„Die meisten sind sehr einsam“

Kinder psychisch Erkrankter schultern eine übergroße Last und erhalten zu wenig Hilfe. Carolin Becker über die Bedürfnisse der Kinder und ihre Not.

Die Illustration zeigt ein kleines Mädchen mit Luftballon, das traurig wegläuft.
Girl with blue balloon - layered illustration. © AF-studio // Getty Images

Frau Becker, wie geht es Kindern von psychisch erkrankten Eltern in Zeiten der Corona-Pandemie?

Generell geht es ihnen selten gut. Ich gehe davon aus, dass dort, wo es Solidarität und Unterstützung gab, sich die Lage eher verbessert hat und dort, wo niemand half, es noch schlimmer, noch einsamer noch auswegloser wurde. In Zeiten der Pandemie ist es noch mehr als sonst dringend notwendig, ein psychisch stabiles Elternteil zu haben.

Als Kind habe ich keine Erfahrung darin, diese neue Bedrohung einzuschätzen. Ohne verlässliches Gegenüber ist es möglich, dass diese Kinder doppelt Angst bekommen: durch die Bedrohung von innen, die instabilen Eltern plus die Bedrohung von außen, die Pandemie. Da möchte man sich schon bei der Vorstellung in so einer Situation ein Kind zu sein, unterm Bett verstecken.

Wieso werden Kinder von psychisch erkranken Eltern so wenig gesehen? Wir reden ja nicht über eine kleine Gruppe.

Tatsächlich reden wir von drei Millionen Kindern, plus Dunkelziffer. Das ist jedes vierte Kind in Deutschland. Diese Kinder wurden schon vor der Corona-Pandemie nicht gesehen, jetzt noch weniger. Man sieht sie nicht, weil psychisch Erkrankte, in diesem Fall also ihre Eltern, grundsätzlich ein Tabu sind. Immerhin: Wir reden jetzt endlich mehr über Randgruppen und verdrängte Themen.

Wie lief die Versorgung der Kinder in Lock-Down-Zeiten?

Von März bis jetzt haben sich alle Mitarbeitenden der Jugend- und Eingliederungshilfe, zumindest alle, die ich kenne, unfassbar viel Mühe gegeben, die Kinder anzurufen, die Eltern anzurufen, am Zaun zu stehen, kleine Geschenke zu schicken, per WhatsApp zu kommunizieren oder auch Kontakte über Briefe zu halten. Ich könnte viele Heldengeschichten aus den Teams erzählen.

Doch dann dauerte die Krise zu lange?

Ja. Sie können so ein hohes Niveau an Extra-Betreuung über Wochen, aber nicht über Monate hinweg halten. Es ist auch nicht dasselbe, ob man eine helfende Beziehung erlebt oder nur telefoniert. Das Wegbrechen der Tagesstrukturen für Kinder durch Schule, Kita oder Hort, aber eben der Strukturen für die erkrankten Eltern, deren Tagesklinik geschlossen war, für die Therapie nur online, wenn überhaupt stattfand, hat mit Sicherheit zu einer Verschlechterung der Erkrankungen geführt. Das hat natürlich Folgen für die Angehörigen.

Worunter leiden Kinder von psychisch erkranken Eltern – unabhängig von der Corona-Krise?

Vor allem unter der Instabilität oder dem Verlust ihrer Bezugsperson sowie unter dem Schweigen dazu. Anders als in normalen Familien stehen nie sie im Mittelpunkt, sondern eigentlich immer der seelische Zustand der Eltern mit allen Folgen der Existenzangst. Die Kinder erleben eine vollkommene Überforderung in vielen Situationen. Sie sind seelisch belastet bis zum Anschlag, oft ohne dies überhaupt selbst wahrzunehmen, weil es normal für sie ist und sie die Ursache nicht kennen.

Sie müssen für ihre Eltern lügen, sie müssen sie versorgen, sie müssen sie beschützen, manchmal müssen sie sogar Geld verdienen. All das zieht sich durch ihre Kindheit und Jugend. Fast immer sind sie sehr einsam, haben keinen großen oder engen Freundeskreis. Hinzu kommt ein generelles Ohnmachtsgefühl, den Elternteil nicht retten zu können, nicht wirklich etwas tun zu können.

Diese Gefühle und die Scham darüber verwandeln sich in Stillschweigen und in ein angepasstes, begabtes Kind, eines, das dem Gegenüber nützt und gefällt. Generell versuchen diese Kinder stark zu sein bis zum Umfallen. Die Täuschung nach außen ist enorm, und da das Thema ja ein Tabu ist, treffen sich zwei Welten: Auf der einen Seite die Außenwelt, die es nicht sehen will, auf der anderen Seite die Kinder, die ihre Lebensrealität auf keinen Fall preisgeben wollen.

Mit welchen Folgen?

Diese Kinder haben ein drei- bis vierfach höheres Risiko, selbst psychisch zu erkranken. Ob die Kinder es trotzdem schaffen, liegt an vielen Faktoren, am Umfeld und daran, wie lange eine Krankheitsepisode der Eltern dauert, aber auch wie widerstandfähig und wie alt das Kind ist. Es gibt kleine Wunder, aber es gibt auch ganz desaströsen Entwicklungen, bei denen Kinder zerbrechen.

Über welche seelischen Probleme oder auch Symptome reden wir?

Sie kämpfen mit Bindungsangst, sind überangepasst, rutschen in die Außenseiterrolle, verspüren Leistungsdruck und Misstrauen, richten Aggressionen gegen sich und fremde, neigen zu Delinquenz oder Schule-Schwänzen. Es treten Sprachstörungen, alle Formen der Psychosomatik wie Bauchschmerzen auf, Sucht, Lern- und Leistungsstörungen oder Essstörungen.

Die psychisch erkrankten Eltern haben oft schon Probleme, ihre eigene Situation richtig einzuschätzen. Inwiefern schaffen sie es dann ihre Kinder in Behandlung zu schicken?

Ich schildere mal ein Beispiel: In die Erziehungsberatungsstelle kommt eine besorgte Mutter und meldet ihre Tochter Anna an. Anna ist elf Jahre alt, die beiden haben sich gestritten. Die Mutter ist alleinerziehend und kann nicht gut damit umgehen. Die Mutter erzählt aber auch, dass sie seit einem Jahr wegen einer Depression in der Tagesklinik sei. Am Ende kommt heraus, dass Anna einen einzigen Wutanfall gehabt hat, weil die Mutter es trotz aller Versprechungen nicht schafft, sie zum Ballettunterricht anzumelden. Und dieser eine Streit hat dazu geführt, dass die Mutter gesagt hat: „Anna, ich komme mit dir nicht mehr klar, und ich melde dich jetzt bei der Beratungsstelle an.“

Und dann?

Weil Anna nicht wirklich auffällig war, lehnte das Jugendamt eine aufsuchende sozialpädagogische Familienhilfe ab. Doch Anna hatte Glück, denn ihre Mutter hat sie ja zu uns gebracht. Ich habe für Anna eine Kinderpsychologin gefunden. Dort war sie genau am richtigen Platz. Es ging um sie und um ihre Überforderung mit der Lebenssituation. Man muss sich vorstellen: Wenn die Mutter um 16 Uhr aus der Klinik kam, dann hatte die elfjährige Anna schon eingekauft, geputzt, Essen gemacht. Nach außen hin hat sie kaum darüber geredet. Das war für sie ganz normal, ihr Alltag.

Nicht nur die Mutter, auch die Tochter brauchte Hilfe. Wieso hat in der Tagesklinik niemand die Mutter gefragt, wie es ihr krank und alleinerziehend mit einem elfjährigen Kind geht?

Dazu müsste bei der Aufnahme in eine stationäre oder ambulante Behandlung nach Kindern gefragt werden. Wurde es aber nicht. Ob das geschieht, ist oft davon abhängig, wer in der Klinik die Aufnahme macht. So wie es im Grunde Zufall war, dass Anna bei einer Kinderpsychologin landete. Denn ihre Mutter hätte ihr Kind nicht dort angemeldet. Das kommt ganz selten vor und wenn doch, dann haben die Eltern immense Schuldgefühle, und eine riesige Angst, dass das Jugendamt ihnen das Kind wegnimmt.

Kann das geschehen?

Psychisch erkrankte Eltern haben die gleichen Rechte wie alle Eltern und dürfen nicht per se aufgrund der Erkrankung in ihren Rechten beschnitten werden. Ebenso wenig darf ihnen nur aufgrund einer Diagnose das Kind entzogen werden. Eltern sind wichtig als Bezugspersonen. Auch wenn sie krank sind, haben sie große Ressourcen. Sie lieben ihre Kinder und wollen sie schützen. Doch oft wissen sie selbst nicht, was sie haben. Die Bandbreite bei psychischen Erkrankungen ist riesig und reicht von immer mal wiederkehrenden kleinen Hängern bis hin zu schweren Psychosen und Suizidgedanken bis hin zum Suizid.

Was brauchen die Kinder?

Sie sollten sich aussprechen dürfen. Und sie brauchen jemanden, der sie bestärkt, dass es in Ordnung ist, was sie fühlen und was sie denken. Das muss nicht unbedingt bei einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin sein, das kann auch bei Nachbarn, einer Tante oder einer befreundeten Familie sein. Hauptsache das Kind weiß: „Ich werde hier gesehen, jetzt geht es mal nicht um Mama oder Papa, sondern um mich.“ Und: „Ich bin richtig so, wie ich bin.“

Welche Hilfe gibt es auf Expertenebene?

Professionell geleitete Kindergruppen sind ein wichtiges Instrument, in denen zum Beispiel ein 10-Jähriger erzählen kann, dass sein Vater eines morgens sagte „Ich will nicht mehr leben“, und dann sitzt der Junge in der Schule und kann sich bei der Mathearbeit nicht mehr konzentrieren , weil er immer daran denkt: „Mein Papa ist vielleicht nicht mehr da, wenn ich nach Hause komme.“ In dieser Kindergruppe erfährt es dann, dass es mit seinen Ängsten und Erlebnissen nicht alleine ist, denn es gibt vielleicht ein anderes Kind, das erzählt genau das gleiche.

Aber das eigentliche Problem ist doch, dass oft nur der Zufall hilft, diese Kinder in ihrer Not zu erkennen. Was braucht es, um das zu ändern?

Eine Gesetzesänderung. Kinder müssen einen eigenen Rechtsanspruch auf Hilfe haben. Den haben sie nicht. Die Pflege und Erziehung der Kinder ist das natürliche Recht und die Pflicht der Eltern. Das Kind hat kein eigenes Recht, obwohl das Kindeswohl der oberste Maßstab ist und sein sollte. In der Praxis heißt das, das Kind ist solange dem ausgesetzt was die Eltern für richtig halten, bis es zur sogenannten Kindeswohlgefährdung kommt oder sie jemandem auffallen. Das ist häufig sehr lange nicht der Fall, da die Kinder oft überangepasst sind und für das Wohl der Eltern mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen. Auf Kosten ihrer eigenen Kindheit.

Was unternimmt die Politik?

Zu wenig. Seit vielen Jahren kämpfen wir in einer großen Interessensgemeinschaft aus allen Bereichen – Kliniken, Erziehungshilfen, Kitas, Jugendamt, ambulanten Betreuungen, Fachverbänden – für die Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Mittlerweile gibt es zumindest die Empfehlung einer Expertenkommission beim Bundestag zur Vernetzung in Deutschland.

Es ist ein politischer Skandal, dass das trotz aller Versprechen aus der Politik, trotz einer wirklich glasklaren Faktenlage, nichts geschieht.

Weil das seit Jahrzehnten so ist, haben wir uns in einer Arbeitsgruppe von Fachleuten im PARITÄTISCHE Hamburg entschlossen, ein strukturelles Vernetzungsangebot für Fachkräfte zu erarbeiten und anzubieten. Es wird Fachberatung, eine Online-Datenbank und vernetzende Hilfestellungen für Fachkräfte geben: von der Erzieherin bis zur Anwältin in Trennungsfamilien, für Klinikpersonal genauso wie für Schulen, weil diese Kinder als Angehörige eben überall sind. Es kann und darf einfach nicht weiter so sein, dass Klinikmitarbeitende in der Erwachsenen-Psychiatrie gar nicht wissen wohin mit Anna? Oder, dass Anna gar nicht erst gefunden wird.

Sie haben ihr Projekt für die Kinder „Aufklaren“ genannt – warum?

Wir fanden, dass das Thema Wetter und seelische Erkrankungen gut zusammenpassen. Das Wetter wechselt genauso – mal sonnig und schön, mal bedrohlich und unberechenbar. Dafür muss man sich gut ausrüsten und auf Nummer sicher gehen. „Aufklaren“ auch deshalb, weil das Unklare für die Fachleute und Kinder eine Belastung sind. Eine Erhellung der Situation hilft: Ich sehe das Problem, ich bin wieder handlungsfähig, ich erlebe Kontrolle und Schutz.

Haben Sie noch ein Beispiel dafür, woran es den Fachleuten konkret fehlt?

Da ist zum Beispiel die Erzieherin in einer Kita. Sie erlebt täglich eine aufgeregte Mutter. Mal kommt sie zu spät, fast immer hat sie was vergessen. Sie schimpft völlig überzogen mit dem Kind, wirkt fahrig und verwirrt. Das Kind erträgt das alles mit stoischer Ruhe. Was macht eine Erzieherin nun mit ihrer Wahrnehmung? Sie ist tagsüber in der Kita, hat keine Möglichkeit, mit der Mutter zu sprechen und wenn, dann wüsste sie vermutlich nicht, was sie sagen sollte. Genau da setzen wir mit dem Projekt an: Wenn sie von einer Koordinierungsstelle wüsste, dann könnte sie dort anrufen und sich beraten lassen und fühlt sich dann handlungssicherer und kann so eine Brücke für die Familie bauen.

Und was ist, wenn die Mutter doch einfach nur ein bisschen fahrig ist?

Wenn es ein Bewusstsein für das Problem gibt, dann könnte die Fachkraft erstmal mit den Eltern, aber dann natürlich vor allem mit dem Kind reden. Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil sind froh, wenn sie merken, dass sie gesehen werden und wichtig sind. „Ich bin in deiner Nähe, wenn du mich brauchst“ ist dabei immer die richtige Botschaft.

Carolin Becker ist Sozialpädagogin und seit 2012 Referentin für Jugendhilfe und Familie im Paritätischen Hamburg. Sie ist Mitbegründerin des Projekts A: Aufklaren – Expertise und Netzwerk für Kinder psychisch erkrankter Eltern

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