„Haben Sie Angst vor mir?“

Therapiestunde: Ein Student, der seinen Dealer getötet hat, fordert den Gefängnispsychologen Uwe Kazenmaier immer wieder heraus.

Illustration zeigt Therapeut und Klient beim Armdrücken
Den Provokationen standzuhalten ist die Voraussetzung für eine tragfähige therapeutische Beziehung. © Michel Streich

Mit Menschen im Gefängnis verbringe ich seit 25 Jahren mehr Zeit als mit den meisten Menschen sonst in meinem Leben. Meine Kontakte zu den Inhaftierten bestehen oft Jahre. Ich arbeite als ihr Therapeut, bin aber auch zuständig für die Bewertung ihrer Entwicklung während der Behandlung. Ich erstelle Prognosen über zu erwartendes mögliches kriminelles Verhalten in der Zukunft. Vor dem ­ersten Gespräch lese ich die Akte, das Urteil, den Haftverlauf sowie Gutachten, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen.

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den Haftverlauf sowie Gutachten, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen.

Herr B. hatte im Alter von 31 Jahren seinen Amphetamindealer getötet. Er war von dieser Droge abhängig und hatte sein späteres Opfer um eine Lieferung gebeten. Beim Treffen verlangte er Amphetamin auf Kredit. Weil er jedoch aus früheren Drogengeschäften Schulden bei seinem Dealer hatte, lehnte dieser den Handel ab und forderte, erst einmal die Außenstände zu begleichen. Aufgrund seiner Amphetaminabhängigkeit war der Drang nach der Droge bei Herrn B. so stark, dass er, um sich in den sofortigen Besitz des Amphetamins zu bringen, den Dealer erwürgte.

Vom Gutachter wird Herr B. mit einem gut durchschnittlichen intellektuellen Leistungsvermögen beschrieben. Persönlichkeitstests zeichnen ihn als „eigensinnig, selbstsicher und durchsetzungsstark, mit deutlichem Autonomie- und Dominanzanspruch“ aus. Der Gutachter beschreibt weiter einen Persönlichkeitsstil mit narzisstischen und dissozialen Anteilen und ein Abhängigkeitssyndrom von Amphetamin. Unter beschützten Bedingungen ist er nachweislich abstinent, dies wird regelmäßig überprüft.

Weit oben in der Gefangenenhierarchie

Herr B. wuchs in einem Hamburger Villenvorort unter verlässlichen Lebensbedingungen in einem fördernden, vielleicht überbehütenden und verwöhnenden Elternhaus auf. Sein Vater war Lehrer und seine Mutter Architektin. Herr B. trainierte seit seiner Jugend erfolgreich Boxen und Karate. Er hatte vor seiner Haft studiert und stand kurz vor einem Abschluss, den er aber vor sich herschob. Nebenher arbeitete er als Barkeeper, wobei er immer mehr ins Rotlichtmilieu abtauchte.

Herr B. kommt pünktlich zum Erstgespräch. Er ist ein Mann von athletischem Körperbau, sehr groß und muskulös, gutaussehend, mit vielen martialischen Tätowierungen. Es wird sofort klar, dass dieser Mann in der Gefangenenhierarchie weit oben steht. Ich begrüße ihn und biete ihm einen Platz an. Er setzt sich, mustert mich, lächelt und eröffnet das Gespräch, wobei er den Blickkontakt hält:

„Haben Sie Angst vor mir?“ Die Eröffnung ist ein wichtiger Moment. Der nächste Zug entscheidet, wie der Kontakt weiter verlaufen wird. „Kürzen wir die Sache ab“, sage ich, „falls wir körperlich kämpfen würden, würde ich natürlich verlieren.“

Die Antwort scheint ihn zu irritieren, das Lächeln ist für einen Moment erstarrt. „Ist es für Sie als Mann nicht peinlich, so eine Aussage zu machen?“, fragt er.

„Na, wenn ich in Ihrer verrückten Welt leben müsste, wäre das natürlich ein Problem, aber Gott sei Dank muss ich das nicht, in meiner Welt ist das kein Problem.“

Herr B. scheint Gefallen am Gespräch zu finden, sein Blick wirkt nun weniger spöttisch, eher neugierig. Ich fahre fort: „Ich mache Ihnen ein Angebot. Wenn ich eines Tages ein Problem habe, bei dem ich mich körperlich auseinandersetzen muss, wenn ich mich schlagen muss, frage ich Sie um Rat, da sind Sie offensichtlich richtig gut. Im Gegenzug, wenn Sie eines Tages wissen wollen, wie man ein Leben führt, ohne dass man ständig Schwierigkeiten mit der Justiz bekommt und in den Knast kommt, da fragen Sie mich. Das kann ich offensichtlich besser.“

Herr B. fängt an zu lachen. „Sie sind gut. Okay. Wir können anfangen.“ Die Atmosphäre lockert sich auf, ich scheine ­seiner Prüfung standgehalten zu haben.

Existenzielle Bedrohungen

Wir sprechen über seine Biografie, und er erzählt von seiner Kindheit. Er hatte immer große Angst vor den Jugendlichen, die ihn gelegentlich ärgerten oder auch mal mehr. Unvermittelt sind wir wieder beim Thema Angst: Der Vater kommt ins Spiel. Er ist ein dominanter und leistungsorientierter Vater, der viel vom Sohn verlangte, aber nie zufrieden war. „Die ganze Atmosphäre zu Hause erstarrte“, wenn der Vater die Wohnung betrat. Er war ein jähzorniger Mann, zu Hause ein Tyrann, nach außen eher ein Feigling. Auf eigenen Wunsch und mit Unterstützung der Mutter begann der Sohn mit dem Kampfsport und trainierte verbissen.

Bald hätten alle Angst vor ihm gehabt. Beim jugendlichen Herrn B. dreht sich bald alles in der Hauptsache um Angst, Selbstbehauptung und Macht.

Die zweite Stunde eröffnet Herr B. anders: „Ich habe mich erkundigt, Sie sind der einzige fähige Therapeut im Haus!“ Er kommt rasch zum Punkt: „Wissen Sie, warum ich keine Angst habe, wenn ich nachts allein im Wald bin?“ „Nein, sagen Sie es mir.“ „Weil ich das Gefährlichste im Wald bin!“ Er sieht mich herausfordernd an und lächelt. Sehr schnell wird deutlich, dass dies das zentrale Thema für Herrn B. ist. Die Welt ist voller existenzieller Bedrohungen, die man wachsam im Auge haben, auf die man gefasst sein muss.

Die nächsten Gespräche im Laufe der Arbeit mit Herrn B. sind intensiv. Herr B. verlangt unbedingte Stärke, Souveränität, Klugheit, Konzentration auf seine Person. Er spricht mit großer Offenheit und Schamlosigkeit über sich und seine Gewaltfantasien. Manchmal exhibitionistisch, herausfordernd und schockierend. Er greift verbal an, beleidigt und entwertet, im nächsten Moment idealisiert er mich.

Herr B. reinszeniert frühere Beziehungsenttäuschungen

Dies sind wichtige Momente. Halte ich ihn aus, wende ich mich ab, oder ertrage ich ihn? Ist die Beziehung zu mir belastbar, oder lasse ich ihn fallen? Bin ich bereit, ihn zu mögen, so wie er ist? Als Täter, der Monströses getan hat, als jemand, der im Leben versagt hat? Unvorstellbar für ihn.

Sein Wunsch nach Beziehung ist überdeutlich, und zugleich provoziert er immer wieder eine Reinszenierung früherer Beziehungsenttäuschungen. Herr B. ist gefangen in einem Angstdilemma. Er kann mich nicht respektieren, wenn ich in seinen Augen schwach bin, ich bin dann kein Modell für ihn, biete ihm keine Sicherheit. Bin ich stark, dann bin ich bedrohlich, dann fühlt er sich ausgeliefert und ohnmächtig.

Über die Monate werden die Attacken weniger und die Bereitschaft, mehr von sich zu zeigen, größer. Er bemüht sich im Alltag um ein regelkonformes und konstruktives Verhalten. Seine Vorgesetzten im Anstaltsbetrieb sind mit seinen Leistungen durchgängig sehr zufrieden. Es gelingt ihm – nach einem Rückfall –, drogenabstinent zu bleiben.

Wichtige Themen in der Therapie waren das „Bleiben“, das „Wahrnehmen des Jungen“, das „Respektieren des Erwachsenen“, das „Mögen der Person“ in klarer Abgrenzung zur „Ablehnung der Tat“.

Zwischenzeitlich ist Herr B. entlassen, und seine Zukunft ist leider ungewiss. Auch wenn er sich selbst in der therapeutischen Arbeit nähergekommen ist, so ist er zuletzt dennoch deutlich kriminell identifiziert geblieben, auch wenn er Sehnsucht nach einer bürgerlichen Existenz verspürt. Er hat in seinem vergangenen subkulturellen Lebensstil viel narzisstische Aufwertung erfahren, während der „bürgerliche“ Weg mit hohen Anforderungen verbunden war, die er nicht mehr erfüllen konnte. Bis jetzt scheint er sich allerdings zu halten, immerhin meldet er sich gelegentlich, um zu berichten oder um Rat zu fragen.

Uwe Kazenmaier ist ­Stationsleiter der Sozial-therapeutischen Anstalt in der JVA Tegel in Berlin und betreut dort als Gefängnispsychologe inhaftierte Schwerkriminelle

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2018: Geschwister