Die Macht der Normalität

„Ist doch normal!“ Sarah Chaneys kluge Geschichte liefert Impulse, den eigenen Umgang mit dem Normalitätsbegriff zu überdenken.

„Sei nicht so empfindlich!“ „Ich muss lernen, meine Wut zu drosseln.“ Viele Menschen plagen sich tagtäglich mit solchen Sätzen und der Unsicherheit: „Was ist zu viel, was zu wenig – bin ich normal?“ Diese Frage ist Titel und Thema eines neuen Buchs von Sarah Chaney über die unsichtbare, fragwürdige, willkürliche und zugleich machtvolle Kategorie „Normalität“.

Der Abgrund des Durchschnittlichen

Chaney forscht und argumentiert als Historikerin. Doch der Untertitel ihres Buches: „Warum wir alle von dieser Frage besessen sind und wie sie Menschen abwertet und ausgrenzt“, verweist auf das kämpferische Interesse der britischen Autorin. Ihr geht es nicht nur um Erkenntnis, sondern auch um Veränderung, weil die vielfältigen, teils absurden und haltlosen Konzepte dessen, was als normal galt, dazu dienten, Menschen zu bewerten, auszugrenzen, in Kliniken oder Gefängnisse abzuschieben, in den Suizid zu treiben, zu töten. Durch die Jahrhunderte hinweg – bis heute.

„Normal“ – das klingt harmlos. Für viele Menschen ist es einfach das Vertraute, das Durchschnittliche oder das Meistvertretene. Aber eben auch das, was oder wie etwas sein sollte – und in dieser normativen Nuance zeigt sich der Abgrund, der in dem Begriff lauert.

Eine Sache der Machtverteilung

Die Studie setzt Anfang des 19. Jahrhunderts ein, blickt zurück ins 18. Jahrhundert und reicht bis zum Covidlockdown 2020. Betrachtet werden die Postulate eines sich ständig wandelnden „Normal“ – als prägende Kraft etwa von kolonialen Denkmustern, Krankheitsbildern, Schuldsprüchen – und das alltägliche Chaos von menschlichen Gefühlen und Beziehungen. Intensive Gefühle galten im 18. Jahrhundert als Zeichen von edlem Charakter und guter Erziehung, wurden zeitgleich aber bis ins 19. Jahrhundert hinein zu pathologischen Zuständen erklärt.

Und als im DSM-5 – der fünften Auflage des Diagnosemanuals für psychische Störungen der American Psychiatric Association – die Unterscheidung zwischen einer Depression und einer mehr als zwei Wochen andauernden Niedergeschlagenheit wegfiel, da fürchtete man, es könne Zeichen einer psychischen Erkrankung sein, länger als zwei Wochen nach dem Tod eines geliebten Menschen zu trauern. Ein extremes Beispiel, aber keineswegs die einzige bizarre Entdeckung in diesem ebenso inspirierenden wie aufrüttelnden Buch.

Dass Chaney größtenteils Quellen aus dem angloamerikanischen Raum heranzieht, mindert die Überzeugungs­kraft ihrer Argumente nicht. Auch im deutschsprachigen Raum dürften Normierungsprozesse meist geprägt und durchgesetzt worden sein von weißen Cis-Männern „aus gutem Haus“, die erfolgreich und zufällig gerade an der Macht waren. Die Empörung der Autorin angesichts dieser Umstände verleiht dem Buch eine belebende Dynamik – es ist fesselnd geschrieben und verändert auf eine erhellende Weise den Blick.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung
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