Sie beobachten, wie eine junge Frau von einer Gruppe Jugendlicher angepöbelt wird. Greifen Sie ein, um ihr zu helfen, oder warten Sie ab, ob vielleicht andere Passanten aktiv werden?
Das aktuelle Projekt im Job läuft schief, nur wenn jetzt alle an einem Strang ziehen, kann der Flop noch abgewendet werden. Andererseits ist die Situation ideal, um sich im Alleingang gegen den Projektleiter zu profilieren, was bei der nächsten Beförderung hilfreich sein könnte – für welche Option entscheiden Sie sich?
Wer kann…
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der nächsten Beförderung hilfreich sein könnte – für welche Option entscheiden Sie sich?
Wer kann schon mit Sicherheit sagen, was man in solchen Situationen tun würde? Immer wieder berichten Medien über eklatante Fälle von verweigerter Hilfsbereitschaft im Falle eines Unfalls oder Verbrechens. Im Berufsleben verursachen unkooperative Einzelgänger oft Ärger, und schon in banalen Alltagssituationen wie dem Gedränge auf einem U-Bahn-Steig muss man immer wieder egoistische gegen altruistische Ziele abwägen. Dabei ist kooperatives Verhalten nicht nur sozialpolitisch relevant; auch jeder Einzelne kann davon profitieren, wenn er plötzlich auf Unterstützung und Hilfe angewiesen ist.
Unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, den eigenen Nutzen zugunsten gemeinsamer Interessen zurückzustellen, erforschen Psychologen. Experimente im Labor, Befragungen und sogar die Beobachtung von Menschenaffen sollen helfen, den psychologischen und evolutionären Wurzeln der Kooperation auf die Spur zu kommen. Die Erkenntnisse gehen über reine Grundlagenforschung hinaus – aus ihnen sind durchaus Empfehlungen ableitbar, wie die Bereitschaft zur Kooperation erhöht werden kann. Wie also entsteht Kooperation, unter welchen Bedingungen steigt und sinkt sie, und wie kann man sie gezielt fördern?
Kooperation – ein Erbe der Evolution
Erste Aufschlüsse gibt die Evolution. Kooperation nämlich erwies sich im Laufe der Menschheitsgeschichte als sinnvolle Überlebensstrategie und ist deshalb tief in unserem Verhaltensrepertoire verankert. Die meisten Tierarten schließen sich zu Herden, Schwärmen, Rudeln zusammen, weil sie instinktiv wissen, dass es die Überlebenschancen erhöht. Primaten haben das perfektioniert. So sorgen Schimpansen für Kranke und Verletzte, adoptieren Waisen und jagen gemeinschaftlich kleinere Affen. Eine angeborene differenzierte und selbstverständliche Kooperation allerdings ist nur beim Menschen zu beobachten, denn er weiß dank Intelligenz und Erfahrung auch rational, dass es gemeinsam besser geht.
Michael Tomasello ist Psychologe und Verhaltensforscher am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Er beobachtet Kleinkinder und vergleicht ihre Hilfsbereitschaft mit der von Schimpansen. Nach zahlreichen Studien kommt er zu dem Schluss: Kooperation ist unser wichtigstes Erfolgsrezept. Der Mensch ist das einzige Wesen, das bewusst wir sagt, sich in andere hineindenkt, Freude am Teilen und Helfen empfindet: „In einem beispiellosen Ausmaß hat sich der Homo sapiens daran angepasst, in Gruppen kooperativ zu handeln und zu denken. Ausgestattet mit ihrer kulturellen Intelligenz, können Kinder im Laufe ihres Heranwachsens zunehmend an diesem kooperativen Gruppendenken teilhaben“, erklärt Tomasello. Laut Studien bevorzugen schon Babys Personen, bei denen sie ein helfendes Verhalten beobachtet haben. Entwicklungspsychologen sehen das als Indiz für angeborene Hilfsbereitschaft. Lange bevor Kleinkinder eine Vorstellung von gesellschaftlichen Normen haben, teilen und kooperieren sie auf einfache Art, bis sie dann – ab etwa dem vierten Lebensjahr – die komplexen moralischen Werte der Gesellschaft übernehmen, in der sie leben.
Auch Martin Nowak, Harvard-Professor für Biologie und Mathematik mit den Spezialgebieten Evolution und Spieltheorie, vertritt die These, dass nicht Egoismus, sondern Kooperation letztlich der Schlüssel zum evolutionären Erfolg war: „Ihre beeindruckende Fähigkeit, zusammenzuarbeiten, ist einer der Hauptgründe, warum Menschen in jedem Ökosystem der Erde überleben können. Kooperation – nicht Konkurrenz – stützt Innovation.“ Erst indem potenzielle Konkurrenten beschlossen, einander zu helfen, sei die beispiellose Entwicklung des Menschen möglich geworden.
Überwachungskameras – ein hilfreiches Mittel zur Förderung von Kooperation?
Die Voraussetzungen für vertrauensvolle Kooperation sind also biologisch gegeben, jedoch hemmen viele Faktoren diesen Prozess. Jeder von uns steht im ständigen Konflikt zwischen Eigen- und Gruppennutzen, zwischen Alleingang und Zusammenarbeit. Wie dieser Konflikt gelöst wird – dazu gibt es Theorien: Nach der Interdependenz-Theorie etwa hängt Kooperationsbereitschaft davon ab, wie man Nutzen und Folgen des eigenen Verhaltens einschätzt: Geht man davon aus, dass ein Gegenüber willig ist zu kooperieren, steigt auch die eigene Bereitschaft dazu. Die Selbstkontroll-Theorie wiederum sieht diese Bereitschaft abhängig davon, wie gut jemand in der Lage ist, seinen egoistischen Impulsen zu widerstehen, etwa auf eine sofortige Belohnung zu verzichten, um langfristig einen Nutzen für die Gruppe zu erzielen.
Experimente, bei denen Teilnehmer entscheiden müssen, ob und in welchem Maß sie mit anderen zusammenarbeiten, um ein Ziel zu erreichen, deckten außerdem Faktoren auf, welche die Kooperationsbereitschaft unmittelbar beeinflussen: Emotionen wie etwa Unsicherheit und Angst senken die Kooperationsbereitschaft. Und je größer eine Gruppe, umso geringer die Hilfsbereitschaft – ein Phänomen, das Rettungskräfte oft beobachten: Je mehr Passanten Zeugen eines Unfalls oder Verbrechens werden, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dem Opfer hilft, und umso mehr Zeit vergeht, bis geholfen wird. Hauptursache dieses „Bystander-Effekts“ ist die sogenannte Verantwortungsdiffusion, also das Verschieben der eigenen Verantwortung auf die anderen Umstehenden. Und selbst simple Umgebungsfaktoren wie stressverursachender Lärm oder Zeitdruck erwiesen sich in Experimenten als kooperationshemmend.
Je besser dagegen die Kommunikation in einer Gruppe und je höher die Identifikation des Einzelnen mit den anderen Gruppenmitgliedern, umso kooperativer wird agiert. Auch die Überzeugung, dass es für den Erfolg der Gruppe wesentlich auf einen selbst ankommt, kurbelt die Bereitschaft an. Und speziell bei Männern beobachten Psychologen in Experimenten ein weiteres Phänomen: Die Existenz einer konkurrierenden Gruppe (out-group) spornt Kooperation an. Äußere Feinde und Konkurrenz schweißen offenbar zusammen und reduzieren Egoismus.
Noch ein weiterer Faktor beeinflusst den Kooperationswillen – Überwachungskameras. Ein Team um den niederländischen Psychologen Marco van Bommel versetzte Probanden in die heikle Lage, einen Dieb stellen zu können (der zum Forscherteam gehörte, was die Probanden jedoch nicht wussten). Waren sie mit dem Täter allein im Raum, griffen 15 Prozent ein, um den Diebstahl zu verhindern. Waren noch andere Personen, also Zeugen des Probandenverhaltens anwesend, griff jeder Vierte ein, und bei zusätzlich installierten Kameras wurden sogar 45 Prozent aktiv. Offensichtliche Überwachung erhöht also Zivilcourage und Engagement. Eine frühere Studie hatte gezeigt, dass bereits ein Poster mit überdimensionalen Augen ausreicht, um die Ehrlichkeit von Büroangestellten beim Spenden in die Kaffeekasse zu erhöhen – wer sich beim Kaffeeholen beobachtet fühlte, zügelte seinen Egoismus eher und bezahlte das Getränk ehrlich. Schon Kleinkinder teilen bereitwilliger mit anderen, wenn sie sich beobachtet wissen, wie Entwicklungspsychologen herausfanden. Am deutlichsten übrigens dann, wenn die Beobachter der eigenen Gruppe angehören. Bereits im Kindesalter stehen wir also nur ungern öffentlich als unkooperative Egoisten da.
Zur Kooperation gezwungen: Strafaktionen sind wirksam
Strafen erzielen interessanterweise einen ähnlich disziplinierenden Effekt: Müssen Versuchspersonen Sanktionen befürchten, etwa aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, agieren sie deutlich kooperativer. Allerdings hängt das davon ab, wie viel Vertrauen in einer Gemeinschaft generell in das Verhalten der Mitmenschen gesetzt wird. Daniel Balliet von der Universität Amsterdam verglich in einer Metastudie die Ergebnisse von 83 Untersuchungen in 18 Ländern und entdeckte eine auffällige Regelmäßigkeit: Sanktionen für Normübertretungen wirken vor allem in solchen Gesellschaften, in denen hohes Vertrauen herrscht. Je weniger Vertrauen, umso geringer auch die Überzeugung, dass Sanktionen andere Gruppenmitglieder zu kooperativen Interaktionen bewegen; entsprechend unkooperativer fällt das allgemeine Benehmen aus.
Mit Strafen müssen unkooperative Zeitgenossen in praktisch allen Gesellschaften rechnen. Das kann von Empörung, Wut oder Verachtung bis hin zum Ausschluss aus der Gruppe reichen, was im Extremfall die Existenz gefährdet. Aus der Perspektive der Evolution ist das sinnvoll, da erzwungene Kooperation zur Gesamtfitness der Gruppe beiträgt und so das Überleben aller sichert. Ein überraschendes Detail der Sanktionskultur entdeckte Dominique de Quervain von der Universität Basel. Der Neurowissenschaftler untersuchte in einem Spielexperiment, wie die „altruistische Bestrafung“ von Kooperationsmuffeln, die das Vertrauen ihrer Mitspieler missbrauchen, um den eigenen Gewinn zu maximieren, auf das Gehirn wirkt. Und siehe da – sie aktiviert Hirnregionen im sogenannten Striatum, die normalerweise für das befriedigende Gefühl von Belohnung zuständig sind.
Das heißt: Die Planung von Strafen gegen unkooperative Gruppenmitglieder löst beim Bestrafenden angenehme Gefühle aus. Allerdings nur dann, wenn es sich nicht nur um eine rein symbolische, sondern für den Betroffenen deutlich fühlbare Strafe handelt. Das war in dem Experiment dann der Fall, wenn der Gewinn der Kooperationsmuffel durch die Strafe spürbar reduziert wurde. „Unsere Ergebnisse unterstützen die These, dass Menschen eine Befriedigung daraus ziehen, Normverletzungen zu bestrafen, und die Aktivierung des dorsalen Striatums vorweggenommene Befriedigung aus der Bestrafung zieht“, erklärt de Quervain. Dieser Effekt dürfte dazu beigetragen haben, dass in allen Kulturen der Welt ausgefeilte Sanktionssysteme kooperatives Verhalten unterstützen.
Selbst kulturübergreifend gibt es mehr oder weniger kooperative Typen: die eher prosozialen einerseits und die individualistischen und wettbewerbsorientierten andererseits. Laut Studien ist zur Zusammenarbeit besonders bereit, wer Vertrauen zu anderen hat, sich der Folgen seines Handelns für die Zukunft bewusst und stärker an sozialen Werten orientiert ist. „Daraus ergibt sich eine Prädisposition für kooperatives Verhalten“, erklärt Craig Parks von der Washington State University.
Zunächst müsse Misstrauen reduziert werden. Neben strukturellen Lösungen wie etwa Instanzen, die die Kooperation regeln und gegebenenfalls Sanktionen beschließen, seien vor allem psychologische Maßnahmen wirksam, die auf veränderte Einstellungen und Verhaltensweisen abzielen, so Parks. Besonders hilfreich sei es, immer wieder den Nutzen von gegenseitigem Vertrauen und Unterstützung zu kommunizieren. Ein erfolgreiches Beispiel ist das bereits in den 1960er Jahren in den USA entwickelte Positive Peer Culture-Programm, das Gewalt unter Jugendlichen entgegenwirken und Hilfsbereitschaft fördern soll. Es wird auch in europäischen Jugendhilfeeinrichtungen angewandt. Jugendliche lernen dort, trotz eigener Probleme anderen zu helfen. Das bringt einerseits Wertschätzung innerhalb der Gruppe und stützt andererseits das Selbstwertgefühl der Helfer – eine Win-win-Situation.
Auch die sorgsame Nutzung öffentlicher Güter, sparsamer Verbrauch von Ressourcen sowie Wohltätigkeit gehören zur Kooperation in Gesellschaften. Um sie zu fördern, rät die Forschungsgruppe um Parks, das Gemeinschaftsgefühl sowie das Verbundenheitsgefühl mit der jungen Generation zu stärken. Wer sich ihrem Wohlergehen stark verbunden fühle, dem falle es auch leichter, dauerhaft den eigenen Egoismus zu zähmen.
Literatur
Craig D. Parks u. .: Cooperation, trust, and antagonism: How public goods are promoted. Psychological Science in the Public Interest, 3, 2013, 119–165
Daniel Balliet, Paul A. M. Van Lange: Trust, punishment, and cooperation across 18 societies. A meta-analysis. Perspectives on Psychological Science, 4, 2013, 363–379
Marco van Bommel u. .: Intervene to be seen: The power of a camera in attenuating the bystander effect. Social Psychological and Personality Science, Onlinepublikation, 11.10. 2013
Martin Nowak: Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution. C.H. Beck, München 2013
Michael Tomasello: Warum wir kooperieren. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2010
Wechselseitige Abhängigkeit fördert die Kooperation
Der Mensch ist von Natur aus hilfsbereit und kooperativ. Diese These vertritt der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Zwar zeigen auch Menschenaffen durchaus kooperatives Verhalten, doch gibt es hier deutliche Unterschiede
PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Tomasello, wie viel Hilfsbereitschaft kann ich von einem Schimpansen erwarten, und wo stößt diese an ihre Grenzen?
MICHAEL TOMASELLO Man konnte zeigen, dass Schimpansen sowohl anderen Schimpansen als auch Menschen gegenüber in manchen Situationen hilfsbereit sind, etwa wenn es darum geht, ihnen Objekte zu geben, die außerhalb ihrer Reichweite liegen. Hier scheint es aber eine kognitive Grenze zu geben – sie können sich nicht vorstellen, was andere brauchen und wie man es für sie erreichen kann.
PH Der Homo sapiens macht hier einen besseren Job. Warum hat nur der Mensch diese außerordentlichen Fähigkeiten für Gemeinsinn und Zusammenarbeit entwickelt?
TOMASELLO Menschen helfen einander in sehr viel variantenreicheren Situationen, trotzdem ist noch nicht endgültig geklärt, ob sich das qualitativ vom Hilfeverhalten der Schimpansen unterscheidet. Immerhin scheinen beide der mitfühlenden Sorge um eine Person zu unterliegen, die Hilfe benötigt. Allerdings haben Menschen tatsächlich spezielle Fähigkeiten und Motivationen entwickelt, um mit anderen zu kooperieren, um gemeinsam Ziele zu verfolgen.
PH Was lehrt uns die Beobachtung von Affen über die menschliche Bereitschaft zur Kooperation und damit letztlich auch über die Entstehung von Vertrauen und Moral?
TOMASELLO Wenn Menschen sich entscheiden, zu kooperieren, legen sie im Grunde ihr Schicksal in die Hand eines anderen, das heißt: Wenn du deine Sache nicht gut machst, werde ich darunter zu leiden haben. Menschen müssen Verpflichtungen eingehen und Versprechungen machen, um die Dinge zu einem guten Ergebnis zu bringen. Und ihre Partner vertrauen ihnen meistens, kleine Kinder beispielsweise sind besonders vertrauensvoll. Diese Dimension von Bindung und Vertrauen ist wahrscheinlich kein Bestandteil der Kooperation bei anderen Primaten.
PH Welche Aspekte der menschlichen Kooperation stellen die Forschung noch vor Rätsel?
TOMASELLO Menschen haben sowohl eigennützige als auch kooperative Motive, was ein nie versiegendes Material für Mythen, Legenden und Märchen bereitstellt, die wir unseren Kindern erzählen. Und das gilt übrigens auch für viele unserer besten Romane. Das größte Mysterium der menschlichen Kooperation ist die Frage, wie wir entscheiden, wann wir kooperieren und wann wir uns lieber um uns selbst kümmern. Das ist trotz aller Forschung noch nicht eindeutig geklärt.
PH Gibt es so etwas wie einen „Königsweg“, um die Hilfsbereitschaft in einer Gesellschaft zu fördern, also der Entscheidung für den gemeinsamen Nutzen etwas nachzuhelfen?
TOMASELLO Leider gibt es keinen Königsweg. Aber das Beste, was wir tun können, ist, soziale Institutionen zu schaffen, die gegenseitige Abhängigkeiten hervorbringen. Wenn ich von Ihnen abhängig bin, werde ich weniger motiviert sein, bei unserer Kooperation zu betrügen und Sie damit zu verletzen. So eine wechselseitige Abhängigkeit bringt zuverlässig immer wieder Situationen hervor, in denen sich Menschen gleichzeitig um den eigenen Gewinn und den Gewinn für andere kümmern müssen.
INTERVIEW: EVA TENZER