Traurig, aber stolz trat Heinz-Christian Strache vor die Mikrofone. Der Vizekanzler Österreichs erklärte im Mai 2019 seinen Rücktritt. Kurz zuvor war ein heimlich aufgenommenes Video aufgetaucht. Darin hatte Strache einer angeblichen russischen Multimillionärin lukrative Regierungsaufträge in Aussicht gestellt – im Gegenzug für geheime Parteispenden.
Doch selbst als die Fakten ihn zur Aufgabe seiner Ämter zwangen, wies er die Verantwortung weit von sich: „In einem siebenstündigen privaten Gespräch in meinem…
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siebenstündigen privaten Gespräch in meinem Urlaub wurde ich – ja, unter Ausnutzung einer zunehmenden Alkoholisierung und, ja, es war eine besoffene Geschichte und ich war in einer intimen Atmosphäre – verleitet, auch unreflektiert und mit lockerer Zunge über alles und jedes zu polemisieren.“ So deutete er den angebotenen Ausverkauf seines Landes, das er doch vor äußeren Bedrohungen zu schützen vorgab, um zu einer weinseligen Nachlässigkeit. Überhaupt war das Ganze letztlich „ein gezieltes politisches Attentat, eine Auftragsarbeit“. Strache das Opfer.
Selbst der Rücktritt, der zum Bruch der Wiener Regierungskoalition führte, schadete seinem Ansehen unter treuen Anhängern kaum. Noch kurz vor seinem Parteirauswurf im Dezember 2019 ergab eine Umfrage, dass sich 52 Prozent der FPÖ-Wähler ein politisches Comeback Straches wünschten. Der Österreicher bietet eines von vielen Beispielen einer weltweiten Entwicklung: des Aufstiegs des Opfers vom Außenseiter zum Helden.
Verschwörungen an jeder Ecke
In Deutschland beschwören AfD-Politiker eine „Selbstzerstörung unseres Staates und Volkes“. In den USA klagte Donald Trump 2019 in einer Videobotschaft an seine Anhänger: „Sie versuchen mich zu stoppen, weil ich für euch kämpfe.“ Und schon 2017 schrieb Trump seinen damals rund 60 Millionen Twitter-Followern: „Das Opfer hier ist der Präsident!“ Dass niemand außer den vermeintlichen Opfern die Verschwörung gegen sie erkennt, beweist aus ihrer Sicht gerade deren Ausmaß – und ihre eigene Erwähltheit.
Die Tendenz rechtspopulistischer Politiker, ihre eigenen Wähler zu lebensgefährlich Bedrohten zu erklären, die allein durch sie gerettet werden können, ist weltweit zu beobachten. In Ungarn beschwört Premier Viktor Orbán die Gefahr durch die EU: Die „virtuelle Welt der privilegierten europäischen Elite“ plane einen „Bevölkerungsaustausch“ durch „Massen einer anderen Kultur aus einer anderen Zivilisation“.
In der Türkei erklärt Präsident Recep Tayyip Erdogan, verantwortlich für die tiefe Wirtschaftskrise seines Landes sei eine westliche Verschwörung, um die Türkei „in die Ecke zu drängen“. In Brasilien erklärte Präsident Jair Bolsonaro, das Land müsse sich „vom Sozialismus, der Umkehrung der Werte und der politischen Korrektheit befreien“. Diese Politiker halten sich für die gesellschaftliche Mehrheit, die von elitären Minderheiten unterjocht wird.
Alleen und Blumen und Frauen
Die neue Lust am Opfersein floriert auch unter Linken. Doch bei ihnen sind die Vorzeichen umgekehrt. Sie definieren sich zumeist als Mitglieder sozialer oder ethnischer Minderheiten, die von einer verblendeten oder gar feindlich gesinnten Mehrheitsgesellschaft psychisch traumatisiert werden.
Ein Beispiel: An der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf protestierten Studierende 2016 anonym gegen ein Gedicht namens avenidas. Es prangte, 15 Meter hoch und 14 Meter breit, im spanischsprachigen Original an einem Gebäude der Hochschule. Deren Leitung hatte es fünf Jahre zuvor dort anbringen lassen. Die deutsche Übersetzung des Gedichts lautet: Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer.
Das Werk hatte der Dichter Eugen Gomringer sechs Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst. Der junge Mann ging damals über Las Ramblas, die Flaniermeile Barcelonas, und genoss den Anblick der Blumen an den Verkaufsständen. Gomringer wollte, so schilderte er es später, in wenigen Worten die Sehnsucht nach Schönheit und Freiheit einfangen. Nach dem rhetorischen Bombast des Faschismus suchte der Dichter nach einer neuen, unbelasteten Sprache. Die Berliner Studierenden hingegen sahen darin einen Angriff.
Das fremde Leid als das eigene
In einem offenen Brief klagten sie, Gomringers Gedicht reproduziere „nicht nur eine klassische patriarchalische Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren“. Sondern es erinnere „zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind“. Das Gedicht müsse weg, weil es Frauen an traumatische Erfahrungen erinnern könne.
Natürlich ist es das gute Recht jedes Menschen, auf seine Benachteiligung hinzuweisen. Und selbstverständlich müssen wir gegen sexuelle Diskriminierung und Belästigung kämpfen. Doch die Berliner Studierenden behaupteten gar nicht, sie selbst hätten traumatisierende Erfahrungen gemacht. Sondern sie erklärten das seelische Leid anderer Frauen zu ihrem eigenen – und leiteten daraus ein Anrecht auf besonderen Schutz ab. Mit Erfolg. Die Hochschulleitung ließ avenidas übermalen und ersetzte es durch das Werk einer Dichterin. Sich öffentlich als Opfer finsterer Mächte darzustellen kann heute Macht verleihen.
Menschen wie die Verfasserinnen des offenen Briefs nennt Maria-Sibylla Lotter „selbsternannte Opfervertreter“. Diese wollten „anderen aufgrund ihrer Identität das Recht auf Verständnis oder auch nur freie Meinungsäußerung zu bestimmten Themen“ zusprechen oder verweigern. Die Philosophieprofessorin an der Ruhr-Universität Bochum sieht darin eine Gefahr. Die Identitätspolitik war dazu gedacht, benachteiligte Gruppen sichtbarer zu machen und zu stärken. Heute aber hat sie vielfach „die Gestalt einer Anklage durch selbsternannte Richter angenommen“.
Opfervertreter unterteilen „die Menschen je nach Hautfarbe oder anderer nicht selbst erzeugter Eigenschaften“. Die einen erklären sie zu Opfern, die anderen zu Tätern „vergangenen und systemischen Unrechts“. Aus Sicht der Opfervertreter haftet auch an den Nachfahren echter oder vermeintlicher Täter untilgbare historische Schuld. Deshalb müssten, ja dürften die Nachkommen der Opfer ihnen nie verzeihen. Die Identität als Opfer und Täter wird vererbt. Versöhnung wäre Verrat.
Unmoral im Namen der Moral
Strache, Trump, Höcke und linke Verfechter der Identitätspolitik teilen, so unterschiedlich sie auch sind, eine düstere Weltsicht. Um sich herum vermuten sie abgehobene Eliten, die rechtschaffene Bürger wie sie erniedrigen. Dabei genügt ihnen ihr subjektives Empfinden. Jeder Einwand, jede Verteidigung bestätigt ihnen nur die Verblendung der anderen. Weil sie glauben, in Notwehr zu handeln, ist ihnen jedes Mittel recht. So verhalten sie sich unfair im Namen der Fairness, eigensüchtig im Namen des Gemeinwohls, unmoralisch im Namen der Moral.
Wir werden Zeugen eines epochalen Umbruchs. Das Ideal des selbstbestimmt lebenden Individuums verblasst und an seine Stelle tritt das immerzu Aufmerksamkeit und Mitgefühl einfordernde Opfer. Dessen Selbstwertgefühl speist sich nicht aus eigenen Leistungen, Ideen oder guten Taten. Die Selbsteinschätzung der neuen Opfer bringt der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli so auf den Punkt: „Wir sind stolz darauf, etwas erlitten zu haben. Wunden, tatsächliche genauso wie symbolische, sind der Nachweis für Glaubwürdigkeit.“ Indem sie sich durch – reale oder vermeintliche – Verletzungen definieren, schaffen sie sich eine schlüssige Lebenserzählung. Ich leide, also bin ich.
Ein besonders anschauliches Beispiel bieten Pseudologen – zwanghafte Lügner. „Früher haben sich Pseudologen gerne als Adelige oder Weltreisende ausgegeben, um Anerkennung zu erlangen“, erklärt der Berliner Psychiater und Psychotherapeut Hans Stoffels. „Heute nehmen sie gerne die Opferrolle ein, zum Beispiel die Rolle des Opfers einer schweren Krebserkrankung oder eines Angriffs.“ Stoffels behandelte einen Mann, der „behauptet hatte, sein Sohn sei an einem Unfalltod verstorben, was – wie sich später herausstellte – gar nicht stimmte. Aber zunächst hatte er viel Zuwendung und Mitleid erfahren.“ Durch den Zuspruch nähren die vermeintlichen Opfer ihr geringes Selbstwertgefühl.
Noch vor wenigen Jahrzehnten schien diese Entwicklung undenkbar. Wer Gewalt erfuhr, dem wurde fast immer eine Mitschuld unterstellt. Auch aus diesem Grund wiesen Holocaustüberlebende in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung „Opfer“ empört von sich. Sie wähnten darin den Vorwurf, sie hätten sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Stattdessen betonten sie die Bedeutung jüdischen Widerstands gegen die Nazis. Opfer zu sein galt als Schande.
Sehnsucht nach Gemeinschaft
Seither hat unsere Gesellschaft sich radikal individualisiert. „Die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören, gibt es aber nach wie vor“, sagt Giglioli, Autor des Buchs Die Opferfalle. Deshalb suchten wir nach Momenten, in denen wir uns mit anderen Menschen verbunden fühlen. Und so unterschiedlich wir auch sind: „Auf das Gefühl, Opfer dunkler Mächte zu sein, darauf können wir uns einigen.
Weil es uns nichts anderes abverlangt als das Gefühl, an nichts schuld zu sein.“ Der Opferstatus befriedigt also die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen nach Unschuld und Zugehörigkeit – ganz ohne die moralischen Grautöne und lästigen Pflichten, die echte Gemeinschaften ihren Mitgliedern zumuten.
Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Gleichheit steckt tief in uns, denn sie gehört zum genetischen Erbe unserer Jäger- und Sammlervorfahren. Für diese zählte nicht persönlicher Besitz, sondern sozialer Zusammenhalt. Nicht starre Hierarchien prägten ihren Alltag, sondern gemeinsam getroffene Entscheidungen. Für dieselben Werte glauben die neuen Opfer zu kämpfen.
Linke sehnen sich nach universeller Gleichheit – und überbetonen zugleich Unterschiede. Rechte suchen Schutz in der Gemeinschaft – und sehen sich doch immerzu bedroht. So gesehen sind sie Symptomträger einer unglücklichen Gesellschaft. Sie beklagen auf kontraproduktive Weise, woran es uns mangelt: Wertschätzung, Empathie, Nachsicht.
Diffuse Bedrohungsängste
Opferhaltungen können überall dort entstehen, wo Menschen kein gesundes Ich entwickeln dürfen. In Deutschland haben gleich mehrere Generationen von früh auf lernen müssen, dass es auf ihre Bedürfnisse und Wünsche nicht ankommt. Millionen Kinder durften sich nicht ausprobieren, sondern mussten funktionieren. Sie wurden nicht zu Individuen erzogen, sondern zu Untertanen. Selbst wenn sie als Erwachsene ihr Leben meistern, lässt viele von ihnen das Gefühl, fremdbestimmt und ungewollt zu sein, nicht los.
Doch dessen Ursachen bleiben meist im Unbewussten verborgen. Stattdessen müssen äußere Bedrohungen herhalten, um die diffuse Bedrohungsangst zu erklären. Die eigene Furcht wird umgedeutet zur Gefährdung von außen. Wir alle können uns also als Opfer verstehen, wenn wir nicht begreifen, was uns wirklich ängstigt.
Wie überwinden Betroffene ihre Opferhaltung? Indem sie ihr versehrtes Ich nachreifen lassen, erklärt Franz Ruppert, Psychologieprofessor an der Katholischen Stiftungshochschule München: „Erst muss das eigene Ich wieder restrukturiert werden. Nur dann können Menschen den traumatisierenden Lebenserfahrungen, die sich in einer Biografie angehäuft haben, mit ausreichender Stabilität begegnen.“
Verblendende Traumata
Weil unsere tiefsten Nöte meist in unserer frühen Kindheit wurzeln, hält Ruppert, der auch als Psychotherapeut arbeitet, den Blick zurück für unumgänglich. Wer die unangenehmen, bislang verdrängten Empfindungen, die ihm beim Rückblick begegnen, bewusst annimmt, kann sie endlich äußern. Ängste würden zugelassen, Wut könne gefühlt werden, Scham dürfe aufsteigen, Ekel empfunden und Schuldgefühle geäußert werden. Zugleich fühlten sich diejenigen nicht länger von diesen Gefühlen bedrängt und könnten tatsächliche Bedrohungen besser von eingebildeten unterscheiden.
Doch dieser Weg ist schmerzhaft. Da erscheint es vielfach einfacher, alles „Böse“ auf vermeintliche Täter zu projizieren. Sich selbst zum unschuldigen Opfer zu erklären mag tatsächlich Seelennöte lindern, kann sie aber niemals stillen. Dennoch suchen heute Millionen Menschen Zuflucht im Opferstatus.
Was für eine Karriere: Das schwächliche, verachtete Opfer von einst hat sich gewandelt zur obersten moralischen Instanz. Aus einem Makel ist ein Verdienst geworden, aus einer Ausnahme ein Massenphänomen, aus einem Außenseiter die Zentralfigur unserer Zeit. Das Opfer ist der neue Held.
Matthias Lohre, Jahrgang 1976, ist Autor und Journalist. Knapp zehn Jahre lang war er Politikredakteur der taz. In dem Buch Das Opfer ist der neue Held geht er der Frage nach: Was passiert, wenn ganze Gesellschaften ihre Traumata verdrängen?