Empathie gilt mittlerweile oft als Allheilmittel. Warum ist Empathie so zentral für das menschliche Zusammenleben?
Sie ist so etwas wie der Klebstoff. Ohne Empathie können Menschen nicht miteinander umgehen und nicht kooperieren. Dazu müssen wir einander verstehen, nicht nur kognitiv, sondern auch emotional.
In ähnlichen Konzepten, Theory of Mind oder Mentalisierung, wird angenommen, dass wir erst einmal keinen Zugang zu den Gefühlen oder Absichten der anderen haben. Sie bezweifeln das.
Ja. In diesen Ansätzen fehlt das, was der französische Phänomenologe und Philosoph Maurice Merleau-Ponty „Zwischenleiblichkeit“ genannt hat und was ich hier aufgreife: Wenn zwei Personen sich miteinander austauschen, dann stimmen sie zugleich unbewusst auch ihre Körper aufeinander ab. Sie zeigen eine ähnliche Haltung, ähnliche Gesten, passen die Geschwindigkeit ihres Sprechens einander an und ahmen sich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig nach. Wenn das Gespräch zwischen Ihnen und mir gefilmt würde und wir uns das anschauen würden, könnten wir diese Synchronisierung gut sehen. Darin liegt auch ein gemeinsamer Rhythmus, eine Art Musik, und dabei schwingen auch unsere Affekte mit. Man kann es sich als eine Dynamik mit Gefühlsgehalt vorstellen: Wir verstehen uns auf der leiblichen Ebene, auch ohne Worte, durch eine wechselseitige Resonanz unserer Körper. Diese Art der Abstimmung ist grundsätzlich schon bei Säuglingen vorhanden.
Sie sagen, dass das unbewusst passiert. Wie meinen Sie das?
Niemand kann diese körperliche Koordination vorab berechnen oder steuern. Sie ist auch keinesfalls perfekt, sondern es gibt auch einen Wechsel zwischen synchronisierten und nichtsynchronisierten Zuständen, sozusagen kleinere Unterbrechungen der Synchronisation. Dabei ist es gerade der Wechsel zwischen den synchronisierten und den nicht-synchronisierten Phasen, der die Interaktion voranbringt. Ich nenne diese Art des körperlichen Verstehens „primäre Empathie“. Durch die körperliche Koppelung erfahren wir schon viel übereinander und haben einen intuitiven Zugang zu anderen, bevor wir reden. Es ist eine implizite und unmittelbare Form des Verstehens.
Ist Empathie etwas Ähnliches wie emotionale Ansteckung?
Emotionale Ansteckung würde bedeuten, dass wir die Gefühle und Gedanken von anderen übernehmen und sie uns zu eigen machen. Das tun wir nicht, wenn wir uns in andere einfühlen. Dabei bleibt uns stets bewusst, dass es sich um die Gefühle oder Absichten der anderen handelt.
Wie entwickelt sich die Fähigkeit zur Empathie?
Die Fähigkeit, über den Körper mit anderen in Kontakt zu kommen, ist im Menschen angelegt. Wir empfinden den Körper von anderen nicht als „Objekt“, sondern wir reagieren mit unserem Körper unvermittelt auf andere. Säuglinge tun das von Anfang an, sie imitieren andere, sie drücken all ihre Gefühle aus, die Bezugsperson nimmt das auf und reagiert darauf mit ihrem Gesichtsausdruck, ihrer Mimik, ihren Bewegungen und dem Klang der Stimme. In dieser Dynamik sind von Anfang an die grundlegenden Affekte enthalten, Freude, Angst, Ärger oder Traurigkeit beispielsweise. Indem ich als Bezugsperson den Ausdruck und die Regungen des Babys aufgreife und darauf reagiere – das Kind beispielsweise beruhige oder es anrege, sich mitzufreuen –, bringe ich ihm nach und nach auch die Regulation der eigenen Gefühle bei. Nur wenn man in der Lage ist, sich selbst gut zu regulieren, also im Gleichgewicht zu bleiben, ist man auch fähig, empathisch zu sein.
Was ist, wenn diese körperliche Synchronisation im ersten Lebensjahr nicht so gut funktioniert?
Dazu zwei Beispiele: Wenn die Mutter beispielsweise nach der Geburt unter einer Depression leidet, der Fachausdruck ist postpartale Depression, dann kann ihr emotionaler Ausdruck flacher und die Mimik reduziert sein. Das kann die Entwicklung einer stabilen Bindung beeinträchtigen. Bis zu einem gewissen Grad kann dieses Defizit durch weitere Bindungspersonen ausgeglichen werden, die ausreichend responsiv sind. Unabhängig davon können sich auf Dauer Misstrauen und Angst entwickeln, wenn Eltern zur Empathie gar nicht fähig sind. Kinder lernen dann, sich vor den Gefühlen und Absichten anderer zu schützen.
Das zweite Beispiel: Autismus. Aus der Forschung ist bekannt, dass bereits Babys mit einer Autismus-Spektrum-Störung andere Körper eher als Objekt erleben. Für sie ist eine andere Person mit all ihren Ausdrucksweisen ein merkwürdiger sich bewegender Gegenstand, den sie zwar sehen, aber ohne eine gespürte Verbindung zu diesem Körper herzustellen, so dass sie selbst nicht körperlich auf die Person reagieren können.
Erwachsene Personen mit einem hochfunktionalen Autismus lernen, sich auf das, was sie sehen, einen Reim zu machen, um es einordnen zu können. Sie sagen sich gewissermaßen: „Er lächelt, also freut er sich.“ Sie können es jedoch nicht wirklich fühlen. Deshalb sind Begegnungen mit anderen für sie anstrengender und schwieriger.
Es bleibt im Verlauf der Entwicklung bis zum Erwachsenwerden nicht bei der rein körperlichen Kommunikation und dem Sich-Einfühlen, sondern wir brauchen auch unser Denkvermögen, um die Perspektive anderer einzunehmen.
Ja, Kinder sind ab dem Alter von circa viereinhalb Jahren in der Lage, ihre eigene Perspektive zu dezentrieren, das heißt, aus dem Mittelpunkt herauszutreten und die abweichende Sicht von anderen zu erkennen. Diese Fähigkeit, die Perspektiven anderer einzunehmen, brauchen wir, um von unserer Sichtweise abweichende Auffassungen nachzuvollziehen, aber auch die Absichten und Ziele anderer zu verstehen. Ich nenne das die kognitiv erweiterte Empathie.
Was passiert, wenn im Verlauf eines Gesprächs ein Missverständnis auftaucht, das zu einem Konflikt führen kann?
Während des Gesprächs oder des gemeinsamen Tuns sind wir sozusagen im Fluss. Eine unerwartete Äußerung oder ein Missverständnis führen nun dazu, dass es zu einer Unterbrechung kommt. Dann entsteht ein Nachdenken, ein Nachfragen: „Habe ich das richtig verstanden?“ – also der Versuch, etwas zu verstehen, um dann wieder in den Fluss des Gesprächs oder der Handlung zu kommen. Man kann gedanklich ein Stück zurückgehen, den bisherigen Verlauf aus der Distanz betrachten und gegebenenfalls nachjustieren.
Dies ist auch möglich, während die körperliche Abstimmung und Synchronisation weiterlaufen. Ich nehme die körperliche Reaktion des anderen immer noch wahr, aber ich kann parallel dazu eine Distanz einnehmen. Ärztinnen, Psychiater oder Psychotherapeutinnen machen das ständig, dass sie in dem empathischen Prozess sind und gleichzeitig im Hintergrund mitdenken und dann nachjustieren, nachfragen oder etwas deuten. Es ist eine Art Nebenfluss neben dem Hauptfluss der Interaktion.
Wo liegen die Grenzen der Empathie?
Empathie zu empfinden ist eine Möglichkeit, es ist nicht unbedingt selbstverständlich. Empathie spielt sich primär in kleinen Gruppen ab, also der Familie, in Teams, natürlich auch in Paarbeziehungen. Die Erweiterung der Empathie auf alle Menschen ist nicht selbstverständlich, da ihr Erfahrungen von Fremdheit, also Irritation, Misstrauen oder Fremdenangst entgegenstehen. Sie muss gelernt werden und sie kann in feindseligen Konflikten, wenn der andere nur noch als Gegner erscheint, auch wieder verloren gehen.
Sie schreiben, dass wir im Prinzip nur den Mitgliedern der eigenen Gruppe gegenüber empathisch sind.
Hier müssen wir differenzieren. Auf der primären, zwischenleiblichen Stufe ist Empathie förderlich für nahe soziale Beziehungen und damit ein vorrangiges Mittel, Gruppenzusammenhalt herzustellen. Auf der erweiterten, kognitiven Stufe beruht Empathie auf der Perspektivenübernahme und fördert besonders reziproke Beziehungen, und dies auch außerhalb der Primärgruppe. Damit unterstützt sie auf dieser zweiten Ebene vor allem die moralische Orientierung an Fairness und Gleichberechtigung: Wir erkennen an, dass andere im Prinzip die gleichen Rechte und Ansprüche mit uns teilen. Beide Arten der Empathie, die primäre und die erweiterte Form, fördern die sozialen Beziehungen in der eigenen Gruppe und tragen zur Gruppenidentität und zum Zusammenhalt bei. Doch zugleich – und das ist sozusagen der Haken – ist diese Gruppenidentität immer auch mit einer Unterscheidung von anderen verbunden. Deshalb schließt Empathie, so sehr man sie für „seinesgleichen“ empfindet, doch nicht aus, dass man sich von Fremdgruppen emotional distanziert und sie ausgrenzt. Anders ausgedrückt: Menschen sind stark an ihrer Primärgruppe orientiert, und genau das wirkt einer universellen Ausdehnung der Empathie entgegen.
Wo kann ich das beobachten?
Bereits Kinder zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr zeigen eine starke Tendenz zur Nachahmung und Anpassung, und ihre Loyalität, Sympathie und Hilfsbereitschaft richten sich vorzugsweise auf Mitglieder der eigenen Gruppe. Bei Kindern sehen wir also früh eine Neigung, „selektiv“ zu helfen, zu kooperieren und denen zu vertrauen, die sich wie sie selbst verhalten oder ähnlich aussehen.
Auch bei Erwachsenen legen Studien nahe, dass sich prosoziales Verhalten meist mehr auf Mitglieder der eigenen Gruppe oder der nahen Verwandtschaft bezieht. Insgesamt zeigen Forschungen, dass Menschen dazu tendieren, die Gefühle von Mitgliedern der Fremdgruppe weniger nachzuvollziehen, ihnen in der Not weniger zu helfen und sogar ihr Leben als weniger wertvoll anzusehen. Und je mehr Vorurteile sie hegen, desto weniger intuitiv erfassen sie die Emotionen von Individuen einer anderen Gruppe.
Die kollektive Wahrnehmung von anderen Gruppen kann eben stark von Stereotypen und Zuschreibungen geprägt sein. Eine „Fremdgruppe“ kann zum Schuldigen oder Sündenbock werden, wenn Menschen Entwertungen, Enttäuschungen oder Kränkungen erleben und dann diese Gefühle externalisieren, also anderen zuschreiben. Um ihr eigenes inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen, machen sie diese anderen verantwortlich.
Sie beschreiben den Prozess der vollständigen Dissoziation von Empathie. Was ist das?
Dabei beziehe ich mich unter anderem auf die Analyse einer Episode des Nazi-Genozids. Der Historiker und Holocaustforscher Christopher Browning hat darüber im Jahr 1996 geschrieben. Sein Ziel war zu erklären, wie in den Jahren 1942 und 1943 fast 500 Reservisten des Hamburger Polizeibataillons 101 insgesamt 38.000 Jüdinnen und Juden in oft tagelang anhaltenden Exekutionen töten konnten. Sie hatten zuvor entscheiden dürfen, ob sie teilnehmen wollten oder nicht. Nur ein knappes Dutzend hatte abgelehnt, und sie wurden dafür nicht bestraft.
Die Analyse von Browning bestätigte, was auch andere Forschungen zeigen: Es beginnt damit, dass den Menschen, die sie töteten, bereits zuvor Anerkennung, Zugehörigkeit und Solidarität entzogen worden waren. Mit anderen Worten, die kognitive Empathie mit ihnen war bereits weitgehend aufgehoben. Jüdinnen und Juden war letztlich die Personalität abgesprochen worden, und man hatte sie für austauschbar erklärt. Sie galten zunehmend als „Gegenstände“, als gesichtslose Masse. Darüber hinaus wurden sie noch als feindselig und bedrohlich definiert. Auf diese Weise konnte der Genozid als eine Art Selbstverteidigung ausgegeben werden, die notwendig erschien.
Aus der Analyse von Browning wissen wir, dass etliche der Reservisten während der ersten Massaker noch körperlich stark litten, ihnen wurde übel, einige mussten sich übergeben. Das kann man so verstehen, dass die primäre, spontane Empathie noch erhalten war. Im weiteren Verlauf jedoch gewöhnten sie sich zunehmend daran. Im Zuge der massenhaften Tötungen kam es bei ihnen also zu einer Dissoziation, das heißt, einer generellen Abspaltung ihres Empathievermögens.
Wie funktionierte das?
Zunächst einmal durch den Mechanismus der Rationalisierung, einer Art Pseudo-Mitleid, als ob es der Person, die getötet wird, etwas helfen würde, wenn man sie „erlösen“ würde. Ein weiterer Mechanismus: Der Täter handelt zwar in seiner Rolle, aber identifiziert sich nicht mit ihr, er beteiligt sich innerlich nicht mehr. Vielmehr betrachtet er sich nur noch als ein Werkzeug seiner Vorgesetzten. Das entspricht also einer Art Selbst-Verdinglichung. Ursächlich dafür sind Gehorsam, Gruppendruck, die Angst, nicht ausscheren zu dürfen. Die Folge davon war das Unterdrücken der an sich noch vorhandenen primären Empathie. Solche Personen konnten in einem völlig anderen Kontext, etwa der eigenen Familie gegenüber, durchaus Empathie zeigen. Dieses Beispiel zeigt, dass die primäre, also „zwischenleibliche“ Empathie schwerer zu unterdrücken ist als die erweiterte Empathie.
Kann man denn auch zu empathisch sein?
Grundsätzlich ja; zu viel Empathie kann auch überfordern. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hat dafür vor Jahren den Begriff des hilflosen Helfers geprägt. Andererseits ist aus der Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern bekannt, dass sie zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn mehr Empathie gegenüber Patientinnen und Patienten zeigen als am Ende. Das muss kein Nachteil sein, im Gegenteil: die Fähigkeit zu größerer Distanz erlaubt dann eine professionellere, aber nicht unbedingt „uneinfühlsame“ Haltung. Man kann also lernen, Empathie zu regulieren oder zu „dosieren“, sich einzufühlen und dann wieder Distanz einzunehmen.
Ein Beispiel für zu viel kognitive Empathie resultiert nicht selten aus einem Misstrauen: Wenn Menschen denken, dass sich hinter dem, was sie von anderen wahrnehmen, noch etwas anderes verbirgt, und versuchen wollen, das zu erschließen. Diese Einstellung, sei es bei Eifersucht oder auch bei paranoiden Störungen, führt dann zu einer Art Hypermentalisierung – sich zu viel in andere hineinzuversetzen.
Zum Schluss: Was ist das Besondere an der Empathie?
Empathie zeigt uns, dass wir keine monadischen Wesen sind, die sich die Gefühle und Gedanken anderer nur indirekt erschließen können. Wir sind vielmehr durch zwischenleibliche Resonanz so miteinander verbunden, dass ein wechselseitiges Verständnis auch ohne Worte möglich ist. Das ist eine großartige menschliche Fähigkeit.
Stand: April 2025
Thomas Fuchs ist Psychiater, Philosoph und Karl-Jaspers-Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg
ZUM WEITERLESEN
Thomas Fuchs: Verkörperte Gefühle. Zur Phänomenologie von Affektivität und Interaffektivität. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2024