Frau Dr. Vater, angenommen ein Klient oder eine Klientin erzählt Ihnen, er oder sie habe einen narzisstischen Missbrauch erlebt. Wie reagieren Sie?
Als Erstes würde ich versuchen herauszufinden, was er oder sie damit genau meint. Menschen können sich auf unterschiedlichste Weise beziehungsschädigend verhalten. Mit dem Begriff „narzisstischer Missbrauch“ würde ich vorsichtig sein. Solange keine entsprechende Diagnose vorliegt und sich die andere Person nicht äußern kann, wird er der Komplexität…
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keine entsprechende Diagnose vorliegt und sich die andere Person nicht äußern kann, wird er der Komplexität unterschiedlicher Beziehungsdynamiken oftmals nicht gerecht. Ich würde mir vielmehr konkrete Situationen schildern lassen und dabei auch auf das Verhalten beim vermeintlich nichtnarzisstischen Part achten.
Wie beginnen Sie die Therapie?
Das ist nicht einfach, da die Perspektive des anderen fehlt. Ist die Beziehung noch nicht gescheitert, könnte man eine Paartherapie mit im Bestfall zwei geschulten Therapeuten anberaumen. Hat man sich bereits getrennt, würde ich mich gezielt auf die Klientin, den Klienten fokussieren. Was hat er oder sie im anderen gesehen? Was hat ihn, sie anfangs so fasziniert, wann kam der Wechsel? Unter welchen Verhaltensweisen litt er oder sie? Und warum ist er oder sie nicht früher gegangen?
Und wenn diese Fragen beantwortet sind?
Dann versuche ich, den Selbstwert zu stärken. Personen, die aus einer Partnerschaft mit – möglicherweise – narzisstisch gestörten Menschen kommen, haben oft einen niedrigen Selbstwert, soziale Ängste und wahrscheinlich sogar eine Depression entwickelt. In einer möglichen nächsten Beziehung sollten sie sich anders verhalten, mehr für ihre Bedürfnisse eintreten und sich früher lösen können, wenn die Beziehung ihnen nicht guttut. Dabei arbeite ich unter anderem mit dem schematherapeutischen Ansatz.
Wie gehen Sie dabei vor?
Ich versuche, die Muster ungünstiger Erlebens- und Verhaltensweisen, die meist in der Kindheit ausgebildet werden, im Dialog zu erkennen und zu hinterfragen. Im besten Fall können Betroffene so ihre Gefühle und ihr Verhalten besser regulieren. Den gleichen Ansatz würde ich auch bei Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung wählen. Auch bei ihnen spielen oft Selbstzweifel, Angst vor Ablehnung und Scham durch Erlebnisse aus der Kindheit eine Rolle.
Warum ist das vielversprechender, als die Schuld bei seinem Partner, seiner Partnerin zu suchen?
Weil man den anderen nicht verändern kann. Man kann immer nur bei sich selbst anfangen. Partnerschaftskonflikte kann man besser in einer Paartherapie lösen und schwieriger in einer Psychotherapie oder einem Coaching. Komplexe Konflikte stellen sich mithilfe beider Perspektiven manchmal anders dar.
Gibt es narzisstischen Missbrauch überhaupt?
Ich glaube, es ist ein Sammelbegriff für verschiedene problematische Verhaltensmuster, die oft nicht voneinander abgegrenzt werden. Da spielen manchmal antisoziale Persönlichkeitsanteile eines Gegenübers mit hinein, aber auch dysfunktionale impulsive Verhaltensweisen, die wir mit der Borderlinestörung verbinden. Das sind sehr unterschiedliche Verhaltensweisen, denen eine Interaktionsstörung gemeinsam ist. Ich wünsche mir, dass das Störungsbild Narzissmus differenzierter betrachtet wird.
Das heißt?
Hinter ihren dysfunktionalen, für Beziehungen problematischen Verhaltensweisen maskieren Betroffene oftmals starke Scham und Selbstzweifel, die sie durch Entwertung der Eltern seit ihrer Kindheit kennen. Wenn sie Zugang dazu erhalten und ihr Verhalten zu hinterfragen lernen, sind sie durchaus in der Lage, liebevolle Partner zu sein und diese Muster zu durchbrechen.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Lesen Sie auch unsere Reportage über „narzisstischen Missbrauch“ in Narzisstischer Missbrauch: Ein Name für das Leid.
Dr. Aline Vater, Diplompsychologin und approbierte Verhaltenstherapeutin, arbeitet je zur Hälfte in freier Praxis und ambulant an der Charité in Berlin. Zuvor hat sie an der Freien Universität Berlin über die narzisstische Persönlichkeitsstörung promoviert und an der Universität Potsdam geforscht.
Quellen
Hilmar Benecke: Narzissmus in Partnerschaft und Paartherapie. Psychotherapie im Dialog, 20/03, 2019, 63–68. DOI: 10.1055/a-0771-7168
Kristin Dombek: Die Selbstsucht der anderen. Ein Essay über Narzissmus. Suhrkamp, 2016
Claas-Hinrich Lammers: Narzissmus oder kein Narzissmus? Ein Überblick zum Nutzen und Unnutzen des Begriffs in unserer Gesellschaft. Psychotherapie im Dialog, 20/ 03, 2019, S. 19-25. DOI: 10.1055/a-0771-7102
Joshua D. Miller: Controversies in narcissism. Annual Review of Clinical Psychology, 13, 2017, 291– 315. DOI: 10.1146/annurev-clinpsy-032816-045244
Aline Vater u. a.: Narzisstische Persönlichkeitsstörung. Forschung, Diagnose, Psychotherapie. Die Psychotherapie, 58/ 06, 2013, 599 –615. DOI: 10.1007/s00278-013-1021-5
Bärbel Wardetzki, Sonja R.: Und das soll Liebe sein? Wie es gelingt, sich aus einer narzisstischen Beziehung zu befreien. Dtv, München 2018