Die Psychologie der Organspende

Im Fokus: Psychologin Sylvia Kröncke über die Bedeutung der psychischen Verfassung von Spender und Empfänger bei der Transplantation.

Ein Patient im Krankenhaus schaut nachdenklich aus dem Fenster und zweifelt, ob seine Entscheidung zur Organspende richtig ist
Vor der OP: Schon die Wartezeit ist sehr belastend. © Tetra Images/getty images

Frau Dr. Kröncke, haben Sie einen Organspendeausweis?

Ja, habe ich.

Da sind Sie in Deutschland in der Minderheit.

Stimmt, momentan liegt die Quote bei 36 Prozent. Die Zahl der Ausweise steigt aber langsam. Denn insgesamt hat die Bevölkerung eine sehr positive Einstellung zu Organspenden. Acht von zehn befürworten sie, zeigen regelmäßige Umfragen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Warum haben wir dann in Deutschland im internationalen Vergleich so wenige Spender?

Ein wichtiger Aspekt ist, dass die…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

wir dann in Deutschland im internationalen Vergleich so wenige Spender?

Ein wichtiger Aspekt ist, dass die tatsächliche Entscheidung in den meisten Fällen immer noch von den Angehörigen getroffen werden muss, und das direkt nach dem Tod eines geliebten Menschen. Da erscheint eine Ablehnung oft sicherer, gerade wenn die Einstellung des Verstorbenen unbekannt war.

Eine Rolle können auch religiöse Gründe spielen. Die großen Weltreligionen haben sich zwar alle offiziell für die Organspende ausgesprochen. Dennoch möchten manche Menschen, dass ihr Körper nach dem Tod intakt bleibt.

Zudem schwingt bei vielen Misstrauen mit: die Angst, dass die Organe zu früh entnommen werden, dass damit Schindluder betrieben wird, dass sie nicht gerecht verteilt werden.

Ist der Schritt zum Organspendeausweis auch deshalb so groß, weil es eine psychologische Barriere gibt, sich mit der eigenen Vergänglichkeit zu beschäftigen?

Das ist auf jeden Fall so. Eine Organspende bedeutet in der Regel, dass ich zu diesem Zeitpunkt tot sein werde. Das ist anders als bei der Blut- oder der Knochenmarkspende.

Manche scheinen zu glauben: Wenn ich so einen Ausweis bei mir habe, passiert mir eher etwas. Oder: Wenn man ihn in der Notaufnahme findet, dann wird mir nicht mehr so gut geholfen. Das sind irrationale Ängste. Welches Interesse hat ein Notaufnahmearzt, einem Patienten nicht zu helfen, damit irgendein abstrakter Mensch, den er gar nicht kennt, dessen Organe bekommt?

Andererseits gibt es tatsächlich Horrorstorys: etwa dass Kriminelle anderen Menschen gegen ihren Willen Organe entnehmen und im Internet feilbieten.

Das stimmt leider, geschieht aber in Ländern, in denen mehr Gewaltverbrechen und Menschenrechtsverletzungen passieren und mehr Korruption im Gesundheitswesen herrscht. Ich bin mir sehr sicher, dass solche illegalen Entnahmen in Deutschland und anderen Rechtsstaaten nicht vorkommen. Folglich ist das auch kein Argument, hier keine Organe zu spenden. Im Gegenteil: Je mehr legale Organspenden, desto mehr sinkt der Bedarf für illegal beschaffte Organe.

Können Sie die Bedenken gegen die Organspende denn nachvollziehen?

Ja, das kann ich. Ich bin aber der Meinung, dass man angesichts der Leiden der betroffenen Patienten von jedem Bürger erwarten kann, dass er sich über das Thema Gedanken macht und eine Entscheidung trifft, auch wenn es unangenehm ist, sich damit zu beschäftigen. Und wenn es nur ist, um den eigenen Angehörigen zu ersparen, dass sie im Todesfall mit dieser Entscheidung konfrontiert werden.

Momentan müssen Spendewillige hierzulande explizit erklären, dass ihre Organe nach dem Tod entnommen werden dürfen. Mit der geplanten Widerspruchsregelung soll sich das ändern: Wer nicht spenden will, muss ausdrücklich widersprechen. Wie stehen Sie dazu?

Persönlich bin ich für diese Widerspruchslösung, glaube aber, dass die Einführung Zeit braucht. Die Bevölkerung möchte auf keinen Fall zu etwas gezwungen werden. Ohnehin sehe ich die Ursache für die schlechten Zahlen auch in den Krankenhäusern und besonders auf den Intensivstationen.

Inwiefern?

Dort ist die Einstellung des Personals zur Organspende oft deutlich negativer als in der Bevölkerung. In einer bayerischen Studie wurden beispielsweise rund 3000 Ärzte und Pflegekräfte befragt. Von den Ärzten würden 82 Prozent ihre Organe spenden, vom Pflegepersonal aber nur 66 Prozent. Und nur 57 Prozent würden selbst eine Organspende annehmen, im Gegensatz zu 85 Prozent in der Allgemeinbevölkerung.

Und woran liegt das?

Die Pflegekräfte solidarisieren sich oft mit den Spendern und möchten die Angehörigen durch eine Organspende nicht noch zusätzlich belasten. Dazu kommt, dass sie die Organempfänger auf der Intensivstation in einem Zustand erleben, in dem das Leben nicht immer lebenswert erscheint, so dass sie eventuell das Gefühl haben: Das bringt noch nicht einmal etwas.

Dazu kommen organisatorische und finanzielle Aspekte. Besonders in kleinen Krankenhäusern gibt es bisher niemanden, der sich aktiv um das Thema Organspende kümmert. Bei Medizinern stehen naturgemäß lebenserhaltende Maßnahmen an erster Stelle. Potenzielle Organspender werden daher unter Umständen gar nicht an Eurotransplant gemeldet – das ist die Einrichtung, die die Meldungen für mehrere europäische Länder sammelt und per Computeralgorithmus ermittelt, wer am besten als Empfänger für das jeweilige Organ geeignet ist.

Bis vor kurzem war es zudem so, dass die von den Krankenkassen gezahlten Pauschalen nicht alle Kosten einer Organentnahme gedeckt haben. Außerdem sind gerade in kleinen Häusern Intensivbetten oft knapp. Dann wird so ein Bett natürlich nicht mit einem Verstorbenen belegt, bis ihm die Organe explantiert wurden.

Ließe sich durch eine organisatorische Neuaufstellung also mehr bewirken als durch die Widerspruchsregelung?

Ja. Nach neuen Schätzungen könnten wir etwa dreimal mehr Spender haben, wenn in den Krankenhäusern jeder, der infrage kommt, auch tatsächlich gemeldet würde.

Wir haben bislang über Gründe geredet, die Menschen vom Spenden abhalten. Welche gibt es denn, um zu spenden?

Der wichtigste Grund ist Altruismus: 73 Prozent aller Befragten sagen, dass sie anderen helfen möchten. Daneben wollen viele dem eigenen Tod einen Sinn geben. Manche haben auch einfach eine ganz pragmatische Einstellung: Ich brauche die Organe doch nicht mehr, dann kann ich doch damit noch jemandem helfen.

Und wie sieht es bei der Lebendspende aus? Macht man das nur für engste Angehörige, als eine Art Liebesbeweis?

In Deutschland ist die Lebendspende tatsächlich nur für Verwandte ersten und zweiten Grades gestattet oder für Personen, denen man emotional besonders verbunden ist, etwa die beste Freundin. Der Gesetzgeber sagt: Der Eingriff ist nicht ohne Risiko, daher erlauben wir ihn nur unter diesen Umständen.

Sie selbst prüfen als Gutachterin, ob jemand als Spender geeignet ist. Worauf achten Sie?

Ich muss zum Beispiel prüfen, wie sehr sie sich dem Empfänger verbunden fühlen. Außerdem muss sichergestellt sein, dass sie wissen, worauf sie sich einlassen, und dass sie keine Gegenleistung bekommen. Und natürlich, dass sie psychisch stabil sind und die Belastungen, die mit einer Spende einhergehen, durchstehen können.

Kommt es vor, dass Lebendspender ihre Entscheidung nachher bereuen?

Ja, das gibt es. In Umfragen sagen aber mindestens 95 bis 99 Prozent, dass sie es nicht bedauern. Was jedoch nicht heißt, dass sie gar keine Probleme haben. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass Spender über verstärkte Müdigkeit klagen. Die meisten spüren nach drei Monaten keine Einschränkungen mehr. Ein gewisser Anteil sagt aber: Ganz wie vorher ist es nicht. Darüber müssen wir aufklären.

Besonders belastend ist es für Spender natürlich, wenn bei der Transplantation des Empfängers etwas schiefgeht. Das ist der Worst Case: Sie haben den Eingriff auf sich genommen, und dann hat es noch nicht einmal etwas gebracht.

Wie sieht es mit den Empfängern von Organen aus? Haben diese psychische Probleme, beispielsweise weil sie jetzt das Organ eines Fremden in sich tragen?

Das kommt vor, aber bei weitem nicht so häufig, wie manche denken. Wahrscheinlich ist das bei Organen am ehesten noch nach Herztransplantationen der Fall, weil man den Herzschlag so regelmäßig spürt. Viele Empfänger bauen nach der Transplantation vielmehr eine regelrechte Beziehung zu ihrem Organ auf. Sie feiern das oder entwickeln bestimmte Rituale – etwa dass sie am Jahrestag der Operation an den Spender denken und ihm danken. Manche schrei­ben auch einen Brief, entweder symbolisch an den Spender oder auch an seine Familie, die diesen auf Wunsch in anonymisierter Form erhalten kann. Viele empfinden die Spende als ein großes Geschenk und haben das Bedürfnis, etwas zurückzugeben – etwa indem sie sich danach für die Organspende engagieren.

Gibt es Empfänger, die enttäuscht sind, weil sie sich mehr erwartet hätten?

Das gibt es auch. Wir versuchen im Vorfeld, die Erwartungen etwas zu dämpfen, so dass deutlich wird: Gesund sind Sie dann nicht, Sie müssen regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen, Sie müssen lebenslang Medikamente nehmen, die zum Teil unschöne Nebenwirkungen haben. Und manche haben ja auch tatsächlich Probleme: Es kann zu Abstoßungen kommen, die Empfänger können einen Diabetes entwickeln oder durch das Kortison eine Osteoporose, viele bekommen Bluthochdruck und hohe Blutfettwerte. Das sind alles Dinge, die die Lebensqualität nicht verbessern.

Direkt nach der OP sind die meisten Empfänger dagegen sehr euphorisch. Oft fühlt sich die Energie, die auf einmal wieder da ist, wie ein neues Leben an. Wenn dann nach einem halben Jahr der Alltag einkehrt und sie versuchen, in den Beruf zurückzukehren und die alten Rollen in der Familie wieder einzunehmen, kehrt häufig Ernüchterung ein.

Ist das auch einer der Gründe, warum Sie für eine psychosoziale Betreuung von Organempfängern plädieren?

Ja. Schon die Wartezeit ist unheimlich belastend. Man hat Angst vor der Operation, hofft aber auch ständig auf einen Anruf aus der Klinik. Dann wird man tatsächlich einbestellt, und es klappt doch nicht. Das alles ist für die Psyche eine riesige Herausforderung. Zumal jemand durchaus auch sterben kann, bevor ein Organ da ist. Bei der Niere beträgt die Wartezeit oft zehn Jahre. Nicht jeder hat die Ressourcen, diese Zeit zu bewältigen.

Eine Organspende bedeutet auch eine lebenslange Nachbehandlung. Inwieweit kann eine psychologische Betreuung die Patienten dabei unterstützen? Wie wirkt sie sich zum Beispiel darauf aus, dass die Betroffenen ihre Medikamente regelmäßig nehmen und zu den Nachuntersuchungen gehen?

Das ist in der Tat ein großes Thema. Viele denken: Wenn man weiß, dass es fürs Überleben wichtig ist, dann sollte das doch kein Problem sein. Das ist aber nicht so. Ein Grund sind die Nebenwirkungen der Medikamente, die verhindern sollen, dass die Organe abgestoßen werden, die aber auch die Nieren schädigen und das Krebsrisiko erhöhen. Nicht untypisch sind zum Beispiel Magen-Darm-Beschwerden und eine geringere Belastbarkeit. Außerdem müssen die Betroffenen besonders vorsichtig sein, um Infektionen so gut es geht zu vermeiden. Und sehr auf Sonnenschutz achten, wegen des hohen Hautkrebsrisikos. Das alles erfordert viel Disziplin.

Wenn das nicht klappt, ist zunächst einmal die Diagnostik sehr wichtig: Was sind die Gründe? Manchmal liegt es vielleicht an einer Depression. Dann muss man eine Psychotherapie durchführen, um die Betroffenen in die Lage zu versetzen, wieder Eigenverantwortung zu übernehmen. Ganz allgemein gilt, dass die Adhärenz – also die Therapietreue – schlechter ist, wenn man psychisch belastet ist.

Man muss als Betroffener viel wissen, um sich verantwortlich verhalten zu können. Das ist anspruchsvoll.

Sie schauen sich die meisten Empfänger schon vor der Operation an. Fließt Ihre psychologische Bewertung auch in die Wartelisten-Position mit ein?

In die Position nicht, aber in die Frage, ob ein Patient überhaupt aufgenommen wird. Eine Aufnahme in die Warteliste kann verwehrt werden, wenn derzeit nicht zu erwarten ist, dass er die Therapieregeln einhält. Allerdings muss alles versucht werden, den Patienten in die Lage zu versetzen, adhärent zu sein. Nur wenn das nicht klappt, wird er nicht aufgenommen.

Wie kann man wissen, dass sich ein Patient nach der Transplantation nicht wie gewünscht verhalten wird?

Wir schauen uns dazu vor allem an, wie der Betroffene sich aktuell verhält. Also etwa bei einem Nierenpatienten: Hält er seine Dialysetermine ein? Beachtet er die Ernährungsvorgaben? Nimmt er die Kontrolltermine wahr und die Medikamente ein?

Wird die psychologische Vor- und Nachbetreuung bei uns vernachlässigt?

Ja, das würde ich sagen. Krebszentren sind heute verpflichtet, Patienten einen Psychologen an die Seite zu stellen. Das sollte aus unserer Sicht für Transplantationen genauso sein.

In vielen Kliniken sieht man sich derzeit nur die Patienten genauer an, bei denen der Arzt sagt: Dort scheint die Adhärenz nicht in Ordnung zu sein, den schicken wir mal zum Psychologen. Dann sind die Probleme aber oft schon so groß, dass es schwieriger ist, etwas dagegen zu tun.

Sehen Patienten ebenfalls den Bedarf an Unterstützung?

Die Hälfte aller Organempfänger hätte sich eine psychologische Betreuung gewünscht. Andererseits ist es für Betroffene oft eine hohe Hürde, sich selbst darum zu bemühen. Es wäre leichter, wenn das regulär zur Behandlung dazugehören würde. Bei vielen Ärzten und Pflegekräften und auch bei den Patienten steckt leider in den Köpfen: Wir holen die Psychologen nur, wenn es absolut nötig ist.

Dr. Sylvia Kröncke ist Psychologin an der Spezialambulanz für Transplantationspsychologie des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie war an der Entwicklung einer neuen Leitlinie beteiligt, die die psychosoziale Betreuung von Organempfängern und -spendern verbessern soll

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2019: Passiv-Aggressiv