Psychologie Heute Herr Professor Knoop, Sie sind Psychologe und beraten die dänische Regierung seit vielen Jahren in Bildungsfragen. Worum geht es dabei?
Hans Henrik Knoop In den vergangenen Monaten haben wir darüber diskutiert, wie man das Wohlbefinden aller Schüler in Dänemark messen kann – und zwar einmal im Jahr. Ich halte das für eine sehr gute Idee. Weil man damit endlich in den Blick bekommt, wie es den Kindern eigentlich geht.
PH Warum ist es wichtig, ob Kinder in der Schule glücklich sind?
KNOOP Es…
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wie es den Kindern eigentlich geht.
PH Warum ist es wichtig, ob Kinder in der Schule glücklich sind?
KNOOP Es gibt Menschen, die diese Frage tatsächlich stellen. Ich frage zurück: Wenn Schule unglücklich macht – wie kann man das seinen Kindern antun? Außerdem gehört es zu den ganz fundamentalen Erkenntnissen der positiven Psychologie, dass Kinder besser lernen, wenn es ihnen gutgeht.
PH Das Wohlbefinden der Kinder hat bei PISA keine Rolle gespielt.
KNOOP Die Politiker lieben PISA, weil sie damit etwas in der Hand haben, um Entscheidungen durchzusetzen. Man schaut einfach, wer dort auf den ersten Plätzen liegt.
PH Zum Beispiel Finnland!
KNOOP Stimmt. Wir hatten kürzlich den obersten Schülervertreter Finnlands im dänischen Fernsehen. Er sagt sinngemäß: An unseren Schulen willst du auf keinen Fall sein! Und die Zahlen bestätigen das. Die Schüler in Finnland gehören zu den unglücklichsten auf der ganzen Welt. Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, der mir wichtig ist: Schule sollte stärkenbasiert arbeiten. Jede Spezies überlebt, weil sie ihre Stärken ausspielt. Eigentlich ist das selbstverständlich, eine Binsenweisheit. Trotzdem ist unser Schulsystem überhaupt nicht darauf ausgerichtet, es arbeitet nicht nach diesem Prinzip.
PH An den dänischen Schulen hat man gerade die Zahl der Unterrichtsstunden erhöht. Wie viel Psychologie steckt hinter dieser Reform?
KNOOP Nicht alles, was bei uns geschieht, ist psychologisch gut begründet. Psychologie ist in Bildungsfragen generell the new kid on the block. Man hat uns ja lange Zeit nur gerufen, damit wir uns um die Problemkinder kümmern. Und beim Design des Systems vor rund 200 Jahren gab es noch gar keine Psychologie. Es geht da seit je um die Massenproduktion von Wissen nach dem Grundsatz „eine Methode für alle“. Und es basiert auf der Vermutung, dass Kinder faul sind und dass sie nur lernen, wenn man sie zwingt. Das ist ein industrielles Modell ohne Erkenntnisse aus Psychologie und Genforschung. Es widerspricht allem, was wir heute über den Menschen wissen. Übrigens auch vielem, was wir über uns als soziale Wesen wissen.
PH Was meinen Sie damit?
KNOOP Noam Chomsky hat vor einigen Jahren sinngemäß gesagt, ein Leben ohne Liebe sei leer und sinnlos. Doch an unseren Schulen sehen wir die soziale Komponente und die akademische Komponente viel zu selten als zwei Seiten derselben Medaille. Ich erzähle da gerne die Geschichte von Michael, einem Fünftklässler, den ich frage: „Michael, wie fühlt es sich an, so gut in Mathe zu sein, jetzt, wo du gar keine Freunde hast?“
PH Das ist ein Witz!
KNOOP Natürlich. Aber es steckt eine Wahrheit dahinter: Gute Noten sind nichts wert, wenn es niemanden gibt, der sich mit dir freut. Wir beschränken die soziale Seite in unserer Kompetenzentwicklung auf das Privatleben. Deshalb benoten wir sie auch nicht. In unserem „Wir lernen nur für die Klassenarbeit“-Paradigma geht der Blick auf menschliche Beziehungen sehr leicht verloren.
PH In ganz Europa hat man Probleme mit Schulabbrechern. Es gibt zu viele davon. Was kann man tun?
KNOOP Nun, das ist einfach. Drei Dinge sind dafür wichtig: Freude am Lernen. Inhalte, deren Sinn sich den Kindern erschließt. Und eine soziale Komponente, die ich als „olympischen Geist“ bezeichne.
PH Das müssen Sie näher erklären!
KNOOP Okay, reden wir über die Freude am Lernen. Das ist so fundamental, dass man eigentlich keine Psychologie dafür braucht: Wenn die Kinder etwas freiwillig machen, dann bleiben sie automatisch dabei und wollen mehr davon. Sie erleben Flow-Momente und gehen auf in dem, was sie tun. Diese Momente muss Schule erzeugen. Nicht nur, weil es Spaß bringt. Sondern auch wegen der Nebeneffekte: Flow macht Kinder resilienter, also stabiler gegen Rückschläge. Sie bekommen ein besseres Selbstwertgefühl. Doch all das passiert nur selten. Die Kinder heute erleben genau das, was bereits Sie und ich in unserer Schulzeit erlebt haben: viel zu viel Passivität. Viel zu viel Disziplin ohne wirklichen Sinn dahinter. Man schaut auf die Uhr und wartet, dass es endlich läutet.
PH Konkret gefragt: Wie erzeugt man Freude am Lernen?
KNOOP Mein Kollege Daniel Kahneman …
PH … der erste Psychologe, der je mit einem Nobelpreis geehrt wurde …
KNOOP … hat darüber eine Menge geschrieben. Er unterscheidet zwei Arten des menschlichen Denkens und spricht dabei von System I und System II. System I ist intuitiv, praktisch, schnell und emotional. System II ist langsam, theoretisch und abstrakt. Beide sind wichtig. Aber Freude am Lernen entsteht nur, wenn wir System I ansprechen. Alle Schulbücher, die ich kenne, sind dagegen für System II geschrieben. Darin finden wir keine Erfüllung, keine unmittelbare Erfahrung, keinerlei Wow-Effekt. Und ich halte es generell für entscheidend, dass Kinder mit konkreten Zielen zur Schule kommen, mit einer eigenen Agenda. Ohne Plan, ohne Projekt und ohne Ehrgeiz wird Unterricht immer langweilig.
PH Ihr zweiter Punkt: sinnvolle Aufgaben! Meine Kinder stellen mir diese Frage andauernd: „Warum soll ich das eigentlich lernen?“
KNOOP Und sie haben vollkommen recht damit. Am Anfang steht immer die Neugier. „Ich will wissen, wie das geht!“ Erst dann kannst du in die Theorie gehen, erst dann wird Theorie toll und großartig. Aber was haben wir heute an unseren Schulen? Jede Menge Wissen, das wir niemals anwenden werden. Das gilt vor allem für den Mathematikunterricht. Man stelle sich vor, um wie viel stärker und unternehmerischer unsere Gesellschaft wäre, wenn die Kinder den Sinn hinter ihren Matheaufgaben erkennen würden. Wenn sie Mathe nicht nur für die nächste Klassenarbeit lernen würden. Wir hätten engagiertere Bürger und viel mehr neue Ideen.
PH Sie haben vorhin von einem „olympischen Geist“ gesprochen. Was genau meinen Sie damit?
KNOOP Ein Beispiel: Schauen Sie sich an, wie die Kinder in der Mittagspause Fußball spielen. Die machen das jeden Tag, immer und immer wieder. Und alle strengen sich an – obwohl jedes Mal die Hälfte von ihnen das Match verliert. Aber am Ende ist es nicht so wichtig, ob man gewonnen hat oder nicht. Es geht um das Spiel selbst, um den Prozess. Dieses Prinzip brauchen wir in den Klassenzimmern. Der Prozess ist unsere erste Priorität, das Ergebnis eher das Nebenprodukt. Wir wissen, dass diese Haltung Folgen hat: Die Ergebnisse werden besser, sobald sie nicht mehr die Hauptsache sind. Die Kinder erleben viele Flow-Momente. Und genau dabei lernen sie am meisten.
PH Klingt, als hätten Sie etwas gegen Wettbewerb!
KNOOP Im Gegenteil. Der Mensch ist eine Spezies, die Wettbewerb liebt. Sobald Menschen beisammen sind, werden sie wetteifern – ganz automatisch. Man will nach oben, man will sein Revier erweitern. Mehr noch: Wettbewerb macht Spaß. Sonst hätte bei der Fußball-WM kein Mensch vor dem Fernseher gesessen. Kein Junge würde ein Computerspiel akzeptieren, in dem man nicht verlieren kann. Er würde sofort zum nächsten Level wechseln.
PH Aber?
KNOOP Wettbewerb hat auch seine dunklen Seiten. Der Wettbewerb in der Natur: Die Schwachen sterben und werden gefressen. An den Schulen macht das System von Klassenarbeiten und Zensuren die Schwachen zu Verlierern. Und zwar aus mehreren Gründen. Einer davon ist der menschliche negativity bias, unsere Negativitätsverzerrung: Kopfnoten, also die Noten für Mitarbeit und soziales Verhalten, schädigen die Kinder, die unten sind, mehr, als sie die Kinder stark machen, die oben sind. Das alles führt für viele zu Konformität, Furcht, Unkreativität und wenig Wohlbefinden. Und zwar immer dann, wenn es kein übergeordnetes Ziel für die Gruppe gibt – und wenn die Einzelnen nicht in der Lage sind, dieser unangenehmen Situation zu entfliehen. Genau das gilt es anzuerkennen. Das ist keine politische Entscheidung, sondern eine wissenschaftliche Erkenntnis. Deshalb, kurz gesagt: Ja, wir brauchen Wettbewerb an den Schulen – aber möglichst einen, der niemanden stigmatisiert.
PH Man könnte wie beim Fußball nur die Teamleistung veröffentlichen – wie gut hat die gesamte Klasse bei einem Test abgeschnitten?
KNOOP Das ist in der Tat einer meiner Vorschläge. Wir sind viel stabiler, wenn wir in der Gruppe sind. Das wissen wir aus der Forschung: Nur eine Person auf deiner Seite macht dich um 70 Prozent stärker. Umgekehrt schmerzt eine Demütigung oder Niederlage dann am meisten, wenn du allein bist. Deshalb ist der Klassenwettbewerb eine tolle Idee. Er hat übrigens noch einen zweiten olympischen Effekt: Bei den nächsten Spielen wollen alle wieder dabei sein, auch wenn sie keine Medaille geholt haben. Das bedeutet: Wir wollen Gemeinschaft mit den anderen haben. Wir merken, dass wir mehr sind als nur eine Einzelperson, dass wir zu einem Team gehören, zu einem Orchester, in dem wir unbedingt weiter mitspielen wollen.
PH Die Arbeiten des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie zeigen, dass die Person des Lehrers der entscheidende Faktor für den Lernerfolg der Kinder ist. Viele Lehrer, die ich kenne, sind jedoch in der Krise: müde, desillusioniert, am Limit. Und bei Ihnen in Dänemark geht die Zahl der Lehramtsstudenten gerade dramatisch zurück. Keiner hat mehr Lust auf diesen Job. Was läuft da schief?
KNOOP In der positiven Psychologie sprechen wir von „Flourishing“, dem Aufblühen von Menschen. Viele Lehrer blühen gerade überhaupt nicht. Die Gründe sind dieselben wie bei den Schülern. Wir nehmen ihnen die Chance, spielerisch und auf ihre eigene Art zu lehren. An den Schulen läuft es so: Irgendwo gibt es Probleme, und dann kommt die Organisation und bringt noch mehr Struktur und Einmischung, weil man sonst – als Minister, als Oberschulrat oder als Schulleiter – die ganze Kritik abbekommt. Aber damit macht man’s nur schlimmer, weil es immer weniger Freiheit und Unvorhersagbarkeit für den Einzelnen gibt.
PH In der Wirtschaft würde man von „zu viel Mikromanagement“ sprechen.
KNOOP Stimmt. In meinen Vorträgen zeige ich gerne das Bild von blühenden Ginsterbüschen. Das ist eine Metapher für gutes Lehren und Lernen. Du kannst für so eine Pflanze kein Mikromanagement betreiben. Du kannst nicht an ihr ziehen, damit sie schneller wächst. Du sorgst für gute Rahmenbedingungen – dann wächst und blüht sie von selbst. Wir tun seit 200 Jahren so, als wäre Schule eine Maschine. Dabei verhält sie sich wie ein lebender Organismus. Also: Wir brauchen mehr Freiheit für die Lehrer. Viele erleben Schule heute als totalitäres System, in dem alles top-down, also von oben nach unten geregelt wird. Das nimmt den Lehrern ihren Berufsstolz und führt genau zu der Reformapathie, die wir heute sehen.
PH Wie reagieren Politiker, wenn Sie ihnen das erzählen?
KNOOP Die Debatte wird fast immer auf dualistische Art und Weise geführt. Nach dem Motto: Wir brauchen entweder mehr Ordnung oder mehr Unvorhersagbarkeit. Viele sind irritiert, wenn ich sage: Wir brauchen beides gleichzeitig. Wir brauchen Ziele, Sinn und Orientierung im Leben. Aber Unvorhersagbarkeit ist ebenso wichtig. Denn unser Organismus passt sich sehr schnell an gegebene Umstände an. Wach wird er nur, wenn es Überraschungen gibt, nur dann machen wir wirkliche Erfahrungen. Solche Gedanken sind nicht immer leicht zu vermitteln.
PH Welche Alternativen sehen Sie zum derzeitigen System?
KNOOP Bevor ich antworte, möchte ich etwas Grundsätzliches sagen. Ich sehe positive Psychologie, wie ich sie vertrete, immer als nutzbare Psychologie. Unser Wissen schafft eine neue Perspektive. Man bekommt dadurch nicht immer eine einfache Lösung, aber fast immer eine bessere Landkarte. Nun zu den Alternativen. Mein nicht besonders diplomatischer Kollege Peter Gray aus Boston sagt: Schule, wie wir sie kennen, ist ein Gefängnis. Er plädiert für demokratische Modelle, wie es zum Beispiel die Sudbury-Schulen verfolgen. Bill Gates sagt über das öffentliche Schulsystem in Amerika: Du kannst es nicht reparieren, es ist einfach zu kaputt. Man muss es grundlegend neu erfinden. Er verfolgt die Idee des Flipped Learning …
PH… die man in Deutschland als „umgedrehten Unterricht“ kennt und seit einigen Jahren an verschiedenen Schulen testet.
KNOOP Vereinfacht gesagt, funktioniert die Methode so: Man lernt die Inhalte zu Hause via YouTube –etwa über die Lehrfilme der Khan Academy. Und in der Schule arbeitet man dann gemeinsam an der Vertiefung des Stoffes. Eine andere Alternative kommt von Sugata Mitra aus Indien. Sein Projekt nennt sich Hole in the Wall. Er hat, kurz gesagt, ein Loch in eine Mauer geschlagen, einen Computer hineingebaut und die Kinder damit allein gelassen. So schafft man mit sehr einfachen Mitteln eine selbstorganisierte Lernumwelt. Mitra hat das Modell über viele Jahre an sehr unterschiedlichen Orten getestet – mit erstaunlichen Erfolgen.
PH Im Internet findet man seinen preisgekrönten Vortrag School in the Cloud. Dort behauptet Sugata Mitra, jedes Kind brauche mit seiner Methode nur neun Monate, um am Rechner so fit zu sein wie jede normale Bürokraft im Westen– und das praktisch ohne Lehrer.
KNOOP Ja, die Kinder bringen sich selbst Englisch bei und wissen nach kurzer Zeit, wie man einen Browser repariert. Aufregende Forschung – aber ich will das gar nicht als direkte Alternative präsentieren. Denn man setzt ein etabliertes System wie das unsere nicht so einfach aufs Spiel. Es sorgt immerhin für Stabilität in einer chaotischen Welt. Und wir wissen, dass gerade die benachteiligten und überforderten Kinder eine Menge Struktur brauchen. Auch ein Mix aus guten Lehrern und viel Struktur kann sehr gute Ergebnisse bringen. Ich schlage mich in dieser Frage deshalb nur ungern auf die eine oder andere Seite.
Der Psychologe Hans Henrik Knoop arbeitet als Professor an der dänischen Universität Aarhus. Psychologie Heute-Autor Jochen Metzger traf ihn zum Interview in Amsterdam - im Rahmen der 7. Europäischen Konferenz für Positive Psychologie.