Parentifizierung: Drei Fallgeschichten

Wer als Kind die Rolle der Eltern übernehmen musste, merkt die Folgen manchmal ein Leben lang. Drei Betroffene berichten

Die Illustration zeigt ein Mädchen, dass in der Küche fürsorglich seinem kleinen Bruder ein Brot schmiert und gibt
Müssen Kinder sich früh selbst um den Haushalt kümmern, kann das im Erwachsenenalter zu Problemen führen. © Golden Cosmos für Psychologie Heute

Inke Hummel, 45 Jahre

Sie weiß aus eigener Erfahrung, was eine Trennung der Eltern für Kinder bedeuten kann. Das hat sie viel gekostet - später aber auch zu neuen Fähigkeiten geführt

Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich etwa 10 Jahre alt war. Ich habe dann bei meiner Mutter gewohnt und meinen Vater an den Wochenenden besucht, später, weil wir weggezogen sind, in den Ferien. Ich habe früh begonnen, mich emotional um meine Eltern zu kümmern. Mein Vater war unfassbar getroffen von der Trennung und…

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mich emotional um meine Eltern zu kümmern. Mein Vater war unfassbar getroffen von der Trennung und hat mich das stets spüren lassen.

Wenn ich von der Schule, meiner Freizeit, von zu Hause, also meinem Alltag erzählt habe, war er immer ganz traurig. Also habe ich angefangen, mir immer genau zu überlegen, was ich berichten kann. Nach den Besuchen bei ihm habe ich im Zug nach Hause erstmal geheult. Es hat mich jedes Mal so fertig gemacht. Gesagt habe ich das aber nie jemand. Auch nicht meiner Mama.

Sie ging Vollzeit arbeiten. Ich habe versucht, von ihr jegliche Belastung fernzuhalten. Wenn Lehrerinnen oder Lehrer mal Redebedarf hatten, habe ich meist mit ihnen gesprochen. Es gab nichts Gravierendes, ich war immer eine unauffällige Schülerin. Ab Mittag nach der Schule war ich allein zu Hause. Meist habe ich eingekauft und mir was gekocht, hauptsächlich Nudeln. Vorgekocht war eigentlich nie etwas.

Ich habe auch Arzttermine selbst vereinbart und bin allein hingegangen. Als Jugendliche hatte ich eine Essstörung und dadurch Kreislaufprobleme. Die Ärztin hat mir ein Medikament dagegen verschrieben. Ich habe es mir aus der Apotheke geholt und eingenommen. Davon habe ich meiner Mutter nicht erzählt, sie hatte damit nichts zu tun. Aber insgeheim habe ich mir gewünscht, dass mal jemand mit in die Praxis geht.

Alles muss watteweich

Als ich ausziehen wollte, habe ich das lange vor meiner Mama geheim gehalten. Ich habe alles allein eingefädelt, bis ich die Wohnung hatte und nur noch ausziehen musste. Ich habe es herausgezögert, weil ich dachte, dass ihr das schlechte Gefühle macht und das wollte ich ja nicht. Am Muttertag habe ich es ihr dann gesagt, nachdem ich ihr etwas Kleines geschenkt hatte. Wir zelebrieren diesen Tag sonst nie. Meine Mutter hat es gut aufgenommen und mir dann auch mit dem Rest geholfen.

Ich habe mit meinen Eltern auch sonst jeglichen Streit vermieden, alles musste immer watteweich sein. Bloß keine Konflikte. Das ist bei mir heute oft noch so. Für Beziehungen, Freundschaften und mit meinen Kindern ist das aber nicht gut. Man löst auf diese Weise keine Probleme. Mittlerweile gehe ich ganz bewusst in Diskussionen. Das ist harte Arbeit.

Kürzlich fragte mich eines meiner Kinder – alle schon im Teenie-Alter –, warum ich sie immer überall abholen möchte. Ich glaube, das kommt daher, dass mich früher nie jemand abgeholt hat und ich das aber gerne wollte. Mein erster Freund wohnte damals etwas außerhalb, die Busse fuhren selten und meine Mama hatte keinen Führerschein. Ich wollte nicht, dass sie für mich ihren Freund fragen muss, ob der mich abends abholen kann. Also bin ich spätabends häufig allein durch den Wald nach Hause.

Geblieben ist von damals auch, dass ich mich gut in Menschen einfühlen kann und schnell merke, dass jemanden etwas umtreibt. Ich berate heute beruflich Eltern und Familien zu Erziehungsthemen, dabei hilft mir das sehr.

Frances Hausmann*, 60 Jahre

Sie konnte sich als Kind nicht an ihre Mutter anlehnen, sondern musste sie im Alltag emotional und in praktischen Dingen stützen. Erst in der Therapie erkannte sie das Ausmaß dieses Rollenwechsels – und seine Folgen

Mit Mitte 50 bin ich in eine tiefe Krise geraten und habe deshalb eine Psychotherapie begonnen. Eigentlich sollte es um meine Ehe gehen, tatsächlich habe ich aber die 100 Therapiestunden hauptsächlich über meine Eltern gesprochen.

Mein Vater war Gynäkologe, also Tag und Nacht weg. Meine Mutter ist schon früh psychisch erkrankt, sie hat Depressionen, starke Ängste und ist abhängig von Beruhigungsmitteln. Sie ist Jahrgang 1938, hat also noch den Krieg erlebt und die Jahre danach. Vielleicht hat das damit zu tun.

Sie hat unzählige Ängste. Davor, das Auto zu tanken, Geld mit der Girokarte vom Konto zu holen oder vor dem Kochen. Das habe ich damals als Kind für sie gemacht oder hab ihr Mut zugesprochen, neben ihr gestanden und sie beraten. Sie war sehr unsicher. Gleichzeitig war meine Mutter schnell überfordert mit mir.

Sie war für mich wie ein Pappkamerad, ich konnte nicht auf sie zählen. Sie zählte wiederum auf mich. Ich sollte manche ihrer Ängste vor meinem Vater geheim halten, sie bat mich darum. Zudem weihte sie mich in viele Eheangelegenheiten ein. Wenn mein Vater zu Hause war, haben die beiden sehr viel gestritten – und ich habe mich eingemischt, um meine Mutter vor meinem Vater zu schützen oder sie zu verteidigen. Mein Vater war sehr jähzornig, ich empfand ihn als tyrannisch, er hat meine Mutter auch einmal geohrfeigt und sich kaum entschuldigt. Sie war in seinen Augen hysterisch. Er erschien mir aber auch manchmal als Opfer, weil ich wusste, wie ihn meine Mutter belog.

Wer tickt hier nicht richtig?

Sie warnte mich vor Fehlern, die sie gemacht hatte. Sie war ursprünglich Schauspielerin, aber das war in ihren Augen das falsche Milieu und gefährlich. Als ich meine erste Hauptrolle in der Schultheatergruppe hatte, erschien sie nicht zur Premiere. Ich war verletzt, es fühlte sich an wie vergebliche Liebesmüh. Sie hat mir zudem früh und wiederholt gesagt: Ich sei ein Unfall. Als sie schwanger wurde, war sie noch im Studium.

Mit 13 wurde ich „entjungfert“. Heute würde man ganz klar von einer Vergewaltigung sprechen. Mein „Nein“ hatte im entscheidenden Moment nicht gereicht. Ich schämte mich und hatte Angst. Ich habe es meiner Mutter nicht erzählt, mein Vater hat es aber an meinem Verhalten bemerkt und mich angesprochen. Wirklich begleitet haben mich damals trotzdem weder Mutter noch Vater. Aufgearbeitet habe ich diese Erfahrung erst Jahrzehnte später, mit Schreiben.

Manchmal bin ich selbst schockiert, wenn ich von damals erzähle. Bis zur Therapie wusste ich nicht, wer hier eigentlich nicht richtig tickt. Ich hatte viele Zweifel an mir selbst und habe sehr lange gebraucht, um mich aus dem Kokon von damals herauszuschälen und mich selbst zu lieben.

Ich konnte mich sehr lange nicht vom Elternhaus lösen, hatte keine Pubertät. Noch immer arbeite ich daran, mich von ihnen unabhängig zu machen. Ich besuche sie alle drei Wochen, mehr will ich nicht. Meine Mutter ist mittlerweile pflegebedürftig, möchte aber nicht ins Pflegeheim. Es läuft darauf hinaus, dass ich sie pflege. Technisch kann ich das, aber ich will es nicht. Ich habe sie schon zu viele Jahre gepflegt. Ich muss jetzt mein eigenes Leben leben.

*Name von der Redaktion geändert

Sarah Offer, 43 Jahre

Sie kümmerte sich schon als junges Mädchen wie eine Mutter um ihre kleinen Geschwister. Heute achtet sie als Alleinerziehende bewusst darauf, ihren älteren Sohn nicht in die gleiche Situation zu bringen

Ich habe mit 8 oder 9 Jahren gemerkt, dass zu Hause etwas nicht stimmte. Meine Eltern habe ich nie Hand in Hand spazieren gehen sehen, wir fuhren auch irgendwann nur noch getrennt in den Urlaub. Meine beiden Geschwister und ich mit meiner Mutter, oder wir drei Kinder allein mit meinem Vater. Als ich 12 Jahre alt war, hörte ich meine Eltern abends oft laut miteinander streiten. Ich saß in unserem Haus oben auf der Treppe, mit Bauchschmerzen, und lauschte.

Mein Bruder war damals etwa sieben und meine Schwester vier Jahre alt. Sie wurden von den Konflikten meiner Eltern wach und kamen aus ihren Zimmern. Ich habe sie dann immer zurück ins Bett gebracht. Ich wollte sie davor schützen, all das mitzubekommen. Tatsächlich hatten sie Jahre lang keine Ahnung, was zu Hause los war.

Mein Vater ging fremd. Es waren über die Jahre mehrere Frauen. Meine Eltern trennten sich allerdings erst, als ich schon 20 Jahre alt war. Solange wohnten wir alle unter einem Dach. Als ich von den Affären meines Vaters erfuhr, begann ich, ihm nachzuspionieren, fuhr ihm hinterher, legte Fallen. Das wurde fast zwanghaft.

Zugleich ließen sich beide bei mir aus: Mein Vater beschwerte sich während gemeinsamer Autofahrten über meine Mutter. Er hätte sie nur geheiratet, weil sie vorgab, schwanger zu sein. Meine Mutter wiederum erzählte mir, mein Vater hätte uns Kinder damals gar nicht gewollt, sondern dass sie abtreibe. Ich dachte immer: Meine Mutter, die Arme und mein Vater, der Böse. Das Verhältnis zu meinem Vater wurde immer gestörter, wir stritten fast nur noch.

Bedürfnis nach Sicherheit

Als ich 15 Jahre alt war, hatte er einen schweren Verkehrsunfall und lag vier Monate im Krankenhaus, lange auch im Koma. Die Klinik war weiter weg. Meine Mutter besuchte ihn immer von Donnerstag bis Sonntag und war in dieser Zeit komplett von zu Hause weg. Ich war allein mit meinen Geschwistern, schmierte Schulbrote, wusch die Wäsche, schaute, dass ich selbst in der Schule zurechtkam.

Damals fand ich das alles normal, was daheim stattfand. Heute sehe ich das anders. Wenn ich zurückblicke, würde ich trotzdem sagen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte und von meinen Eltern geliebt wurde. Dennoch haben diese Jahre Spuren hinterlassen. Ich habe ein übersteigertes Verantwortungsgefühl, bin perfektionistisch und kann nur schwer die Kontrolle abgeben.

Ich habe stets große Angst, dass meinen Kindern etwas zustoßen könnte, weil ich so früh schon Verantwortung für meine Geschwister übernommen habe. Ich habe ein großes Bedürfnis nach Sicherheit: Ich bin Beamtin geworden, habe schon mit 23 Jahren ein Haus gekauft und in einer eheähnlichen Beziehung gelebt. Im Freundeskreis will ich stets Probleme lösen. Viele Dinge sind mir nicht egal, obwohl ich mich damit nicht belasten müsste. Ich weiß, dass diese Verhaltensweisen aus meiner Kindheit herrühren. In einer Psychotherapie habe ich das mittlerweile aufgearbeitet.

Eine Baustelle: Ich bin alleinerziehend mit zwei Kindern und bemerke, dass ich meinen größeren Sohn immer öfter als helfende Hand im Alltag einspanne und er seinen kleinen Bruder betreuen soll. Da muss ich mehr aufpassen. Ich möchte nicht, dass es ihm ergeht wie mir damals.

Lesen Sie hierzu auch unsere Titelgeschichte aus Heft 8/23: Das ewig hilfreiche Kind

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2023: Das ewig hilfreiche Kind