahlreiche Arbeiten über Eltern-Kind-Entfremdung veröffentlicht. „Am besten lässt sich diese Aufklärung mit konkreten therapeutischen Anleitungen für mehr Selbstvertrauen und eine bessere Beziehung zu sich selbst ergänzen.“

„Wir sind halt nicht kompatibel.“

„Was für unsere Probanden nicht funktionierte, waren therapeutische Ratschläge und Anleitungen, um die Beziehung wieder zu richten“, sagt Blake. Dass meine Telefon-Versöhnungsversuche nicht funktioniert haben, wundert die Psychologin nicht. Dabei zeigt gerade eine ihrer Umfragen, dass Eltern eher an eine Aussöhnung glauben als erwachsene Kinder. Mehr als die Hälfte der entfremdeten Kinder sagte: „Wir könnten niemals wieder eine funktionierende Beziehung zu Mutter oder Vater haben.“ Die Eltern sind da optimistischer: Nur etwa fünf Prozent glauben an diesen Satz.

Nach dem Gespräch mit Lucy Blake fällt mir auf: Meine Situation passt nicht so recht in die Statistik. Weder ich noch meine Mutter glaubten ernsthaft an eine Versöhnung. Hatten wir wieder einmal Streit darüber gehabt, wie sehr ich meinem Vater ähnele, sagte sie mir oft: „Du bist zwar mein Sohn und ich werde dich immer lieb haben, aber irgendwie passen wir nicht zusammen.“ Ich sagte dann: „Da sind wir einer Meinung. Wir sind halt nicht kompatibel. Dagegen lässt sich nichts machen.“ Der Gedanke half mir auch während längerer Entfremdungsphasen.

Was ist meine Verantwortung?

Generell ist ein Versöhnungsversuch aber nicht aussichtslos. Im Gegenteil. Hält man einige Regeln ein, stehen die Chancen dafür ganz gut. Ein paar dieser Regeln hat Cornell-Forscher Karl Pillemer in dem Family Estrangement & Recon­ciliation Project herausgefunden. „Erst mal sollten Sie den Gedanken begraben, dass Sie die unterschiedlichen Narrative des Erlebten auf eine Linie bringen können“, sagt er. „Nach Jahrzehnten lässt sich kaum mehr objektiv feststellen, was tatsächlich passiert ist. Fokussieren Sie sich stattdessen darauf, wie ihre Beziehung in Zukunft aussehen könnte.“

Wichtig sei auch, keine Entschuldigung als Voraussetzung für eine Versöhnung zu verlangen, so Pillemer. Eine erzwungene Entschuldigung fühle sich auf beiden Seiten falsch an und schiebe außerdem implizit die ganze Schuld dem Gegenüber zu. Erst nach einer geglückten Versöhnung sei eine Entschuldigung eine spürbare Erleichterung. Wer eine Versöhnung möchte, dem empfiehlt der Wissenschaftler einen Perspektivwechsel: „Hacken Sie nicht dauernd darauf herum, was Ihr Gegenüber falsch gemacht hat. Fragen Sie sich stattdessen: Welche Verantwortung trage ich an der Entfremdung?

In Pillemers Studie haben 100 von 300 Befragten mit diesen Techniken eine Versöhnung geschafft. Darunter befindet sich beispielsweise der Bericht eines Mannes, der nach etwa 30 Jahren Funkstille wieder Kontakt mit seiner Mutter aufgenommen hatte. Auf der Website des Projekts finden sich zahlreiche solcher anonymen Anekdoten, die eine Vielzahl von Gründen für Entfremdungen offenlegen: Erbstreitigkeiten, psychische Erkrankungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch in der Familie sowie unerfüllte soziale Erwartungen wie zu seltene Besuche.

Trotz der guten Erfolgsquote sagt Karl Pillemer: Ein Versöhnungsversuch ist nicht jedem Menschen zu empfehlen. Früh hat der Forscher unser Interview gedreht und mich ausführlich zu meinem Fall befragt. Ich beichte ihm, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, darüber zu reden. Dass es sich ein wenig wie Verrat anfühlt oder zumindest unfair, weil sich meine Mutter nicht verteidigen kann. Pillemer beruhigt mich: Das sei immer so. Die Standpunkte entfremdeter Familienmitglieder wichen so stark voneinander ab, dass ein perfekt balancierter Bericht unmöglich sei.

Zerplatzter Wunsch

Also erzähle ich ihm davon, wie sich das Verhältnis von mir und meiner Mutter im Laufe der Jahre von persönlichen Treffen auf erboste Telefonanrufe und schließlich auf SMS-Streits reduziert hatte. Wie oft ich versucht hatte, am Telefon ein freundliches Wort zu erhaschen, aber fast immer mit einem forschen „Wie soll’s mir schon gehen? Du meldest dich ja nie“ begrüßt worden war. Wie groß meine Enttäuschung gewesen war, als ich merkte, dass meine Mutter den Kontakt nur dann suchte, wenn sie etwas von mir verlangte. Wie sie einmal unangekündigt an meinem Arbeitsplatz aufkreuzte, um im Foyer vehement Geld von mir zu fordern.

Nach jahrelangen Vorwürfen, Beleidigungen und gescheiterten Gesprächen erkannte ich, dass ich mich totversucht hatte. Ich brach den Kontakt ganz ab. Nicht aus Rache. Nicht um meiner Mutter eins auszuwischen. Sondern um nicht daran zugrunde zu gehen. Pillemer hört aufmerksam zu. Zwischendurch schüttelt er leicht den Kopf, wenn ich ihm von meiner Geschichte erzähle. „In Ihrem Fall wäre da vermutlich nichts mehr zu machen gewesen“, so sein Eindruck.

Meinem Hirn ist das bewusst. Doch mein Herz leidet. Es ist genau diese Ambivalenz, die Entfremdungen so schwierig macht. Man weiß, dass die Beziehung unrettbar verloren ist, aber man wünscht und erhofft sich das Gegenteil. Dieser Wunsch zerplatzte schließlich abrupt. Anfang 2020 saß ich wegen einer Kopfverletzung im Krankenhaus, als eine SMS meiner Mutter eintrudelte. „Ich habe Lungenkrebs und werde bald sterben.“ Kurze, klare, schonungslose Worte, wie ich es von ihr gewohnt war. Neben mir liefen die Ärzte schon mit Atemschutzmasken durch die Gänge.

Abrupt und schmerzhaft

Als ich auf der Intensivstation eintraf, lag sie schon im künstlichen Koma. Pflegerinnen winkten mich durch die Hintertür hinein, obwohl das Krankenhaus während der Covid-19-Pandemie auch in Härtefällen nicht betretbar war. An den drei Tagen bis zu ihrem Tod konnte ich noch bei meiner Mutter sein. Mich für alles bedanken, was gut war. Mich für meine harten Worte entschuldigen, mit denen ich sie verletzt hatte. Ihr sagen, dass ich verstünde, wie schwierig ihre eigene Kindheit und Ehe gewesen waren und wie sehr sie unter dem Verlust von Claudia gelitten hatte. Ihr sagen, dass ich sie liebe.

Dieser abrupte Abschied schmerzt bis heute. Doch Wochen vor ihrem Tod hatten wir noch einen guten Moment gehabt. Während des Lockdowns rief sie mich an. Es war ein versöhnliches, warmes Gespräch. Meine Mutter entschuldigte sich am Telefon. Für alles, was nicht gut gelaufen war. Ich tat dasselbe. Es waren ehrlich gemeinte Worte von uns beiden zum Abschied. Einen Neustart werden wir nicht mehr kriegen. Aber vielleicht war dies die beste Versöhnung, die wir erreichen konnten. Wir wussten beide: Man kann anerkennen, dass man nicht kompatibel ist – und sich trotzdem lieben.

Quellen

Karl Pillemer: Fault lines: Fractures families and how to mend them. Avery2020

Weill Cornell Medicine Institute: Cornell Family Estrangement & Reconciliation Project

Oliver Arránz Becker, Karsten Hank:Adult children's estrangement from parents in Germany. Journal of Marriage and Family 84.1, 2022, 347-360.

Lucy Blake: Hidden voices: Family estrangement in adulthood. Stand Alone and the Centre for Family Research. University of Cambridge 2015. http://www.standalone.org.uk/wp-content/uploads/2015/12/HiddenVoices.FinalReport.pdf

Lucy Blake u.a.: An interview study exploring clients' experiences of receiving therapeutic support for family estrangement in the UK. Counselling and Psychotherapy Research, 23-1, 2023, 105–114

Rin Reczek u.a.: Parent-adult child estrangement in the United States by gender, race/ethnicity, and sexuality. Journal of Marriage and Family, 85.2, 2022, 494–517

Martin W. Angler: When Grief Doesn’t End. Aeon 2023

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2024: Die Straße der guten Gewohnheiten