Das ewig hilfreiche Kind

Rutschen Kinder in die Rolle der Eltern, weil diese überfordert sind, hinterlässt das ein Leben lang Spuren. Ein Aufarbeitung der Kindheit kann helfen

Ein Vater liegt entspannt auf der Couch, während sein Kind gegenüber sitzt auf dem Sessel und dem Vater zuhört
Ziehen Eltern ihre eigenen Kinder als Gesprächspartner bei Problemen heran, hat das negative Auswirkungen auf ihr späteres emotionales Erleben. © Golden Cosmos für Psychologie Heute

Sie nennen sich selbst „zweite Mutter“ oder „dritter Elternteil“, „Familientherapeutin“ oder „Eheberaterin“. Manche fordern einen Ehrentitel in Psychologie. Unter dem Hashtag #eldestdaughter melden sich seit 2016 tausende Frauen in den sozialen Medien zu Wort, die als Kinder und Jugendliche in ihren Familien elterngleiche Tätigkeiten übernommen hatten und oft noch immer übernehmen.

Die älteste Tochter zu sein sei wie ein lebenslanges unbezahltes Praktikum, heißt es da in einem Social-Media-Kanal. Oder: Wohl…

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zu sein sei wie ein lebenslanges unbezahltes Praktikum, heißt es da in einem Social-Media-Kanal. Oder: Wohl jedes Problem auf Erden könnte in kurzer Zeit gelöst werden, wenn man nur ein Komitee von älteren Töchtern damit beauftragen würde, meint eine andere Userin. „Wir sollten eine älteste Tochter zur Präsidentin wählen“, fordert scherzhaft eine Frau. „Stellt euch die Möglichkeiten vor! Sie hält ganze Familien zusammen, und das im Alter von 12 Jahren. Wie schwer kann es sein, ein Land zu regieren?“

Es sind kecke Sprüche, hinter denen sich ein Abgrund auftut. Kinder, die von klein auf die Familie zusammenhalten, die wie eine weitere Mutter im Haushalt wirbeln und ihren Geschwistern psychologischen Beistand leisten. Im Fachjargon heißt das Parentifizierung. Der klobige Begriff wirkt wie einem Behördenlexikon entnommen und versteckt, wie sensibel das Phänomen dahinter ist. Jungen ebenso wie Mädchen verlassen ihre kindliche Position in der Familie und nehmen Aufgaben wahr, die eigentlich den Erwachsenen gebühren, nämlich der Mutter oder dem Vater. Doch nicht nur die ältesten Töchter und Söhne kennen dieses Phänomen. Und nicht nur sie klagen über die Folgen.

Von Krankheit zu Überlastung

Wie häufig sich in Familien die Rollen umkehren, dazu gibt es bislang nur ungenaue Hochrechnungen. In den USA, Großbritannien und Australien übernehmen Schätzungen zufolge rund vier Prozent der Kinder und Jugendlichen im Übermaß die Aufgaben ihrer Eltern, so beziffert es eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2007. Eine Forschungsgruppe aus Polen und den USA hat 2022 ebenfalls versucht, das Phänomen in Zahlen zu gießen – und landete bei deutlich höheren Werten. Knapp sieben Prozent der Jugendlichen übernahmen demnach gehäuft praktische Aufgaben im Elternhaus und einer von drei Jugendlichen hielt als emotionale Stütze oder Kummerkasten für die Eltern her. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten fast 48000 Schülerinnen und Schüler in Polen befragt.

Dass solche Rollenwechsel zwischen Eltern und Kindern keine Einzelfälle sind, lässt sich auch an den Konstellationen und Umständen ablesen, in denen es dazu kommen kann – denn diese sind zahlreich. Besonders gefährdet sind Kinder von psychisch erkrankten Müttern oder Vätern, von denen es etwa drei bis vier Millionen in Deutschland gibt. Ein Vater mit Wahnvorstellungen hat in akuten Phasen keinen Sinn für kindliche Belange, weiht das Kind vielleicht sogar in seine paranoiden Ängste ein, die es nicht versteht.

Die Mutter ist derweil mit eigenen Gefühlen und der Situation überfordert. Schnell wird das Kind zum Vernünftigen, zur Haushaltshilfe und zur Schulter zum Anlehnen. „Mir berichtete mal ein Klient, schon als 6-Jähriger für seine drogenabhängigen Eltern das Heroin besorgt zu haben“, sagt die systemische Psychotherapeutin Christina Hunger-Schoppe, die als Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke unter anderem zu Familien­dynamiken forscht.

Auch wenn ein Bruder oder eine Schwester schwer krank ist, eine Behinderung oder psychische Störung aufweist, sind die Ressourcen von Eltern oft am Limit, so dass sich das gesunde Kind anpasst und in eine Erwachsenenrolle rutscht. Gleiches kann geschehen, wenn Vater oder Mutter körperlich erkranken. Eine ältere Übersichtsarbeit aus Deutschland hat festgestellt, dass das Einfühlungsvermögen solcher Eltern häufig erschöpft ist und sie Signale der Not von ihren Kindern nicht mehr wahrnehmen.

Scheidungs- und Nachkriegskinder

Häufig erleben auch Jungen und Mädchen, deren Eltern sich trennen, einen Wechsel der Rollen. Umzug, ­Geldprobleme, die emotionale Verletzung durch die Trennung: All dies verhindert mitunter, dass Eltern sich ihren Kindern wie gewohnt zuwenden. Ebenso neigen nicht wenige dazu, die eigenen Sorgen bei den Kindern abzuladen. „Es ist nur menschlich, wenn eine alleinerziehende Mutter sich jemanden auf partnerschaftlicher Augenhöhe zum Reden wünscht, und das in ihren Augen der Sohn sein könnte. Diese Gedanken sind in Ordnung – danach dauerhaft zu handeln nicht“, sagt Expertin Hunger-Schoppe.

Die Ursachen für eine Parentifizierung können aber auch Generationen zurückreichen. Davon berichtete schon die Journalistin Sabine Bode in ihren Büchern über Kinder in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Ein Großteil dieser Minderjährigen wuchs damals entweder ohne oder mit einem seelisch gebrochenen Vater auf, viele mit einer traumatisierten Mutter. In ihrem Buch Nachkriegskinder schreibt Bode: „War der Vater im Krieg gefallen, sah sich das Kind der Mutter gegenüber in der Rolle des Tröstenden – seinen eigenen Schmerz musste es unterdrücken. Fest stand: Als Kind durfte man nicht zusätzlich Sorgen bereiten, sie hatte es schon schwer genug.“

Ein Erbe, das bis ins Heute reichen kann. Frühe Erfahrungen, die wir im Miteinander mit unseren Eltern gemacht haben, stellen die Weichen dafür, wie wir unsere künftigen Beziehungen gestalten – seien es Freundschaften oder Partnerschaften –, und auch dafür, wie wir mit unseren eigenen Kindern umgehen. In einem Forschungsbericht unterstreicht die Psychologin Judyta Borchet von der Universität Danzig, die in großem Umfang zu Parentifizierung forscht, dass Menschen das erlebte Modell der Familienbeziehungen und -hierarchien sehr wahrscheinlich wiederholen. „Parentifizierung wird über Generationen weitergereicht.

Die jetzigen Kriege auf der Welt verrichten das gleiche Werk. Zusätzlich gehören Kinder, die mit ihren Familien geflüchtet sind, zu einer besonders gefährdeten Gruppe. Die Erlebnisse und Erinnerungen reisen mit, dramatische Erfahrungen von der Flucht kommen hinzu – und lassen die Eltern oft emotional erstarren. Zugleich leben sich die Jungen und Mädchen häufig schneller in die unbekannte Umgebung und Kultur ein als die Eltern, lernen die neue Sprache leichter, so dass sie eine Art Guide für die Erwachsenen im neuen Land werden. Sie übersetzen bei Behörden, in der Schule, mitunter auch bei psychologischen und sozialen Hilfeeinrichtungen. Sie sind dadurch direkt in Probleme involviert, die zu lösen und zu durchdringen eigentlich die Aufgabe der Erwachsenen wäre.

Über Generationen weitergereicht

Doch Parentifizierung kann sich auch in Familiendynamiken verbergen, die weniger offensichtlich schwierig sind. Wenn Eltern zum Beispiel eigene Lebensziele, die sie nicht erreicht haben, an Sohn oder Tochter delegieren. Sicherlich ein gängiges Phänomen, wenn die Schulbildung zunächst hintanstand und dann immer wichtiger wurde. „Du sollst es mal besser haben als ich und studieren“, kann dann so ein Auftrag ans Kind lauten.

Oder er kommt moderner und subtiler daher: „Auf Instagram begegnen mir immer öfter Bilder von Müttern, die ihre Töchter genauso kleiden, schminken und frisieren wie sich selbst. Das halte ich für dysfunktional“, berichtet Anna-Lena Zietlow, Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der TU Dresden. Die kleinen Mädchen würden instrumentalisiert und erhielten die implizite Aufforderung, eine Erwachsenenrolle einzunehmen sowie die Bedürfnisse der Mutter, nämlich nach einem Ebenbild, zu erfüllen.

Wie viel Geld eine Familie hat, spielt nicht unbedingt eine Rolle, wenn man versucht zu ergründen, woher die Rollenumkehr rührt. Ja, es gibt Kinder, die schon früh arbeiten gehen, um das Familienbudget aufzubessern. „Der sozioökonomische Status ist aber nur bedingt relevant, wenn es um Parentifizierung geht“, sagt Christina Hunger-Schoppe. In Familien ohne finanzielle Nöte, wo vor allem Leistung zählt und Eltern sich ihrem Beruf verschrieben haben, könne es genauso zu wenig Zuwendung geben.

Hauptsache Verbindung spüren

Vom Alltag stark gestresste Eltern, die wenig daheim sind, hinterlassen ­mitunter Kinder, die sich wie eine Mutter um die Geschwister kümmern. Sie versuchen, ihren Eltern keine Belastung zu sein, sind angepasst und pflegeleicht. Auch ihnen fehlen Fürsorge und Liebe, stattdessen lasten hohe Erwartungen auf ihnen, die ihrem Alter nicht gerecht werden.

Letztendlich gibt es zig Szenarien, in denen Eltern an ihre Grenzen kommen, nicht (mehr) mitfühlend und aufmerksam sein können oder wollen: viel Streit mit dem Lebenspartner; ein vereinnahmender und kräftezehrender Job; ein Elternteil erkrankt schwer. Die Rollenumkehr ist dann eine Art Bewältigungsmechanismus, der in Familien anspringt und ihnen sozusagen hilft, durch die Situation hindurchzukommen – allerdings auf Kosten der Kinder.

Auf der Strecke bleiben eigene Hobbys, Freundschaften oder auch die Schulaufgaben. Versinkt das Zuhause im Chaos, kann es den Kindern ein Gefühl von Kontrolle geben, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wenn ihre Eltern ihnen nicht die Nähe und Liebe geben, die sie brauchen, dann schließen sie diese Lücke, indem sie ihnen helfen oder sich ihre Probleme anhören. Jeder Akt, der verbindet, ist dafür recht. Und sei es, dass sie dafür ihr Kindsein aufgeben.

Geschwister hüten statt Sportverein

Doch ab wann ist es eigentlich zu viel? Wo hört eine Erziehung zur Selbständigkeit auf und beginnt eine destruktive Rollenumkehr? Was ist für Kinder eine angemessene Herausforderung und ab welchem Punkt sind sie überfordert, nehmen Schaden? Den Müll hinunterbringen, den Tisch decken oder beim Bäcker Brötchen holen – das gehört zum Heranwachsen dazu. Auch dass Eltern ihre Kinder ein Stück weit in Probleme der Familie einweihen, etwa wenn die Mutter ihren Job verloren hat oder der Bruder an Asthma erkrankt ist. Doch was, wenn ein 8-Jähriger den gesamten Haushalt wuppt, putzt, wäscht, einkauft und kocht? Was, wenn eine 10-Jährige nicht nur vom Jobverlust der Mutter erfährt, sondern diese vom Kind Trost und Lösungsvorschläge erwartet?

Fakt ist: Parentifizierung ist ein Begriff, der mittlerweile bei Familiengerichten häufig im Protokoll steht, etwa in Scheidungsprozessen oder wenn das Kindeswohl gefährdet ist. „Die Rollenumkehr ist ein spezieller, aber auch ein klarer Fall von Missbrauch“, sagt Raphael Höfinger, angehender Psychotherapeut in Wien. Er thematisiert Parentifizierung auf seiner Praxiswebsite, weil es ihm ein persönliches Anliegen ist, darüber zu informieren. Die Bedürfnisse des ­Kindes würden bei solchen Familiendynamiken schlichtweg übergangen oder ignoriert. In der psychologischen Forschung gilt Parentifizierung als emotionaler Missbrauch, mitunter gar als potenzielles Trauma.

Der emeritierte Psychologieprofessor Gregory Jurkovic von der Georgia State University in den USA hat Ende der 90er Jahre Merkmale einer Rollenumkehr herausgefiltert, die dafür entscheidend sind, ob ein Kind die elterliche Rolle unbeschadet verkraften kann. Zum Beispiel: Muss sich das Kind um ein Elternteil kümmern oder beide bemuttern? Oder gar die gesamte Familie mit Geschwistern? Maßgeblich ist auch, wie tief das Kümmern bereits im Selbstbild verankert ist, ob ein Junge oder Mädchen sich also schon gänzlich mit seiner Position in der Familie als Stütze und Fels in der Brandung identifiziert. Wer in Konflikte oder Probleme der Eltern eingebunden wird, den prägt das meist besonders nachhaltig – und negativ.

Orientierungslos und unsichtbar

Diese emotionale Parentifizierung gilt als schädlicher, gar zerstörerisch. Sie ist oft versteckt und schwerer zu erkennen. Wenn ein Kind den Haushalt stemmt, ist das sichtbar. Bittet ein Vater seinen 12-jährigen Sohn abends um Rat im Zwist mit seiner außerehelichen Affäre, bekommt das meist keiner mit. Das Bedrückende an der Parentifizierung ist dann nicht nur, dass ein Kind unangemessene Tätigkeiten oder unpassende Positionen in der Familie übernimmt, sondern auch, dass durch die Umkehr der Rollen die üblichen Grenzen zwischen Kind und Eltern verschwimmen. Kinder finden sich plötzlich auf Augenhöhe mit Mutter oder Vater, vielleicht sogar oberhalb von ihnen. Woran können sie sich dann orientieren?

Ob dies Narben oder nur Spuren hinterlässt, hängt davon ab, wie das Kind selbst die Situation empfindet. Halten sich also Geben und Nehmen die Waage? Fühlen sich Kinder trotz der Belastung verstanden und kommen ihnen die Eltern zu Hilfe bei eigenen Problemen? Dann kann das ein Puffer sein, ebenso wenn sich Eltern dankbar für die Unterstützung der Kinder zeigen und die verdrehten Rollen offen ansprechen. Eine Schieflage entsteht jedoch, wenn die Kinder das Gefühl bekommen, sich nicht auf die Eltern verlassen oder ihnen nicht trauen zu können, ihre eigenen Empfindungen ungesehen bleiben oder sie sich nicht ernst genommen, ja sogar im Stich gelassen fühlen.

Eine klare Grenze sieht die Kinderpsychologin Anna-Lena Zietlow zudem überschritten, wenn ein Kind durch die Erwachsenenrolle in seiner Entfaltung eingeschränkt wird: „Sobald für das Kind anstehende Entwicklungsschritte verhindert werden, etwa weil ein Kind regelmäßig seinen Bruder betreuen muss, statt in einen Sportverein zu gehen oder Freundinnen zu treffen, halte ich die Rollenumkehr für schädlich.“ Je früher solch eine Verantwortung übernommen werden muss, je länger es andauere und je weniger Unterstützung es von außen gebe, desto mehr Schaden richte die Situation bei den Kindern an.

Selbständige Vorzeigekinder

Der entscheidende Punkt ist dabei: Wie viel Erwachsensein kann ein Kind ertragen? Ist es überhaupt in der Entwicklung schon so weit, körperlich und seelisch? Kann eine 9-Jährige die Ehe ihrer Eltern kitten? Nein, aber sie wird es versuchen. Kann eine 13-Jährige ihren Geschwistern die Mutter ersetzen? Ebenfalls nein, aber auch sie wird es versuchen – und vermutlich einen hohen Preis dafür zahlen. „Sagen Sie mal einem 6-Jährigen, er soll mit dem Auto zum weit entfernten Supermarkt zum Einkaufen fahren. Es wird ihn überfordern, sowohl motorisch als auch geistig“, skizziert Hunger-Schoppe ein drastisches Szenario.

„Wenn Sie dann dem Jungen noch signalisieren: ‚Es ist wichtig, dass du das machst, wir brauchen etwas zu essen‘, dann erlebt er sich als inkompetent, fühlt sich kleiner, ist verzweifelt, wird depressiv.“ Er möchte ja seinen Eltern helfen, er möchte, dass es allen gutgeht – und kann es doch nicht erreichen. Der Fall sei zwar nur eine überspitzte Fiktion, aber beschreibe, was in Kindern vorgeht, wenn man ihnen etwas auflastet, das ihre Fähigkeiten übersteigt.

Dennoch: Wo die Grenze zwischen einer schädlichen und einer ungefährlichen Parentifizierung zu ziehen ist, ist nicht eindeutig. Was im Inneren der Kinder geschieht, wenn sie in die zu großen Schuhe steigen, ist von außen nicht sichtbar und auch schwer zu bemessen. Es sind oft die besonders unauffälligen, mitdenkenden und selbständigen Jungen und Mädchen – Vorzeigekinder. Die Kinder selbst merken zwar meist, dass etwas nicht stimmt, aber greifen können sie es noch nicht.

Unbemerkte Wurzel weiterer Probleme

„Das Kind kennt es ja nur so. Viele verstehen erst als Erwachsene, was passiert ist, oftmals wenn sie zufällig von Parentifizierung lesen oder in einer Psychotherapie sitzen“, erklärt der Wiener Psychotherapeut Raphael Höfinger. Er vergleicht seine Praxis in diesem Kontext oft mit einem Laden: „In dem Schaufenster steht nicht Parentifizierung, das ist also nicht der Grund, warum die Menschen hineinkommen. Doch wenn sie eintreten und das Thema im Laden entdecken, ist es das, warum sie hier länger verweilen“, sagt er.

Psychologinnen beschreiben zwei Mechanismen, die im Hintergrund ablaufen und oftmals in einer Psychotherapie aufgearbeitet werden. Erstens: Das Kind übernimmt die Verantwortung; etwas zu bewirken, anderen vermeintlich Gutes zu tun wertet es innerlich auf. Es fühlt sich wirksam, hilfreich und gebraucht. Es lernt aber zugleich: Ich bin nur etwas wert, wenn ich nützlich bin. Zweitens: Die Jungen und Mädchen stoßen immer wieder unsanft an ihre Grenzen.

Wer zum Beispiel einkaufen geht, muss nicht nur Geld haben, sondern auch Scheine und Münzen sowie deren Wert kennen und dann noch die Preise der Lebensmittel zusammenrechnen können. Mit vier Jahren eine immense Herausforderung. Auch die Depression des Vaters kann ein Kind nicht lindern und wird es trotzdem versuchen. Scheitern die Kinder oder erleben sich als unfähig, entsteht ein Gefühl von Minderwertigkeit. Schuldgefühle stellen sich ein: nicht hilfreich zu sein, den Eltern im Weg zu stehen. Gefühle, die die Kinder nicht mehr loslassen. Denn sie konnten dem Liebsten, was sie haben, nicht helfen.

Versöhnung mit der Vergangenheit

In der Behandlung von parentifizierten Menschen nutzt Psychotherapeut Höfinger aus Wien oft einen Fragebogen, auf dem Patientinnen und Patienten drei Fragen beantworten sollen: Was will ich? Was wünsche ich mir nicht, ist aber in Ordnung? Was will ich nicht? „Meist bleibt das Blatt leer, vor allem die erste Frage bleibt fast immer unbeantwortet“, sagt er.

Viele kennen ihre Bedürfnisse nicht, wissen nicht, was ihnen gefällt oder Spaß macht. „Sie können höchstens formulieren, was sie nicht wollen. So kommen sie oft auch in die Behandlung: Sie wollen nicht mehr depressiv sein.“ Mit den Menschen herauszuarbeiten, was sie interessiert, was sie im Leben, im Beruf oder in Partnerschaften wollen, sei eine Knochenarbeit – und dauere oft lange.

Wer nicht gelernt hat, seine Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, wird ihnen später nur bedingt folgen und sie schwer regulieren können. „Die Kinder haben keine Vorbilder, sie sind selbst auf dem Gipfel und schauen auf die Eltern hinab“, sagt Psychotherapieprofessorin Hunger-Schoppe. Psychische Beschwerden sind oft die Folge, sie zeigen sich aber häufig erst später. In ihrer Dissertation am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg hielt Agnieszka Hausser 2012 die noch immer aktuelle Studienlage fest: „Je stärker die Kinder parentifiziert wurden, desto stärker war die Ausprägung von vor allem Ess-, Angst- und Persönlichkeitsstörungen in der Adoleszenz.“

Um die seelische Gesundheit der Betroffenen im Erwachsenenalter zu untersuchen, befragten Forscherinnen und Forscher aus Deutschland und Polen 975 Männer und Frauen, die in einer psychosomatischen Klinik oder bei Hausärzten in Behandlung waren. Wer als Kind vor allem seine Mutter trösten musste oder zum Beispiel deren Zorn über die Welt oder den Ex-Mann ausgesetzt war, litt später eher unter einer Depression – je intensiver die elterliche Vereinnahmung, desto wahrscheinlicher. „Fast alle Psychotherapeutinnen und -therapeuten kennen aus ihrer Praxis Menschen, die eine Rollenumkehr in der Kindheit erlebt haben. Das ist ein sehr häufiges Thema“, bestätigt auch Kinderpsychologin Zietlow.

In sich reinspüren lernen

Ein Kernanliegen in der Behandlung ist, dass die Betroffenen lernen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, sie zu erkennen und ihnen zu folgen. Auch wer ohne Psychotherapie die alten Muster durchbrechen möchte, kann das angehen. Für manche ist es schon eine hilfreiche Übung, Tagebuch zu schreiben. Auf diese Weise trainieren sie, sich ihren Gedanken und Gefühlen Tag für Tag anzunähern. Eine weitere Möglichkeit, den Blick nach innen zu schärfen, ist, mehrmals täglich innezuhalten und sich zu fragen: Wie geht es mir gerade? Sendet mein Körper Signale? Brauche ich etwas Bestimmtes? Das kann ganz einfach ein Schluck Wasser sein oder auch der Drang, sich mal zu strecken.

Durch Fragen kommt man dem eigenen Befinden immer wieder auf die Spur. Was möchte ich heute für mich tun? Oder weitergedacht: Was möchte ich im Leben erreichen? Was bereitet mir wirklich Freude? Ebenfalls wichtig: Wer tut mir gut? Und wenn einen jemand um Hilfe bittet: Möchte ich wirklich helfen? Oder liegt mir das Ja auf den Lippen, weil ich der Person gefallen möchte? Die Antworten weisen den Weg hin zu den eigenen Bedürfnissen. Ihnen mehr Gehör zu schenken und ihnen nachzugehen ist dann der nächste Schritt. Auch dafür braucht es oftmals geduldiges Üben, aber jeder und jede kann das lernen.

„Wer zu sich sagt: ‚Es darf mir gutgehen, obwohl ich meine Eltern nicht glücklich machen kann – und es darf mir auch dann gutgehen, wenn es anderen schlechter geht als mir‘, hat eine solide Basis für eigenes Glück“, sagt der hypnosystemisch arbeitende Supervisor Johannes Faupel aus Frankfurt am Main. Er widmet dem Thema Parentifizierung sogar eine umfangreiche Website (parentifizierung.de).

Ob mit oder ohne professionelles Zutun: Aus den vorbildlichen Kindern werden oft vorbildliche Erwachsene. Sie sind in großem Maße hilfsbereit und einfühlend, selbständig und unabhängig. „Das sind in Hochleistung geschliffene Fertigkeiten“, betont Raphael Höfinger. Er würde sie jedoch nicht als positive Effekte der Parentifizierung bezeichnen. „Ich sage meinen Patientinnen und Patienten immer: Das sind Ressourcen, die Sie erlangt haben, sie stehen Ihnen zu. Dafür haben Sie gelitten. Sie dürfen sie nutzen.“

Das Selbstbild stärken

Und tatsächlich: Nicht wenige ergreifen Berufe, in denen sie diese Fertigkeiten einsetzen können. Eine Umfrage unter 265 niederländischen Psychologiestudierenden ergab 2017, dass diese als Kinder deutlich öfter parentifiziert wurden als Gleichaltrige aus anderen Studiengängen.

Die früheren Erfahrungen aus einer neuen Perspektive zu beleuchten gehört häufig zur psychotherapeutischen Behandlung dazu. Nicht wenige der Betroffenen folgen dieser Strategie automatisch, wenn sie älter werden. „Die damaligen Schwierigkeiten positiv zu umrahmen kann ein bewusster Akt sein, um das eigene Selbstbild zu schützen und zu stärken“ – so fasst es die polnische Psychologin Judyta Borchet mit ihrem Forschungsteam in einer Studie zusammen.

Nicht verwunderlich also, dass sich die ältesten Töchter unter dem Hashtag #eldestdaughter mit den US-Marines vergleichen und das Präsidentenamt eine Leichtigkeit nennen. Sie wissen auch: Der allererste Schritt zu einer Versöhnung mit der Vergangenheit und mit dem Kind, das nicht Kind sein durfte, ist, die eigenen Erfahrungen und Verluste anzuerkennen – aber auch dass andere ihr Leid anerkennen.

Eine parentifizierte Frau unter den ältesten Töchtern streckt deshalb allen anderen, die als Kinder zu Eltern wurden, die Hand aus. Sie schreibt in einem Post: „Es tut mir leid, dass du nicht genug wertgeschätzt wirst, dass du für selbstverständlich gehalten wirst. Dass es dich erstickt. Ich fühle mit dir. Ich respektiere dich. Du bist so stark.“

Lesen Sie hier drei Fallgeschichten von Frauen, die selbst von Parentifizierung betroffen sind, darunter auch die Geschichte von Beltz-Autorin Inke Hummel.

Hier finden Sie Tipps für Erwachsene im Umgang mit Ihren Eltern nach Fällen von Parentifizierung.

2 Formen der Parentifizierung

Übernehmen Kinder vor allem praktische Aufgaben im Haushalt, erleben sie eine instrumentelle Parentifizierung. Sie kaufen ein, putzen und kochen. Die Geschwister zu beaufsichtigen oder gar zu erziehen zählt ebenfalls dazu. Als deutlich schädlicher gilt die emotionale Parentifizierung, wenn Kinder ihre Eltern trösten, als Gesprächspartner für Probleme dienen oder wichtige Entscheidungen anstelle der Eltern treffen.

Quellen

Judyta Borchet u.a.: Parentification in polish adolescent: A prevalence study. Journal of Child & Adolescent Trauma, 15, 2022, 567-583. DOI: 10.1007/s40653-021-00411-8

Judyta Borchet u.a.: We are in this together: retrospective parentification, sibling relationship, and self-esteem. Journal of Child and Family Studies, 29, 2020, 2982-2991. DOI: 10.1007/s10826-020-01723-3

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Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Klett-Cotta, Stuttgart 2009.

Sabine Bode: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. 14. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2011.

Emilia Geiger u.a.: Kinder psychisch kranker Eltern. Ausbau der Versorgung einer oft vergessenen Risikogruppe. Hessisches Ärzteblatt, 11, 2021. 624-629.

Agnieska Hausser: Die Parentifizierung von Kindern bei psychisch kranken und psychisch gesunden Eltern und die psychische Gesundheit der parentifizierten Kinder. Dissertation, Universität Hamburg, 2012.

Inke Hummel und Julia Theeg. Wir erwachsenen Trennungskinder. Beltz, Weinheim 2023.

Lisa Hooper und Scyatta Wallace: Evaluating the Parentification Questionnaire: Psychometric properties and psychopathology correlates. Contemporary Family Therapy: An International Journal, 32/1, 2010, 52–68. DOI: 10.1007/s10591-009-9103-9

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Sabine Wagenblass und Christian Spatscheck: Kinder psychisch erkrankter Eltern. Psychiatrie Verlag, Köln 2023.

Internetauftritt zu Parentifizierung von Raphael Höfinger: www.psychotherapie-hoefinger.at/parentifizierung

Internetauftritt zu Parentifizierung von Johannes Faupel: www.parentifizierung.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2023: Das ewig hilfreiche Kind