Die Sehnsucht nach engen Freunden ist fast so alt wie die Menschheit selbst. Schon das älteste literarische Werk der Menschheitsgeschichte, das bald 4000 Jahre alte sumerische Gilgamesch-Epos, handelt von der Freundschaft zwischen dem Götterkönig Gilgamesch und dem Naturmenschen Enkidu. Auch in der Antike war die innige Verbindung zweier Freunde eines der wichtigsten Themen der rhetorischen Künste. „Was ist ein Freund? Ein anderes Ich. Zwei Seelen in einer“, schrieb Cicero über seinen besten Freund Atticus.…
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Freund Atticus. Auch heute ist der Wunsch nach engen Freundschaften noch ungebrochen.
Freunde sind manchmal Entwicklungshelfer, wichtige Alltagsstützen und oft sogar Retter in der Not. Häufig begleiten sie uns von der Jugend bis ins Erwachsenenalter und sind gelegentlich sogar wichtiger für uns als unsere Herkunftsfamilie. „Freundschaften sind eine der zentralen Schaltstationen des sozialen Zusammenhalts“, sagt der Soziologe Heinz Bude.
„Best friend forever
Gerade in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter spielen die besten Freunde eine besonders wichtige Rolle. Sie helfen, die Turbulenzen der Pubertät zu bewältigen und in Abgrenzung zu den Eltern eigene Identitäten und Meinungen zu festigen. Im Alter zwischen 13 und 25 Jahren ist der oder die „BFF“ – best friend forever – sogar absolut unabdingbar. Vor drei Jahren zeigte die Shell-Jugendstudie, dass 89 Prozent aller Jugendlichen es besonders wichtig finden, gute Freunde zu haben – der Stellenwert war damit höher als der der „Familie“ oder der Wunsch nach einem „eigenverantwortlichen Leben“.
Die meisten Jugendlichen sprechen am liebsten mit ihren Freunden über ihre innersten Gefühle und fühlen sich durch sie am besten verstanden und gehalten. Peergroups könnten Jugendlichen wichtigen emotionalen Rückhalt geben, erklärt Gerd Mietzel, emeritierter Professor für pädagogische und Entwicklungspsychologie an der Universität Duisburg-Essen. Durch sie fänden Jugendliche eine vorübergehende Identität in der Gruppe, die ihnen dabei helfe, schrittweise in die Unabhängigkeit zu kommen und eigene Entscheidungen zu treffen.
Viele Jugendfreundschaften überleben auf Dauer nicht
Doch manchmal ist der „BFF“ nur ein hehres Ideal. Denn realitätstauglich ist das Konzept der besten Freundschaft nicht immer: Viele enge Jugendfreundschaften überleben auf Dauer nicht. Irgendwann verliert sich die anfängliche Begeisterung füreinander, vielleicht durch neue Interessen oder einen Wohnortwechsel. Meist ist das kein Drama, im Laufe des Lebens entstehen bei den meisten Menschen immer wieder neue gute Freundschaften.
Auch Aufs und Abs in engen Jugendfreundschaften seien durchaus normal, erklärt Romuald Brunner, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Regensburg. „In der Adoleszenz sind enge Freundschaften oft konfliktreich, phasenweise sind sie sehr eng und dann mal wieder etwas distanzierter“, sagt der Psychiater. „Das auszuhalten ist für junge Menschen oft nicht leicht, weil die Bedeutung und der Wert von Freundschaften für Jugendliche so hoch sind. Damit steigt dann auch die Verletzlichkeit.“ Trotzdem sei es Teil der normalen Lernerfahrung, dass auch enge Beziehungen mal konfliktreich sein und trotzdem ausgehalten werden können.
In engen Freundschaften ist gelegentlicher „Stress“ also durchaus normal und wird meist gut bewältigt. Deutlich belastender hingegen ist es für junge Menschen, eine Freundschaft zu führen, die ihnen eigentlich nicht guttut. Das kann eine vermeintlich beste Freundin sein, die immer wieder stichelt und verletzt, oder ein Kumpel, der seinen Freund regelmäßig herunterputzt oder hintergeht. Diese Erfahrungen des Verletztwerdens, der Ausgrenzung oder des Mobbings sind gerade in der Pubertät häufig. Oft hinterlassen sie Beziehungsunsicherheiten, die auch im späteren Alter nicht leicht abzuschütteln sind. Etwa die Angst, sich an neue Freunde zu binden, oder die Furcht, in Beziehungen wieder verstoßen zu werden.
Im Schatten der Freundin
Larissa Göbel erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie zum ersten Mal ihre beste Freundin traf. Sie war zehn Jahre alt und mit ihrer Familie gerade nach Berlin gezogen. Beim ersten Basketballtraining im neuen Sportverein lernte sie Hanna kennen, die zufällig in ihre Parallelklasse ging. „Wir mochten uns sofort“, erinnert sich die heute 38-Jährige. Sie wurden dicke Freundinnen, fuhren als Teenager zusammen in den Urlaub und zogen später an den Wochenenden durch die Discos.
Als ihre Eltern sich scheiden ließen und anschließend vor allem mit ihren eigenen Leben beschäftigt waren, klammerte Larissa sich vor allem an Hanna. Ohnehin war die Rollenverteilung der Freundinnen klar. „Ich stand meistens im Schatten von Hanna“, erinnert sich Larissa. „Sie hat den Ton angegeben. Das war für mich aber okay. Bis ich irgendwann einen Freund hatte.“ Damit hatte Hanna ein Problem. Als Larissa nicht mehr unbegrenzt zur Verfügung stand, wurde sie eifersüchtig und begann, ihrer Freundin das Leben schwerzumachen. Sie erzählte anderen Lügen über ihre Freundin und grenzte sie aus.
Ein halbes Jahr später machte Larissas Freund mit ihr Schluss – und war von einem Tag auf den nächsten mit Hanna zusammen. Larissa stürzte in eine tiefe Krise. Jahrelang konnte sie keine neuen Partnerschaften mehr eingehen. Mit Freunden fühlte sie sich schnell verunsichert und oft unwohl. „Ich war durch die katastrophale Beziehung meiner Eltern eh schon beziehungsgeschädigt“, erinnert sich die Sozialpädagogin. „Und die Geschichte mit Hanna hat mir den Rest gegeben. Ich bin danach lange nicht auf die Beine gekommen und war in neuen Freundschaften sehr misstrauisch.“
Kraft der „sozialen Ansteckung“
Dabei sind die Beziehungen zu Freunden für Jugendliche meist wichtige Schutzfaktoren. Die amerikanischen Entwicklungspsychologen Catherine Bagwell und Andrew Newcomb untersuchten eine Gruppe von 30 Fünftklässlern über einen Zeitraum von 15 Jahren und fanden dabei heraus, dass diejenigen Kinder, die schon in der fünften Klasse einen besten Freund oder eine beste Freundin hatten, auch später im Erwachsenenalter insgesamt reifer, kompetenter, selbstbewusster und weniger aggressiv waren. Ihre Leistungen im College waren besser, sie hatten bessere Beziehungen zu ihren Familien, weniger Probleme mit dem Gesetz sowie geringere psychische Probleme. Die Langzeitstudie zeigte auch, dass diejenigen Kinder, die im Alter von elf Jahren keine Freunde hatten, später einen wesentlich ungünstigeren Entwicklungsverlauf nahmen als Gleichaltrige mit Freunden.
Ähnliche Studien haben ergeben, dass sich gute Freundschaften im Kindes- und Jugendalter positiv auf die soziale Kompetenz, die Identitätsentwicklung und das Selbstkonzept auswirken. Allerdings ist auch bekannt, dass Beziehungen zu Peers mit stark risikoreichem Verhalten – vor allem im Hinblick auf Alkohol und Drogen – für die Entwicklung eher gefährlich sind. Forscher wie der Psychologe Thomas Dishion und die Soziologin Joan McCord begründeten dies mit der Kraft der „sozialen Ansteckung“, also des Ausbreitens von Gefühlen oder Stimmungen unter Menschen.
Wunsch nach Zugehörigkeit
Wenn Freundschaft eigentlich eine Ressource ist – warum führen Jugendliche dann Freundschaften mit Altersgenossen, die ihnen nicht gut tun? Warum suchen sie sich Kumpels, denen sie sich unterordnen müssen, oder Freundinnen, die sie fertigmachen? Häufig seien konfliktreiche Eltern-Kind-Beziehungen der Grund, warum Jugendliche sich – im Sinne einer forcierten Ablösung – auch auf schlechte Freundschaften einließen, erklärt Romuald Brunner. „Wenn es in der Familie nicht stimmt, suchen Jugendliche häufig außerhalb ihrer Familien nach Bindungen“, so der Psychiater. „Dahinter steckt ein enormer Wunsch nach Zugehörigkeit.
Manchmal passen sie sich dann übermäßig an die Wünsche anderer an, um einen Ausschluss aus ihrer Peergroup zu vermeiden, vor allem an diejenigen, die in der Gruppe das Sagen haben. Wenn diese Personen dann fordernd oder aggressiv auftreten, aber gleichzeitig auch manchmal Hilfe und Unterstützung bieten, geraten die Jugendlichen in ein schwieriges Abhängigkeitsverhältnis. Sie lassen sich ausnutzen oder können sich zumindest schlecht dagegen wehren.“
Ablehnung führt zu Stress
Hinter diesem Verhalten steckt häufig also eine grundsätzlich große Beziehungsunsicherheit. Um sich gut von den Eltern ablösen und ihre Position in der Peergroup auf eine gesunde Art und Weise erkunden zu können, brauchen Jugendliche nämlich in erster Linie primäre Bindungssicherheit – gute Beziehungserfahrungen mit den Eltern. Die Art und Weise, wie ein Mensch schon früh im Leben Beziehungen erlebt, prägt auch im Jugend- und Erwachsenenalter Freundschaften und Partnerschaften.
Die renommierten deutschen Entwicklungspsychologen Karin und Klaus E. Grossmann untersuchten in einer Längsschnittstudie über 22 Jahre 49 Familien in Bielefeld und konnten so belegen, dass diejenigen Kinder, die feinfühlige Eltern erlebt hatten, sich später zu Erwachsenen entwickelten, die enge Beziehungen als verlässliche Quellen der Geborgenheit zu schätzen wussten und dementsprechend wertschätzende Freundschaften und Partnerschaften führten. Außerdem diskutierten diese Kinder in Konfliktgesprächen mit ihren Freunden sachlicher und konstruktiver als Jugendliche mit einer unsicher-distanzierten Bindungsrepräsentation. War die Bindungssicherheit dagegen nicht vorhanden, stieg die Gefahr, sich als junger Mensch auf schlechte oder gar keine Beziehungen einzulassen.
Unsichere Bindungserfahrungen führen – wie bei Larissa Göbel – also im Jugendalter unter Umständen zu konfliktbeladenen Freundschaften und damit also zu weiteren Erfahrungen der Verunsicherung, Ablehnung und Ausgrenzung, die langfristig verheerende Folgen haben können. Aus der Mobbingforschung weiß man, dass viele betroffene Jugendliche, die Ausgrenzung und Ablehnung erlebt haben, noch jahrelang unter Stress stehen und langfristig psychisch und körperlich erkranken. Möglicherweise seien die Folgen von Mobbing durch Gleichaltrige sogar noch gravierender als die Folgen von körperlicher Gewalt durch Erwachsene, vermuteten amerikanische und britische Psychologen im Jahr 2015 auf der Jahrestagung der Pediatric Academic Societies in San Diego.
Angst, wieder verletzt zu werden
Zwei dort vorgestellte Langzeiterhebungen belegen: Kinder und Jugendliche, die unter Mobbing litten, waren als Erwachsene häufiger von Depression, Ängsten oder Selbstverletzung betroffen als Kinder, die unter körperlichen Misshandlungen gelitten hatten. In einer der Studien berichteten 17 Prozent der von Bullying betroffenen Schüler sogar von posttraumatischen Stresssymptomen. Denn solcherlei Erfahrungen haben eine verheerende Wirkung auf das Selbstkonzept.
Viele der betroffenen Kinder suchen die Schuld vor allem bei sich. „Wird ein Kind oder ein Jugendlicher wiederholt ausgegrenzt, beleidigt und abgewertet, kann dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls führen“, erklärt Gerd Schulte-Körne von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. „Die Opfer beginnen zu verinnerlichen, was über sie gesagt wird, und diese Art negativer Gedanken begünstigt die Entstehung von Angsterkrankungen und Depressionen.“
Es liegt auf der Hand, dass Erfahrungen der Ausgrenzung oder des Betrogenwerdens besonders nachhaltig sein können, wenn es sich bei dem Täter um den besten Freund oder die beste Freundin handelt. Zur Erfahrung des Ausgeschlossenseins kommt der massive Vertrauensbruch hinzu und hinterlässt häufig eine Grundverunsicherung in Beziehungsdingen. Vielen Betroffenen fällt es anschließend schwer, im Privat- und Berufsleben neue Freundschaften aufzubauen, weil das Vertrauen fehlt und sie fürchten, wieder verletzt zu werden.
Bleibender Schmerz?
Larissa Göbel etwa hatte lange Angst, dass Gleichaltrige ihr in Beziehungen etwas wegnehmen würden. „Ich war immer unsicher: Wollen die mir schaden?“, sagt sie. „Und gleichzeitig fragte ich mich, ob mit mir selbst irgendetwas nicht stimmte. Ob ich die Leute quasi dazu trieb, sich gegen mich zu wenden. An der Uni habe ich mich dann sehr zurückgezogen. Eigentlich konnte ich erst mit Anfang 30 wieder entspannter mit Beziehungen umgehen. Da hatte ich aber auch schon eine Therapie gemacht.“
Während bei Mädchen nach konfliktreichen Beziehungen in der Peergroup eher internalisierendes Verhalten – Depression, Rückzug, Einsamkeit – typisch sei, legten betroffene Jungs vor allem externalisierendes Verhalten in Form von Aggressivität oder Mackertum an den Tag, erklärt Psychiater Romuald Brunner. Auf beide müsse man aber aufpassen, weil Peerkonflikte für Jugendliche häufig viel belastender seien, als man denke. Eltern sollten also verstärkt auf ihre Kinder achten, wenn diese sozial ausgeschlossen seien – und im Zweifel Hilfe suchen.
Auch die „Täter“ von damals können sich weiterentwickeln
Doch nicht immer muss ein Bruch in einer engen Freundschaft auch langfristig negative Folgen haben. Oliver Conrad etwa war 16 Jahre alt, als sein bester Freund Jens, mit dem er von klein auf an in einer Fußballmannschaft gespielt hatte, ihn plötzlich zu drangsalieren begann. Jens pumpte ihn immer wieder um Geld an, zahlte nichts zurück und war zunehmend mit anderen, härteren Jungs unterwegs. Der eher ruhige und zarte Oliver bekam in dessen neuer Peergroup viel Spott und Häme ab, auch von Jens. Als Jens schließlich Olivers Portemonnaie stahl, war Schluss. Oliver zog sich zurück und wechselte sogar die Fußballmannschaft.
„Das war hart für mich, weil ich meinen besten Kumpel verloren hatte“, erinnert sich Oliver, heute 38 Jahre alt und Anästhesist an einer Klinik in Hamburg. „Ich ging durch eine Art Trauerphase. Aber letztendlich gelang es mir, mit anderen Jungs vom Fußball enge Kontakte aufzubauen. Meine Eltern haben mir in dieser Zeit auch gut geholfen, wir konnten alle sehen, dass dieses Problem weniger mit mir als mit Jens zu tun hatte.“ Jens kam aus einer sehr belasteten Familie, in der die Eltern viele Probleme hatten und das Geld immer knapp war. Er geriet in den kommenden Jahren zunehmend auf die schiefe Bahn und flog auch bald von der Schule. Oliver hörte lange nichts von ihm.
Dann, mit Anfang 20, trafen sich die beiden zufällig auf einer Party wieder. Jens kam sofort auf Oliver zu und entschuldigte sich. „Da habe ich gemerkt, dass das an ihm genagt hatte“, erinnert sich Oliver. „Er war durch eine ziemlich harte Zeit gegangen und hatte insgesamt eine Menge schlechte Entscheidungen getroffen. Aber als wir uns wiedertrafen, stand er schon wieder mitten im Leben. Es war ein bisschen wie ganz früher.“ Die beiden versöhnten sich und verabredeten sich auf ein Bier. Heute sind beide wieder gute Freunde – und fahren mit ihren Familien sogar regelmäßig gemeinsam in den Urlaub. Auch die „Täter“ von damals können sich also weiterentwickeln. Manche Konflikte lassen sich tatsächlich später lösen. Die Erinnerung an den Schmerz bleibt jedoch – und prägt manchen Betroffenen mitunter fürs Leben.
Die wichtigsten Quellen
Catherine Bagwell u. a.: Friendship and peer rejection as predictors of adult adjustment. New Directions for Child and Adolescent Development, 91, 2001, 25–49. DOI: 10.1002/cd.4
Karin Grossmann, Klaus E. Grossmann: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2012 (völlig überarbeitete Auflage)
Suzet Tanya Lereya u. a.: Adult mental health consequences of peer bullying and maltreatment in childhood: two cohorts in two countries. The Lancet: Psychiatry, 2/6, 2015, 524–531. DOI: 10.1016/S2215-0366(15)00165-0