Frau Lamberty, um für Ihr Buch Fake Facts zu recherchieren, besuchten Sie mit ihrer Mitautorin Katharina Nocun eine Esoterikmesse. Was haben Sie dort gemacht?
Wir haben uns von den Anbietern vermeintlich heilsamer Edelsteine beraten lassen und dabei angegeben, wir hätten eine Person in der Familie, die an Krebs erkrankt sei. Wir erfuhren, dass diese Steine gegen die Erkrankung hilfreich seien. Darüber hinaus haben wir uns Aufkleber gekauft, die gegen die negative Strahlung der 5-G-Technologie helfen…
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hinaus haben wir uns Aufkleber gekauft, die gegen die negative Strahlung der 5-G-Technologie helfen sollten. Es wurden nicht nur diese kleinen Aufkleber angeboten, sondern auch aufstellbare Schilder oder große Sticker, die man sich unters Bett legen kann. Wir stießen auf der Messe auch auf fragwürdige Bücher, in denen es um ADHS-Fehldiagnosen ging. Wahrsagerinnen und Wahrsager boten den Besucherinnen und Besuchern an, sie könnten ihr „vergangenes Ich“ kennenlernen. Bei vielen Angeboten, für die zum Teil viel Geld verlangt wurde, hatten wir den Eindruck: Hier wird mit den Ängsten der Menschen Geld gemacht, nach dem Prinzip: Es gibt Hoffnung auf sanfte Heilung.
Womit wir indes nicht gerechnet hatten: Ein Arzt sprach in einem Vortrag nicht nur über die angeblichen Gefahren des Impfens, sondern äußerte sich auch vehement menschenfeindlich und rassistisch, bezeichnete etwa homosexuelle Menschen als „niedere Lebewesen“. Das stieß auf freudige Zustimmung bei den Zuhörerinnen und Zuhörern. Ich hatte den Eindruck, sie nahmen das nicht nur in Kauf, sondern fanden es gut – es gab keinerlei Gegenrede.
Welche esoterischen Ansätze sind rassistisch und rechtsextremistisch?
Das ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Aber hochgradig gefährlich und antisemitisch ist die sogenannte „germanische neue Medizin“ des mittlerweile verstorbenen deutschen Arztes Ryke Geerd Hamer, der zu Lebzeiten Hallen füllte und eigene Kliniken aufgebaut hatte. Es gibt aber auch heute Menschen, die sich auf ihn beziehen. Einer ist Herausgeber einer Zeitschrift namens „Impfreport“ und Initiator von sogenannten „Impfstammtischen“. Deren Ziel ist, die Menschen von Impfungen abzubringen.
Die Mischung aus Esoterischem und Rechtsextremismus findet sich auch bei „Anastasia“, der größten Sekte in Russland, die aber unter anderem auch in Deutschland aktiv ist. Sie beruht auf einer Buchreihe von Wladimir Megre. Der Autor trifft seine Kunstfigur Anastasia regelmäßig und sie fungiert als eine Art Lebensberaterin und gibt ihre angeblichen Weisheiten über die Menschen und die Natur zum Besten. Anastasia ist gebärfreudig, blond und lebt im Wald. Doch diese Idylle trügt: Die Bücher sind extrem antisemitisch, bis hin zur Leugnung des Holocausts.
Und was hat das mit Esoterik zu tun?
Hier finden sich die esoterischen Heilsvorstellungen von Natur und Stärke, wie sie sich auch hinter der germanischen Medizin verbergen. Natur ist gut und wird romantisiert. Das klingt erst mal harmlos, aber dahinter steht ein streng hierarchisch-elitäres Weltbild, in dem jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze einen zugewiesenen festen Platz in der Natur hat, der sich nicht verändern lässt. Natürlich gehört dazu auch die Bevorzugung von Naturheilverfahren gegenüber der evidenzbasierten Medizin.
In Deutschland lassen sich Vertreter der Anastasia-Sekte in Gegenden nieder, in denen es Landflucht gibt. Dort kaufen sie aufgegebene Höfe und bauen sie wieder auf. Die Kommunen freuen sich – es sind junge Familien, die freundlich und ein bisschen hippiemäßig auftreten. Sie geben sich zugänglich, bieten Kulturhandwerk an und engagieren sich in Umweltschutzverbänden. Sie haben Kontakte zu rechtsextremen Kreisen, aber verschleiern das.
Gibt es auch Beispiele aus dem Bereich der Therapie?
Da sind die Familienaufstellungen nach Bert Hellinger, von denen sich die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie 2003 distanzierte, die aber nach wie vor praktiziert werden. Die Vorstellungen, die sich hinter Hellingers System verbergen, sind autoritär, streng hierarchisch und sexistisch. Hier wird Frauen in der Rangordnung ein Platz weit hinter dem Familienoberhaupt zugewiesen. Beispielsweise kann laut dem Weltbild von Bert Hellinger eine Krebserkrankung als „Rache“ gelten, man bekommt sie, weil man jemanden gekränkt hat.
Woher kommen diese Gemeinsamkeiten?
Dazu muss man ein ganzes Stück in der Geschichte zurückgehen. Die einflussreiche russische Okkultistin und Begründerin der Theosophie, Helena Blavatsky, verkündete in ihrem 1800 Seiten umfassenden und 1888 veröffentlichten Werk Die Geheimlehre unter anderem die sogenannte „Wurzelrassenlehre“, eine „Stufenlehre“, in der „Rassen“ hierarchisch geordnet werden. Die sogenannten „Arier“, sollten sich auf der „fünften Stufe“ herausgebildet haben. Juden waren diesem rassistischen Weltbild zufolge „abnorm“ und „unnatürlich“. Die „Ausrottung“ indigener Gruppen galt als „karmische Notwendigkeit“. Aus der Lehre von Blavatsky spalteten sich weitere ab: Zum Beispiel die „Ariosophie“ mit dem arischen Weltbild, wie es später von Nationalsozialisten aufgegriffen wurde. Und die Anthroposophie. In der Zeit des Nationalsozialismus waren esoterische Ansichten weit verbreitet. Führende Politiker gingen zu Wahrsagern oder praktizierten Okkultismus. Naturheilkunde und Esoterik galten der damals sogenannten „verjudeten Schulmedizin“ als überlegen. Was heute viele gar nicht wissen: Hinter dem Begriff „Schulmedizin“ verbirgt sich der Mythos, „die Juden“ wollten mit Impfungen die Bevölkerung manipulieren und vernichten. Der Gedanke des Naturschutzes wurde in der NS-Zeit weiter rassistisch aufgeladen.
Wie kann es sein, dass diese alten Erzählungen und Mythen heute immer noch so virulent sind?
Es gibt ungezählte Narrative, die sich durch die Jahrhunderte ziehen. Ein drastisches Beispiel: Eine Studie zeigte, dass dort, wo es zu Zeiten der Pestepidemie in Europa Pogrome gegen Juden gab, Jahrhunderte später zu Zeiten des Nationalsozialismus der Antisemitismus besonders ausgeprägt war. Dieses Wissen wird in Gesprächen, in Texten, in Reden weitergegeben – es wird übernommen, geglaubt und ist extrem langlebig. Bis heute haben viele Menschen eine Abneigung gegen „die Schulmedizin“. Bis heute ist die Aufklärung etwa hinsichtlich von Begriffen wie diesem extrem schwierig. Den historischen Hintergrund kennen nicht viele. Diese althergebrachte Abneigung gegen die naturwissenschaftliche, evidenzbasierte Medizin teilen Esoteriker mit Menschen, die zu einer Verschwörungsmentalität neigen.
Im esoterischen und rechtsextremistischen Denken gibt es, wie Sie schreiben, ähnliche Vorstellungen davon, was Gesundheit eigentlich ist. Um was geht es dabei?
Das ist zum einen die Idee, dass der gesunde Körper von Natur aus stark ist und sich selbst heilen kann. Die Natur ist ein Vorbild, sie hat eine natürliche Ordnung und diese ist gut. Dagegen ist alles schädlich, was „künstlich“ und „chemisch“ ist. Dieser Dualismus „Natürlich ist gleich gut“ gegen „Chemisch ist gefährlich“ wird übertragen auf Heilmethoden und Heilsvorstellungen und prägt auch Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben und der Bewertung von Andersdenkenden, Minderheiten, anderen Religionen.
Solche Überzeugungen schieben allerdings dem Individuum praktisch die alleinige Verantwortung für die eigene Gesundheit zu: Der Körper kann das, es braucht, wenn überhaupt, nur sanfte Medizin.
Was für ein Verständnis von Krankheit steht dahinter?
Wenn man krank ist und nicht wieder richtig gesund wird oder stirbt, hat man sich halt nicht genug angestrengt – man ist gescheitert. Es geht noch weiter: Laut dieser Vorstellung hat jeder Mensch ein Karma, wonach wir „das bekommen, was wir verdienen“. In der erwähnten germanischen neuen Medizin gibt es Krankheiten im Sinne der evidenzbasierten Medizin eigentlich nicht. Die physische Existenz eines Tumors wird geleugnet und dieser in einen „seelischen Konflikt“ umgewandelt, der daher rührt, dass man als Kind einmal ins Wasser gefallen ist. Wenn man also erkrankt, dann muss man da durch, und zwar ohne Medikamente oder nur mit den „sanften Verfahren“, die Hamer und seine Nachfolger propagieren. Und wenn man es überstanden hat, soll das eine Stärkung sein. Wenn man an einer Erkrankung stirbt, ist es eine Art „natürliche Auslese“. Es sind naive Vorstellungen davon, welche physiologischen Prozesse im Körper ablaufen und was Erreger im Körper machen. Das könnte erklären, warum die Risiken durch das Coronavirus manche Menschen nicht wirklich anfechten.
In manchen esoterischen Kreisen gibt es die Vorstellung, dass Krankheiten eine „entwicklungsfördernde Wirkung“ bei Kindern haben können, etwa im Fall der Masern. Woher kommt das?
Dieses Verständnis ist im anthroposophischen Denken tief verankert. In einem Infoblatt der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte wurde vor ein paar Jahren noch vermerkt, dass manche Eltern bei Masernerkrankungen ihrer Kinder eine „Reifung“ erleben würden. Dafür gibt es aber keinerlei Belege.
Der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, baute seine eigene Evolutionslehre auf der Wurzelrassenlehre von Helena Blavatsky auf. Steiner unterschied zum Beispiel Menschen nach ihrer Hautfarbe und verband die „weiße Rasse“ mit einem „Denkleben“, die „gelbe“ hingegen mit dem „Gefühlsleben“. Diese rassistische Unterteilung führte in der Anthroposophie immer wieder zu Diskussionen. Rudolf Steiner wertete besonders schwarze Menschen ab. Historikerinnen und Historiker haben nachgewiesen, dass er als junger Mensch Verschwörungsmythen verbreitete, die den Juden die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs gaben. Zugleich wurden während des Nationalsozialismus Waldorfschulen geschlossen und die Anthroposophie abgelehnt. Dieser Zwiespalt innerhalb der Anthroposophie ist bis heute nicht ganz aufgelöst. Es wurden Kommissionen eingesetzt, die die inhaltlichen Bezüge zu verschwörungsmystischen, esoterischen und rechtsextremistischen Ideen aufarbeiten sollten. Aber die Versuche der Aufarbeitung waren manchmal halbherzig, und eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Ideologie wurde vermieden.
Wer ist anfällig für esoterisch-extremistisches Denken?
Vermutlich sind diejenigen, die latent zu einem Schwarz-Weiß-Denken neigen und sich von esoterischen Heilsvorstellungen angesprochen fühlen, offener für Heilsversprechen, die auf Natur und die Kraft des Körpers setzen. Die Übergänge zu Rassismus und Extremismus sind dann fließend – eben weil hier auch Verschwörungsdenken eine Rolle spielt. Das Problem: Indem ich diese zweifelhaften Angebote unhinterfragt nutze und befürworte, gebe ich sie schon weiter – auch wenn ich nicht extremistisch denke. Attraktiv ist dieses Denken auch für diejenigen, die eher ganzheitlich, holistisch ausgerichtet sind. Sie erleben Zahlen und Statistiken als weniger hilfreich, sie haben keinen Zugang dazu. Ihr Weltbild fußt eher auf dem Ganzen als auf einzelnen Teilen.
Aber auch wenn Menschen in Not sind – sei es durch eine persönliche Krise, eine körperliche oder seelische Erkrankung –, kann ein Angebot wie die germanische neue Medizin, auf die man vielleicht zufällig im Internet stößt oder über die Bekannte und Freunde berichten, mit einem Versprechen von Heilung und Erlösung locken. Vielleicht haben Menschen schwierige Erfahrungen mit evidenzbasierten Behandlungen gemacht und suchen nach einem Ausweg. Sie haben womöglich lange nach einem Therapieplatz gesucht und nichts gefunden.
Wie kann ich mich schützen?
Das dichotomische Stark-schwach- und Gesund-krank-Denken ist problematisch. Schwäche ist nichts Schlimmes und Erkrankungen sind kein Scheitern. Stattdessen sollten wir lieber darüber sprechen, wie es uns geht. Und das tun wir offenbar viel zu wenig. Eine Studie zeigte kürzlich, dass 55 Prozent der befragten Deutschen noch nie mit jemandem über ihr seelisches Wohlbefinden gesprochen hatten. Das sollten wir ändern.
Pia Lamberty ist Sozialpsychologin und promoviert an der Fakultät für Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Mainz. Zusammen mit der Publizistin Katharina Nocun verfasste sie das Buch Fake Facts, das 2020 bei Quadriga erschien