Nicht mehr erreichbar

Eine Trennung ohne Ansage, das sogenannte Ghosting, scheint besonders in noch sehr jungen Beziehungen häufiger zu werden. Was hat es damit auf sich? ​

Die Illustration zeigt eine Frau, die verzweifelt sich an den Kopf greift, weil ihr Partner durch die Wand verschwindet und sich ohne vorherige Ansage von ihr trennt
Wie ein Geist durch die Wand verschwindet, so macht sich beim Ghosting ein Partner ohne Ansage aus dem Staub. © Tomas Fryscak

Julia lernte auf einer Datingplattform einen Mann kennen. Sechs Monate lang schrieben sie sich täglich und telefonierten häufig. Die junge Frau hatte das Gefühl, sie habe den Mann schon immer gekannt. Seine Stimme fand sie unendlich sympathisch, wie sie später der Autorin des Buchs Ghosting, Tina Soliman, berichtete. Nach einem so intensiven Austausch, so dachte Julia, könne nichts mehr schiefgehen, und sie traf sich mit dem Mann. Und nach den ersten beiden Treffen glaubte sie, den Menschen gefunden zu…

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beiden Treffen glaubte sie, den Menschen gefunden zu haben, der zu ihr passte.

Der Mann schien das auch so zu sehen: Noch nie habe er jemanden getroffen, mit dem er so offen und ehrlich über Gefühle sprechen könne, schwärmte er. Die beiden verabredeten sich zu einem dritten Treffen. Bis dahin versicherten sie sich gegenseitig, wie sehr sie sich darauf freuten, sich wiederzusehen. Julia kam pünktlich zum Treffpunkt, der Mann erschien nicht. Julia wartete eine Stunde, er meldete sich nicht. Nach zwei Stunden ging Julia verwirrt nach Hause und versuchte mehrmals, ihn telefonisch zu erreichen. Nichts. Am nächs­ten Morgen stellte sie fest: Er hatte sie überall, auch bei Facebook, gesperrt.  

In dem Forum Trennungsschmerzen.de schildert eine Userin eine ähnliche Erfahrung. Sie hatte über ein Datingportal einen Mann kennengelernt und traf sich mit ihm ein paar Mal. Er habe schnell sehr verliebt gewirkt, schreibt die Frau. Und sie verliebte sich, obwohl sie gleichzeitig noch Zweifel hegte, die sie aber ignorierte. Nach einigen romantischen Dates jedoch änderte sich sein Verhalten. Immer öfter hatte er keine Zeit, schrieb immer seltener Nachrichten, berichtet die Userin. Schließlich fragte sie ihn an einem Abend, was denn los sei. Darauf erwiderte er, es sei schon spät, er werde sich am nächsten Tag melden. – Danach kam nichts mehr von ihm.

Die beiden Frauen schildern eine Trennungsform, die es schon früher gab, die aber im digitalen Zeitalter sichtbarer wird: von einem möglichen Partner „geghostet“ zu werden, sprich von einer Sekunde auf die andere verlassen zu werden; ohne Ankündigung, ohne Erklärung – und stets, indem der Ghoster dafür sorgt, dass er für die verlassene Person nicht mehr erreichbar ist. Sei es, dass er die Accounts in den sozialen Medien für den Geghosteten blockiert, Anrufe nicht mehr entgegennimmt oder einfach auf nichts mehr reagiert.

Ob diese Art der Trennung mit der zunehmenden Nutzung von Datingplattformen häufiger wird, darüber gibt es noch keine belastbaren Zahlen. Die wenigen Umfragen, die existieren, belegen jedoch, dass zumindest die Mehrzahl der befragten 14- bis 29-Jährigen das Phänomen kennt. 

Eine Klientin des US-amerikanischen Psychotherapeuten Loren Soeiro berichtet aus der Perspektive einer Ghosterin: Sie sah im Ghosting eine „elegante Möglichkeit“, ihr Desinteresse an einem weiteren Kontakt zu zeigen. Sie verliere nach einigen Dates und dem ersten Sex das Interesse und antworte dann nicht mehr auf Textnachrichten oder Anrufe, berichtet Soeiro auf Psychology Today.

Wenn sie sich nicht mehr melde, könnten die Betroffenen genau das daraus schließen: dass sie kein Interesse mehr habe, erklärte sie ihrem Therapeuten. Sie fühlte sich wegen ihres Verhaltens zwar schuldig, doch sie sah darin keine moralische Verfehlung. Was sie definitiv nicht wolle: chaotische und anstrengende Diskussionen über die Beziehung. So sei es für diese junge Frau eine praktische Lösung, einfach zu verschwinden. 

Autorin Tina Soliman meint, Ghoster seien häufig genau diejenigen, die zu Beginn der Bekanntschaft den Kontakt forcierten. Beispielsweise kündigten sie oft an, ein gemeinsames Wochenende organisieren zu wollen, ohne jedoch konkreter zu werden. Fragten die Betroffenen dann nach, wann sie denn wohin kommen sollten, warteten sie vergeblich auf eine Antwort. Beziehungen ganz am Anfang seien besonders für Ghosting anfällig, berichten die US-amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Leah E. LeFebvre und ihren Kollegen in einer der ersten Studien zu dieser Frage.

Anfällige Beziehungsphasen

Kurz nach der ersten Begegnung sind potenzielle Partner damit beschäftigt, sich gegenseitig kennenzulernen. Was die beiden suchen, kann durchaus unterschiedlich sein: Manche wollen von Anfang an nichts Verbindliches, andere suchen genau das, wieder andere fühlen sich in dieser Hinsicht unsicher und wissen nicht so richtig, was sie wollen. Wie der Essener Paartherapeut Rüdiger Wacker erklärt, gibt es noch eine andere kritische Zeit: den „Übergang von Verliebtheit zur Liebe“: „Der hormonelle Rausch ebbt etwa nach einem Jahr ab und man wundert sich, dass der Himmel nicht mehr nur voller Geigen hängt.“

In dieser Zeit, sagt Wacker, gebe es zwei Möglichkeiten: Entweder entstehe eine tiefere Bindung oder es würden Konflikte sichtbar und der Spaß sinke merklich. Was wiederum bei manchen die Neigung befördere, sich dann sang- und klanglos davonzumachen.

Dabei ist häufig unerfüllbares Anspruchsdenken im Spiel. Im Virtuellen ist viel Raum dafür. Sehr oft berichten Betroffene, dass sie zunächst eine Zeit des intensiven digitalen Kontakts pflegten, bei dem eine große Nähe entstehe. Kommt es dann zu einem Offlinekontakt, erleben manche einen regelrechten Schock. „Dem unterliegen vor allem Narzissten und Romantiker. Sie wollen Glanz, keine Routine“, sagt Autorin Tina Soliman. Ein romantisches Beziehungsideal wirke verführerisch, aber die Realität sei auf Dauer „ohne Alltag und Kompromisse“ nicht zu haben. Es sei absurd, meint Soliman: Vor allem die „Überromantisierung der Liebe“ zerstöre sie.

Psychologen und Paartherapeuten beschreiben die beginnenden Liebesbeziehungen junger Erwachsener als fragil und von hohen Idealen bestimmt. Dies fand auch die US-Psychologin Gili Freedman am Dartmouth College in einer der wenigen Studien zum Thema Ghosting heraus. Die Forscher gingen von der Unterscheidung zweier verschiedener Beziehungsbilder aus, die uns prägen und die wir oft aus unserer Kindheit und Jugend mitbringen: Entweder nehmen wir an, Beziehungen seien entwicklungsfähig, könnten also wachsen und sich verändern.

Oder wir haben die Vorstellung, eine Beziehung sei so etwas wie eine „Bestimmung“, wozu unabdingbar der richtige, ideale Partner gehört (destiny belief). Freedmans Befragung von mehreren hundert Teilnehmern zeigte einen Zusammenhang zwischen der Bevorzugung der „Bestimmungstheorie“ und der Neigung zu ghosten.

Zum Geist werden und bleiben

Ghosting kommt in den ganz neuen, im Hinblick auf den Beziehungsstatus noch unklaren Partnerschaften also häufiger vor, ist aber durchaus nicht auf diese beschränkt. Tina Soliman erhält häufig Berichte, in denen Partner nach mehreren Jahren von jetzt auf nachher verschwinden – das tun, was man früher mit „mal eben Zigaretten holen“ umschrieb.

Und Paartherapeut Rüdiger Wacker berichtet von einer speziellen Art des Ghostings. Es kann sich innerhalb von Partnerschaften abspielen. Einer der beiden Partner taucht seelisch ab, verschwindet emotional, ist nicht mehr präsent. Er bleibt zwar äußerlich in der Beziehung, aber erreichbar ist er dennoch nicht – man könnte sagen, es handelt sich um eine Art „innere Kündigung“, bei der einer zum Geist wird. Nur ist dieser „Geist“ noch sichtbar. Dahinter stecke meistens Unzufriedenheit, erklärt Wacker, über die aber nicht gesprochen werde.

Häufig verbärgen sich ungeklärte, in der Beziehung weiterschwelende Interessenskonflikte hinter diesem Verhalten. Dies sei auch ein günstiger Nährboden für Affären. Das Schweigen ist zum Problem geworden: „Die Unfähigkeit oder der zu hohe Aufwand, über Probleme zu sprechen, hat letztlich einen der Partner zum Geist werden lassen – ohne das Wissen des anderen.“

Schweigen spielt offenbar eine große Rolle, wenn Beziehungen in eine Schieflage geraten. Vielen Ghostern fehlt das psychische Rüstzeug, Konflikte anders zu bewältigen als durch plötzliches Schweigen. Und es gilt: „Wer schweigt, bestimmt den Kontakt“, erklärt Soliman. Schweigen helfe dabei, das Gefühl von Kontrolle über die Beziehung zu behalten. Denn sich Konflikten oder Meinungsverschiedenheiten zu stellen, Aussprachen und Diskussionen durchzustehen bedeute oft, zu erfahren, dass man nicht so phänomenal ist, wie man sich selbst gerne sieht.

Kognitive Verrenkungen

Um sich keine Kritik einzufangen, sagen die Ghoster lieber nichts mehr, setzen stattdessen auf Flucht und beenden eine mögliche Beziehung, bevor sie richtig begonnen hat. Einsicht in dieses Geschehen haben sie allerdings selten. Das bestätigt auch Psychotherapeut Soeiro: „Ghoster nehmen oft ausgefeilte kognitive Verrenkungen auf sich, nur um sich selbst davon zu überzeugen, dass bei ihnen alles in bester Ordnung ist.“ Indem die Ghoster den Verlassenen das Schweigen aufzwingen und sich selbst zurechtreden, es sei alles okay, entkommen sie einem Gefühl der Ohnmacht. Den Geghosteten tut es dafür umso mehr weh. Das abrupt einsetzende und aufgezwungene Schweigen versetzt dann sie in ein Gefühl der Ohnmacht.

Für die Verlassenen ist Ghosting schwer zu verdauen. Julia hatte das Gefühl, dass die Welt unterging, als sie entdeckte, dass der Mann, den sie so gut zu kennen glaubte, sie kommentarlos auf allen Social-Media-Kanälen gesperrt hatte. Sie fühlte sich „wie eingefroren“ – und begann, sich Fragen zu stellen: Scheute er eine Bindung? Hatte sie etwas übersehen? Hatte sie ihn unwissend gekränkt? Sie fand keine Hinweise, keine möglichen Erklärungen. Wer ohne auch nur den Ansatz einer Erklärung aus dem Leben des anderen gestrichen wird, fühlt sich massiv vor den Kopf gestoßen, schuldig, verwirrt und hat keine Ahnung, was schiefgelaufen sein könnte. Es entsteht so etwas wie ein seelisches Vakuum, ein leerer Raum, in dem es nicht möglich ist, die gerade verlorene Beziehung überhaupt angemessen zu beurteilen.

Auch fehlen bei den kurzen Beziehungen vorherige Anzeichen, wie es sie in längeren Partnerschaften meist vor Trennungen gibt: Der Partner verbringt zunehmend mehr Zeit außer Haus, der Ton in den Gesprächen hat sich verschärft, ist unfreundlicher geworden, die Stimmung ist angespannt. Beide schauen sich kaum noch in die Augen und mindestens einer fragt sich, ob der andere vielleicht eine Affäre hat. Diese Anzeichen gibt es beim Ghosting oft nicht. Für den Geghosteten kommt es völlig unerwartet. Er oder sie stürzt aus dem Himmel der Verliebtheit in die Hölle des Verlassenseins. Das Gefühl, das sich dann einstellt: „Du bist niemand.“

Diese Verletzung geht umso tiefer, je häufiger eine Person schon ge­ghostet wurde. Die Folge kann sein, dass jemand zum Beziehungsvermeider wird. Der Verlassene hat keine Möglichkeit mitzubestimmen, mitzureden, zu fragen, denn er weiß bis zu dem Moment des Wegtauchens nichts davon.  

Wichtig ist, dass man versteht: Die Botschaft, die ein Ghoster hinterlässt, sagt ausschließlich über sie oder ihn etwas aus, nicht über den Verlassenen. Sie kann lauten: „Mir ist es zu stressig, mich für eine Beziehung anzustrengen.“ Oder auch einfach: „Ich habe genug.“ Noch eine Variante: „Ich will nur Spaß, keine Diskussionen.“ Solch ein Verhalten zeigen laut Paartherapeut Wacker besonders oft Menschen, die er „Trophäensammler“ nennt: „Sie sehen das Thema Beziehung eher quantitativ.“ Beziehungsangst kann auch ein Motiv sein: „Ich muss hier weg.“ Oder: „Ich werde hier vereinnahmt.“

Für den Verlassenen jedoch heißt all das nur eins: Der Ghoster ist zu dem Zeitpunkt zu einer verbindlichen Beziehung nicht willens und nicht in der Lage.

Trauern ist notwendig

Auch wenn die Begegnung nur kurz war, sollte man sich Raum geben zu trauern. Dafür braucht man liebevolle Menschen, die einem immer wieder zuhören, aber auch Trauerrituale wie das Verbrennen eines Fotos können hilfreich sein: „Dabei kann auch immer klarer werden, dass mir dieser Schaden von einem Täter zugeführt wurde. Auch wenn eine Unterlassungstat zunächst schwerer zu fassen ist, bleibt es eine Tat. Möglicherweise fahrlässig und nicht vorsätzlich, aber eine Tat“, so ordnet Rüdiger Wacker es ein. Welchen Weg man beim Trauern geht, ist individuell verschieden, für alle Geghosteten gilt aber: Auf gar keinen Fall versuchen, sich bei dem Ghoster nochmals zu melden.

Wie können Ghoster lernen, sich etwas fairer zu trennen? Tina Soliman sagt, sie müssten es selbst erleben. Die Erfahrung zeige: Wer einmal die Wirkung des Ghostings erlebt habe, tue es seinerseits nicht mehr. Dies hätten ihr sogar jahrelange „Abbrecher“ bestätigt.

Digitale Trennungen

Ob Orbiting oder Submarining – digitale Trennungsvarianten erschweren es, das Verlassenwerden zu akzeptieren und zu verarbeiten

Ghosting: Jemand verschwindet ohne Vorankündigung aus dem Leben eines anderen. Manche ändern ihre Handynummer, sperren ihre Social-Media-Accounts. Ghoster sind plötzlich nicht mehr erreichbar und melden sich nicht mehr. Der Begriff tauchte um 2015 in den US-amerikanischen Medien erstmals auf. 

Orbiting: Manche verschwinden zwar, bleiben aber emotional und online mit dem Geghosteten verbunden: etwa indem sie Bilder von sich posten und wissen, der andere sieht sie. Oder Artikel miteinander teilen. Sonst passiert nichts. Der Verlassene hängt an der „langen Leine“. Das führt dazu, dass beide Beteiligte blockiert sind, wenn es darum geht, die Augen für neue Partner offenzuhalten.

Breadcrumbing: Hier wird zusätzlich zur Beobachtung gelegentlich eine Textnachricht geschrieben. Ebenfalls eine Methode, den anderen emotional an der langen Leine und eine kleine Flamme am Köcheln zu halten. Auch diese Methode erschwert es, eine Trennung zu akzeptieren.

Submarining: Jemand taucht für lange Zeit, manchmal Jahre, völlig ab, reagiert nie. Plötzlich postet er doch wieder ein Foto der Verflossenen und führt sie in Versuchung, den Abgetauchten wieder in ihr Leben zu lassen.

Cushioning: Man hält sich mehrere Optionen offen. Dies wird leichter gemacht über Social Media. Wenn jemand nicht der „Volltreffer“ ist, fällt man selbst weich.

ZUM WEITERLESEN 

Tina Soliman: Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter. Klett-Cotta, Stuttgart 2019

Diana Pflichthofer: Trennungen. Psychosozial, Gießen 2017

Literatur und Quellen Ghosting, Psychologie Heute 8/2020

Tina Soliman: Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter. Klett-Cotta, Stuttgart 2019

Diana Pflichthofer: Trennungen. Psychosozial Verlag, Gießen, 2017

Loren Soeiro: 7 essential psychological truths about ghosting. Psychology Today online, veröffentlicht 25. Februar 2019

Lisa A. Phillips: The Endless Breakup. Psychology Today online, veröffentlicht 7. Mai 2019

Gili Freedman u. a.: Ghosting and destiny: Implicit theories of relationships predict beliefs predict beliefs about ghosting. Journal of Social and Personal relationships, 36/3, 2019. DOI: 10.1177/0265407517748791

Leah E. LeFebvre u. a.: Ghosting in emerging adult´s relationships: The digital dissolution disappearance strategy. Imagination, cognition and Personality, I-26, 2019. DOI: 10.1177/0276236618820519

Ruben Donsbach: Wie können wir uns gut trennen? Interview mit dem Paartherapeuten Rüdiger Wacker. Zeit online, veröffentlicht 8. August 2019

Onlineumfrage von Meinungsforschungsinstitut YouGov: https://today.yougov.com/news/2014/10/28/poll-results-ghosting/

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2020: Emotional durchlässig