Vom Glück des Singens

Im Chor, während einer Therapie oder einfach zum Entspannen: Wie uns singen froh macht und sogar heilen kann

Ein Dirigent steht vor einem Chor, der glücklich singt
Singen bewahrt die Individualität und führt gleichzeitig zu gemeinsamen Erfahrungen. © dpa/Jens Kalaene

Beim ersten Mal hatte ich sofort Gänsehaut. Ich fühlte mich frei und geborgen, als wäre ich endlich zu Hause angekommen.“ So berichtet Omaar Gebhardt von seiner ersten Stunde beim Heilsamen Singen im Klinikum Christophsbad in Göppingen. Mehrere stationäre Aufenthalte verbrachte er dort, war in Behandlung wegen schwerer Depressionen. In der Kapelle der Klinik bot Wolfgang Bossinger, Musiktherapeut aus Ulm, zwei Stunden Singen pro Woche als offenes Programm an. Wie der Name „Heilsames Singen“ schon vermuten…

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„Heilsames Singen“ schon vermuten lässt, will dieses Angebot Therapien von psychischen Störungen und körperlichen Erkrankungen durch Singen in der Gruppe unterstützen. Dabei gehe es nicht darum, einen möglichst reinen und perfekten Klang zu erzeugen, sondern den Menschen eine Möglichkeit zu geben, ihre Emotionen auszudrücken und zu verändern und so entscheidend zur körperlichen und psychischen Gesundheit beizutragen.

„In jedem von uns schlummert ein inner musical child, jeder Mensch ist im Grunde musikalisch“, ist Bossinger überzeugt. Doch durch einschneidende Erlebnisse wie Vorsingen vor der Klasse oder den Ausschluss aus dem Schulchor sei rund die Hälfte aller Deutschen vom Singen abgeschreckt, schätzt der Musiktherapeut. Diese Erfahrungen drückten auf das Selbstwertgefühl und begünstigten einen schüchternen Umgang mit der eigenen Stimme, führten zu flacher Atmung und dazu, dass sich viele vom Singen abwenden – „eine Katastrophe“, so Bossinger. Beim Heilsamen Singen mache er hingegen deutlich, dass es überhaupt keine Rolle spiele, ob man die Töne treffe oder nicht. Für ihn sind vermeintlich falsche Töne keine Abweichungen vom perfekten Klang, sondern Variationen im Ausdruck von Gefühlen, die über den Gesang mitgeteilt werden. Jeder solle so singen, wie er sich wohlfühlt, und wirklich beim Singen dabei sein.

Es entstehen emotionale Dynamiken, Rhythmen erleichtern die Entspannung

Der Musiktherapeut setzt hierzu einfache Melodien ein, die die Teilnehmer auswendig lernen und gemeinsam in der Gruppe singend wiederholen, im Fachjargon „chanten“ genannt. Die Texte zu den Melodien sind häufig Mantras, also heilige Verse aus den fernöstlichen Religionen. Dabei können starke emotionale Dynamiken entstehen: „Mit unserem Gesang berühren wir uns gegenseitig innerlich. Wenn das Singen starke Emotionen in uns auslöst und uns zum Weinen bringt, nehmen wir uns gegenseitig in den Arm“, beschreibt Omaar Gebhardt die Atmosphäre in der Gemeinschaft der Singenden. Die Rhythmen erleichtern es auch, sich zu entspannen, weil man sich nicht mehr ständig mit sich selbst beschäftigt – gerade bei Depression ein häufiges Problem, ergänzt Bossinger.

Während Omaar Gebhardt Singen für sich persönlich nutzt, erforscht der Musikpsychologe Karl Adamek die positiven Auswirkungen des Singens wissenschaftlich. Ende der 1980er Jahre war er Pionier auf dem Gebiet, als er in einer empirischen Studie Sänger mit Nichtsängern verglich. Das Ergebnis fasst Adamek in einem Interview so zusammen: „Singen macht gesund, glücklich, schlau und sexy.“ Sänger haben demnach eine höhere Lebenszufriedenheit und ein ausgeprägteres Selbstvertrauen, sind glücklicher, ausgeglichener und zuversichtlicher, ausgeglichener und leistungsstärker. Die Ergebnisse dieser ersten Studie konnte Adamek in Folgeuntersuchungen bestätigen.

Die ganze Palette der Hormone 

Singen wirkt dabei bereits auf der neurobiologischen Ebene – es regt die Produktion wichtiger Hormone an. So steht es in Verbindung mit einer erhöhten Ausschüttung des Hormons Oxytocin, das unmittelbar nach der Geburt eines Kindes und nach dem Sex Wirkung entfaltet. Dieses sogenannte „Kuschelhormon“ verstärkt soziale Bindungen, schafft Vertrauen und vermittelt ein Gefühl von Geborgenheit. Auch der Botenstoff Serotonin, den unter anderem die Nervenzellen im Gehirn austauschen, wird vermehrt produziert, wenn wir singen. Serotonin verbessert die Stimmung, macht zufrieden und gelassen und kann in höheren Dosen sogar Euphorie auslösen. Umgekehrt dämpft dieser Botenstoff Symptome der Angst, Depression und Aggression.

Noch ein Botenstoff wird laut einer Studie des Musikpsychologen Thomas Biegl durch Singen in deutlich größerer Menge – um fast 80 Prozent mehr – produziert: Noradrenalin. Es motiviert zu Aktivität und Leistung. Bei Depressionen ist seine Produktion deutlich eingeschränkt. Dann gibt es noch das „Glückshormon“ Beta-Endorphin, es führt zu Zuständen von Euphorie und reduziert das Schmerzempfinden. Auch Beta-Endorphin wird beim Singen in höherer Dosis freigesetzt. Der japanische Wissenschaftler Hajime Fukui konnte schließlich belegen, dass das Singen die Konzentration des Stresshormons Kortisol und des mit Aggression bei Männern in Verbindung gebrachten Hormons Adrenalin im Körper reduziert.

Mehr Empathie, weniger Aggression

Die zahlreichen positiven Effekte des Singens kommen dabei besonders in der Gemeinschaft zum Tragen. Im kanadischen Montreal untersuchten die Wissenschaftlerinnen Betty Bailey und Jane Davidson den sogenannten Homeless Choir, den Chor der Wohnsitzlosen. Sie kamen zu dem Schluss, dass gerade für Wohnsitzlose, die häufig unter emotionalen und psychischen Problemen, Substanzmissbrauch und sozialer Isolation litten, Singen ausgesprochen positive Wirkungen entfaltet. Es lindert depressive Stimmungen, fördert die emotionale und psychische Gesundheit, schafft eine familiäre Atmosphäre und begünstigt so den Anschluss an soziale Netzwerke. Mehr Empathie und weniger Aggression unter den Chormitgliedern waren die Folge des regelmäßigen gemeinsamen Singens.

Diese Erkenntnisse ermutigten Wolfgang Bossinger, gemeinschaftliches Singen in der Klinik als therapeutische Methode auszuprobieren. Denn auch Menschen mit einer psychischen Störung leiden oft unter gesellschaftlicher Stigmatisierung. 2006 startete Bossinger eine Singgruppe mit zunächst sechs Teilnehmern, die nach zwei Jahren schon auf 40 Personen angewachsen war. „Ich machte die Erfahrung, dass Singen den Patienten sehr guttut und so wirksam sein kann wie Psychotherapie“, sagt Bossinger. Das bestärkte ihn darin, zusammen mit Kollegen die Initiative „Singende Krankenhäuser“ zu gründen, die sich zum Ziel gesetzt hat, Singen in Kliniken als wirksame Heilmethode zu etablieren. Die Initiative steht im engen Austausch mit der Wissenschaft und bezieht aktuelle Studien in ihre Arbeit ein. Beispielsweise wurde gezeigt, dass Singen sich nicht nur bei psychischen Störungen positiv auswirkt, sondern auch bei Krebs- und Lungenerkrankungen, in der Schmerztherapie und in der Trauerarbeit.

Angekratzt und schrill

Singen kann auch bei Gesunden ungeahnte Türen öffnen: „In der Stimme eines Menschen spiegelt sich seine Persönlichkeit wider – ganz besonders beim Singen“, weiß Nives Farrier. Sie arbeitet in Wien als Vocalcoach und nutzt das Singen auch, um Menschen bei der Wahrnehmung und Veränderung ihrer Persönlichkeitseigenschaften zu unterstützen. Farrier erzählt von einer Professorin, die sehr logisch und systematisch in Schritten denke. Dies zeige sich schon daran, dass sie silbenweise spreche, und äußere sich beim Singen, indem sie von Ton zu Ton springe, anstatt den Atem laufenzulassen und eine Phrase in einer zusammenhängenden Linie vorzutragen. Um von dieser sehr kognitiv geprägten Ebene auf eine emotionale zu kommen, trainiert Farrier mit der Professorin das Loslassen der Kontrolle. Sie zeigt ihr, dass nicht jeder Ton gleich perfekt sein muss, sondern dass es am wichtigsten ist, seine Emotionen zu erkennen und nach außen zu tragen. „Gerade intelligenten, akademisch gebildeten Menschen fällt es häufig schwer, sich auf ihre Gefühle einzulassen. Sie wollen zuerst wissenschaftlich überzeugt werden“, sagt Farrier. Zur Mentalhygiene empfiehlt sie, einmal am Tag innezuhalten, sich bewusstzumachen, was man gerade fühlt, und diese Gefühle dann rauszusingen, „nicht schön, sondern so emotional wie möglich“, und dabei in die Extreme der Emotionen zu gehen. Die großen Sängerinnen und Sänger sängen schließlich auch angekratzt und schrill, um ihre Wut und ihre Verzweiflung auszudrücken. „Schön singen langweilt uns!“

Farrier coacht außerdem Transsexuelle darin, eine authentische Stimme zu entwickeln. „Meine Klienten haben häufig falsche Vorstellungen davon, was es zum Beispiel heißt, wie eine Frau zu sprechen. Wenn sie das versuchen, klingt es hauchig statt weich.“ Häufig finde eine Überkompensation statt, die nicht der Persönlichkeit entspreche. Ziel sei nämlich nicht, eine möglichst hohe Tonhöhe zu erreichen, sondern eine Stimme zu finden, die den Charakter der Person wiedergibt.

Um sich von dem hohen Erwartungsdruck an sich selbst zu lösen, ist es laut Gesangscoach Farrier sehr wichtig, Kopf- und Bruststimme zu lockern und so Verspannungen zu lösen. Dabei helfe es bereits, tief in den Bauch zu atmen und sich so Raum und Zeit fürs Atmen zu nehmen, ungefähr achtmal so lange aus- wie einzuatmen und dabei den Körper, die Gestik und Mimik mitzunehmen. Ganz wichtig sei, den Mund aufzumachen und die Töne rauszulassen, denn die Lautstärke des Gesangs, die auch mit der Atmungstechnik zusammenhänge, wirke auf die Persönlichkeit zurück: „Wenn man leise spricht und singt, vermittelt das dem eigenen Ich den Eindruck, dass man sich selbst nicht ernst nimmt, was wiederum zu einer geringeren Sprech- und Singlautstärke führt. So entsteht ein Teufelskreis“, warnt Farrier. Eine deutliche Artikulation sende dagegen das Signal an den Körper, dass man weiß, was man will – und vermittele so Selbstvertrauen.

Mehr als die Summe der Einzelstimmen

Dass Singen und Selbstvertrauen zusammengehören, erlebt auch Cornelia Winter immer wieder. Sie singt als Solistin, vorzugsweise bei kirchenmusikalischen Aufführungen. Musik war schon immer ein wesentlicher Teil ihres Lebens, bereits mit 15 Jahren sang sie in Opern am Nationaltheater Mannheim. Selbstvertrauen bedeutet für sie, Dinge zu wagen und die Ruhe zu bewahren, wenn während des Konzerts etwas nicht so läuft wie geplant. „Ich glaube, Solistin zu sein ist eine Typfrage. Man kann das kaum schaffen, wenn man ein geringes Selbstvertrauen hat oder es einem nicht gelingt, den eigenen Perfektionismus an die aktuellen Möglichkeiten und Umstände anzupassen. Nur mit ausreichendem Selbstvertrauen kann man schwierige Situationen im Konzert bewältigen und die richtigen Entscheidungen treffen; das heißt, den Fokus zu steuern, unwichtige Reize auszublenden und weiterzumachen, gegebenenfalls umzudisponieren“, sagt Winter. Trotz der hohen Flexibilität, die sie als Solistin aufbringen muss, fühlt sie sich beim Singen ganz in der Musik, die sie als Geschenk des Himmels betrachtet. Das Singen hat ihr auch in einer sehr schweren Lebensphase geholfen, ihr Leben im Griff zu behalten: „Meine Mutter lehnte mich ab; hätte ich meine Gefühle nicht durch die Musik ausdrücken können, hätte ich wahrscheinlich eine Depression bekommen. Das Singen hat mich gerettet.“

Franz Wassermann ist Professor und Musikdirektor an der Universität Heidelberg und leitet dort den Oratorienchor Capella Carolina, dessen Vokalensemble sowie den Kammerchor Camerata Carolina. Gerade Menschen, die nicht ausgeprägt extravertiert seien und sich nicht allein vor Publikum zu singen trauten, profitierten vom Singen in der Gemeinschaft, das ihnen Halt und Geborgenheit gebe, dies ist seine Erfahrung. Chorsingen schaffe dabei etwas scheinbar Unmögliches: Es bewahre die Individualität jedes einzelnen Chorsängers, führe jedoch zu einer gemeinsamen, von allen Chormitgliedern geteilten Erfahrung, die wiederum die Individuen im Schutz der Gemeinschaft wachsen lasse. Auch auf einer biophysikalischen Ebene wirke das Singen: „Die Resonanzen im Körper und darum herum überlagern sich und ergeben etwas, das reicher ist als die Summe der Einzelstimmen. Diese musikalischen Schwingungen setzen sich also nicht durch simple Addition zusammen, sondern wachsen exponentiell mit der Zahl der Chorsänger“, erläutert Wassermann.

Berührung an empfindsamen Stellen

Um erfolgreich gemeinsam singen zu können, sei es notwendig, dass sich jeder Einzelne öffne und sich der Gemeinschaft preisgebe. „Der Chorleiter trägt an dieser Stelle eine große Verantwortung, denn er formt seine Chorsänger an sehr sensiblen Stellen“, betont er. Gerade Laien könnten sich nicht verstellen und seien auf einen verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Stimme und ihrer Persönlichkeit angewiesen. „Es ist wichtig, auf die Gesundheit der Sänger zu achten und ihnen gleichzeitig Souveränität zu verleihen“, betont der Chorleiter. Wenn dies gelinge, könne das Chorsingen zu einem positiven Gemeinschaftserlebnis werden. Ein Chorsänger bestätigt das: „Der Chor hat mir eine neue, stabile Gemeinschaft gegeben, neue Freunde und tolle Erlebnisse. Ich fühle mich als ein Teil des Ganzen, glücklich und ausgewogen, sogar noch mehr als nach dem Sport.“

Da die beiden Carolina-Chöre Teil des Internationalen Studienzentrums der Universität Heidelberg sind, sind viele internationale Studierende Mitglieder dieser Chöre. Gerade für Studierende, deren Deutschkenntnisse noch nicht fortgeschritten sind, eröffne das Singen einen unmittelbaren Zugang zu der Kultur ihres Gastlandes: „Die Barriere Sprache fällt hier weg, stattdessen schafft Musik die Möglichkeit, an die Wurzeln dessen zu gelangen, was Sprache ausmacht, ihre Struktur, ihre Emotionalität. Die Kultur des Gastlandes wird über Musik direkt erlebbar“, erzählt Wassermann.

Allein oder mit anderen zusammen?

Singen kann jeden von uns dabei unterstützen, das Leben stressfreier und gesünder zu gestalten. Mithilfe des Singens kann man ganz für sich sein und entspannen. Musiktherapeut Wolfgang Bossinger empfiehlt dazu das Tönen von Vokalen: „Einfach fünf Minuten am Tag lange Vokale wie zum Beispiel a‘ singen.“ Das verlängert die Ausatmung, führt zu einer besseren Sauerstoffversorgung im gesamten Organismus – und hilft dabei, Stress im Alltag aktiv vorzubeugen. Bei einem Gesangspädagogen oder Vocalcoach kann man lernen, mit der Stimme besser umzugehen und sie bewusster einzusetzen – oder verschüttgegangene Singfähigkeiten auffrischen, um in einem Chor besser mitsingen zu können.

In Deutschland gibt es nach Schätzungen bis zu 60000 Chöre, meistens in Städten. In der Regel ist es möglich, zum Kennenlernen an einigen Proben teilzunehmen. Hier lässt sich schnell feststellen, ob man sich wohlfühlt und ob man weder unter- noch überfordert sein wird. Da das Spektrum der Chöre sehr breit ist, sollte man sich zunächst ein paar Fragen beantworten: Ist ein Kirchenchor richtig für mich oder bin ich etwa in einem Stadtteilchor besser aufgehoben? Passen die anderen Sänger vom Alter her zu mir? Welches Repertoire hat der Chor – Klassik, Jazz, Pop oder Gospel? Die Frage nach den Anforderungen ist ebenfalls wichtig: Werden Notenkenntnisse, Blattsingen, gute Intonation vorausgesetzt? Wie viel Erfahrung im Chorsingen habe ich? Wie hoch ist mein musikalischer Anspruch?

Andreas Schrank 

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2019: Mut zur Angst