Noch vor einigen Jahren dachte man bei Alkoholmissbrauch an männliche Stammgäste in einer Eckkneipe, Arbeiter auf dem Bau oder obdachlose Menschen. Stimmt das Bild noch?
Nein. Die Alkoholkrankheit oder die Alkoholgebrauchsstörungen, wie sie die WHO jetzt nennt, zeigt sich weit vielfältiger. Was die Männer angeht: Sie sind tatsächlich stärker betroffen – noch. Aber unsere Statistiken belegen, dass die Frauen aufholen. Die Schere zwischen Frauen und Männern geht deutlich geringer auseinander als noch vor 20…
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die Frauen aufholen. Die Schere zwischen Frauen und Männern geht deutlich geringer auseinander als noch vor 20 Jahren. Aber noch einmal zurück zu Ihren Bildern, die nicht stimmen. Erstens gehen viele Menschen mit einem problematischen Alkoholkonsum gar nicht in Kneipen, sie trinken nur zu Hause. Zweitens ist Alkoholmissbrauch keine Sache, die vorrangig Menschen betrifft, die ohne Wohnsitz sind oder aus der Arbeiterschicht kommen. Im Gegenteil.
Wie komme ich darauf, dass arme Menschen mehr trinken?
Das ist ein Vorurteil. Es liegt wohl unter anderem daran, dass sie praktisch vor unser aller Augen trinken müssen. Dagegen bekommen wir in das Trinkverhalten der Wohlhabenden kaum Einblicke. Dort wird eher nichtöffentlich getrunken.
Die Alkoholkrankheit geht durch alle Schichten?
Inzwischen ja. Wie bei vielen anderen Suchtmitteln findet auch beim Alkohol eine Verschiebung von oben nach unten und von den Männern zu den Frauen statt. So war es auch beim Rauchen: Zuerst war es ein Privileg für die Könige. Später durfte der männliche Adel rauchen, dann der weibliche Adel, schließlich das Bürgertum und als letzte Schicht auch die der Arbeiter. Ganz am Schluss rauchten auch die arbeitenden Frauen.
Beim Alkohol sehen wir eine ähnliche Entwicklung. Der Alkoholkonsum begann in den reichen Ländern in der Oberschicht, über sie sickerte er langsam in die Mittelschicht – und erreichte allmählich auch die unteren sozioökonomischen Milieus. Bis heute gilt aber weltweit: Der Anteil der Alkoholabstinenten ist in den benachteiligten Gesellschaftsgruppen am größten.
Der Alkoholkonsum drang also von oben nach unten in die Gesellschaft ein. Aber warum trinken ärmere Menschen bis heute weniger – ist das Trinken für sie zu teuer?
Alkohol ist sicherlich nicht zum Überleben notwendig. Und wenn man jeden Cent umdrehen muss, fällt die Wahl bei vielen Leuten auf andere, notwendigere Güter als auf Alkohol – obwohl dieser in Deutschland noch nie in der Geschichte so erschwinglich war wie heute. Erschwinglichkeit wird in diesem Fall daran gemessen, wie viele Minuten gearbeitet werden müssen, um einen Standarddrink Alkohol zu kaufen.
Kommen wir zu den Frauen. Sie haben beim Trinken aufgeholt?
Richtig, der Anteil von Frauen am Gesamtalkoholkonsum ist gestiegen. Die Statistiken zeigen: Vor allem die jungen Frauen sind es, die hier aufholen. Es trinken heute aber auch Frauen ab 45 mehr Alkohol als Frauen desselben Alters noch vor einigen Jahren.
Sind es die gebildeten Frauen?
Vereinfacht ausgedrückt: ja. Allerdings haben wir nicht direkt den Zusammenhang von Bildung und Alkoholkonsum untersucht, sondern den von sozioökonomischem Status und Trinkverhalten. Jedoch ist Bildung einer der Indikatoren für den sozioökonomischen Status. Was wir herausfanden: Je höher der sozioökonomische Status, desto höher ist der Anteil der Frauen am Alkoholkonsum. Wohlhabende Frauen trinken also mehr Alkohol als Frauen mit einem niedrigeren Einkommen.
Gilt das nur für Europa oder weltweit?
Diese Tendenz finden wir derzeit fast überall. Aber am deutlichsten stieg der Alkoholkonsum von Frauen in den reichen Ländern. Besonders viel Alkohol trinken sie in Ländern, in denen laut UN-Statistiken die höchste Emanzipationsrate besteht. Um die zwischen den verschiedenen Nationen zu vergleichen, gibt es eine Kenngröße, den Gender-Inequality-Index.
Und auf welchem Platz liegt Deutschland bei dem Gleichstellungsranking?
Nach dem neuesten Ranking für 2017 liegt Deutschland auf Rang fünf. Noch weiter ist die Gleichstellung in Irland, Australien und der Schweiz vorangeschritten. Ganz vorne liegt derzeit Norwegen – und Norwegen ist auch das Land, in dem Frauen den höchsten Anteil am Gesamtalkoholkonsum haben.
Erstaunlich! Wie erklären Sie sich diesen Zusammenhang zwischen Emanzipation und Alkoholkonsum?
Dazu müssen wir zurückblicken auf den gesellschaftlichen Wandel, der in den Ländern mit einer hohen heutigen Gleichstellung stattfand. Noch bis weit in die 1970er Jahre hinein war dort die traditionelle Rollenverteilung für die meisten Menschen die Norm. Das bedeutete für Frauen, besonders jene aus der Mittelschicht: Sie waren auf die Rolle der Hausfrau und Mutter festgeschrieben und hatten fast nie einen eigenen Beruf. Nur der Mann war außerhäuslich erwerbstätig, seine Rolle war die des Familienernährers.
Mit der 68er-Bewegung begannen Frauen gegen diese Rolle zu rebellieren.
Ja, sie forderten einen höheren Anteil am öffentlichen Leben, sie wollten einen eigenen Beruf haben und finanziell unabhängig sein. Und so kam es auch. Seitdem gibt es – wenn wir auf die Zahlen für Europa schauen – stetig mehr Frauen, die am Erwerbsleben teilnehmen. Damit änderte sich ihr Leben gravierend: Frauen bewegen sich nun in Lebenswelten, die vorher Männern vorbehalten waren.
Zum Berufsleben gehört es für die meisten dazu, dass man auch mal mit Kolleginnen und Kollegen ausgeht, zur Firmenfeier, zum Sommerfest. Man trifft sich zum Projektabschluss oder sitzt einfach so mal nach der Arbeit zusammen. Das sind alles Gelegenheiten, um Alkohol zu trinken.
Frauen trinken heute mehr, weil sie zunehmend berufstätig sind?
Ja, das ist ein wichtiger Grund. Weil sie schlicht mehr Trinkgelegenheiten haben. Eine zweite Ursache sind die Normen in Bezug auf den Alkoholkonsum, die sich verschoben haben. Es ist heutzutage kein Tabu mehr, als Frau zu trinken. Auch nicht, dies in der Öffentlichkeit zu tun. Wir haben uns gerade dazu die US-Daten der letzten 50 Jahre angeschaut. Sie zeigen, dass sich die Normen dort konstant verändert haben, in Richtung einer zunehmenden Akzeptanz von Frauen, die Alkohol konsumieren. Es würde mich sehr wundern, wenn es in Deutschland anders aussieht.
Gibt es noch weitere Erklärungen?
Als dritter wichtiger Grund kommt die Werbung ins Spiel. Wenn mehr Frauen trinken und wenn ihr Trinken gesellschaftlich akzeptierter ist, werden sie auch als Zielgruppe für die Alkoholindustrie interessanter. Nun werden also Werbekampagnen durchgeführt, die sich gezielt an Frauen richten.
Da fallen mir rosa Sektflaschen ein. Früher war Schaumwein ein Getränk für festliche Anlässe, durchaus auch für Herren. Heute verbindet man das Getränk mit junger Weiblichkeit. Es sei auch kein besonderer Anlass nötig, suggeriert die Werbung…
Genau. Dass sich auch Frauen mit Sekt amüsieren oder mit einem Gläschen Wein belohnen dürfen nach des Tages Mühen, ist eine noch recht neue Errungenschaft der Gleichberechtigung. Auch sie können sich nun ganz selbstverständlich, wenn alles erledigt ist – das Kind im Bett, die Wohnung geputzt oder der Job geschafft –, mal ein Gläschen nehmen, um den Feierabend einzuläuten. Oder sie können mit Freundinnen ausgehen, Alkohol trinken und auf den Putz hauen – auch das ist ein werbewirksames Bild.
Das sind alles Akte der Selbstbefreiung und Mündigkeit, die hier mittels Alkohol versprochen werden!
Genau. Es gibt inzwischen eine Weinmarke, die heißt „Girls Night Out“, es gibt auch „Girls Night In“ oder „Ladies Night“. Solche Labels, die gezielt Frauen ansprechen, gab es vor einigen Jahren noch nicht.
Was ist mit Rollenvorbildern in der eigenen Familie?
Sie spielen kaum eine Rolle, was das heutige Trinken von Frauen angeht. Wenn wir über derzeitigen Alkoholkonsum reden, sprechen wir darüber, dass Menschen drei-, vier- oder fünfmal pro Woche Alkohol trinken. Wir können Frauen, die so oft trinken, nicht gleichsetzen mit ihren Müttern oder Großmüttern, die sich an Silvester oder am Geburtstag mal ein Gläschen oder zwei eingeschenkt haben. Damals kam Alkohol nur zu ganz besonderen Gelegenheiten auf den Tisch. Das war in den allermeisten Familien nichts Alltägliches.
Die Frauen heute orientieren sich vor allem an Kontakten, die sich aus ihrem Beruf oder ihren Hobbys ergeben, und an ihrer Wahrnehmung der Gewohnheiten und Normen, wie sie in diesen Kreisen gepflegt werden. Teils bestehen ihre Netzwerke vor allem aus Frauen gleichen Alters, teils sind sie – was Alter und Geschlecht angeht – bunt gemischt.
Sie meinen: Je ähnlichere Lebenswelten Frauen und Männer haben, desto eher spielt Alkohol bei den Aktivitäten der Frauen eine Rolle?
Genau.
Frauen trinken also wegen häufigerer Gelegenheiten und aus sozialen Gründen. Aber welche Rolle spielt die Stressbewältigung? Könnte man den gestiegenen Konsum auch durch ein erhöhtes Stressniveau erklären – etwa durch die Doppelbelastung von Familie und Beruf?
Stress kann hier schon eine Rolle spielen. In der Eigenwahrnehmung ist das Stresslevel in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern gestiegen, gerade bei Frauen. Und Alkohol gilt als hilfreiches Mittel beim Abbau von Stress. Diese subjektive Wirkung wird – besonders bei Frauen – mittels Werbung noch verstärkt.
Spielt vielleicht auch die weibliche Tendenz zur Autoaggression eine Rolle?
Autoaggression kann in Einzelfällen sicherlich eine Rolle spielen, hilft aber nicht unbedingt, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte bei der Zunahme des Alkoholkonsums von Frauen zu erklären.
Frauen vertragen ja weniger Alkohol als Männer. Bedeutet das, dass sie auch stärker suchtgefährdet sind? Oder haben sie einfach „nur“ stärkere gesundheitliche Schäden durch die gleiche Menge Alkohol?
Bei gleicher Menge Alkoholkonsum haben Frauen ein höheres Risiko für gesundheitliche Schäden inklusive Sucht. Aber sie trinken im Allgemeinen deutlich weniger als Männer.
Wie viel Alkohol ist für Frauen okay und ab wann wird es gesundheitsschädlich?
Unsere Arbeitsgruppe hat dies kürzlich für die EU erarbeitet. Folgende Sachverhalte treffen sicher zu: Trinken birgt immer ein gewisses Risiko. Wenn Sie als Frau 10 Gramm reinen Alkohol pro Tag trinken, wie er etwa in 0,1 Liter Wein, einem Glas Bier oder einem Gläschen Schnaps enthalten ist, erhöhen Sie Ihr Risiko für Brustkrebs um 6 Prozent.
Oh!
Zweitens gilt auch: Der Alkoholkonsum ist mit 250 verschiedenen Krankheiten verbunden, aber nicht immer nur in eine Richtung. Obwohl das Trinken das Risiko von Brustkrebs erhöht, ist Ihr Risiko für einen Herzinfarkt leicht verringert – aber nur bei einem Glas pro Tag!
Ein besonderer Aspekt von Alkohol ist das Suchtpotenzial. Wie rutschen Frauen in die Abhängigkeit?
Das Trinken hat auch positive Wirkungen, jedenfalls kurzfristig und bei moderatem Konsum. Wir trinken Alkohol zwar auch wegen des Geschmacks, aber vor allem wegen der Wirkungserwartung. Alkohol baut Hemmungen und Ängste ab, unter Alkohol fällt es vielen leichter, mit anderen in Kontakt zu kommen und gesellig beisammen zu sein – das gilt natürlich auch für Frauen. Die Alkoholkrankheit beginnt schleichend. Es tritt schnell eine Gewöhnung ein und wir müssen mehr Alkohol trinken, um dieselbe Wirkung zu erzielen.
Wir wissen heute: Das Ausgleichen von Unsicherheit in sozialen Situationen ist einer der wichtigsten Gründe überhaupt, warum Menschen Alkohol trinken. Das gilt für Frauen wie für Männer. Aber in unserer Gesellschaft gibt es immer noch Situationen, in denen Frauen sich mehr beweisen müssen, in denen es für sie schwieriger ist. So geraten sie häufiger in die Lage, sich unsicher zu fühlen.
Weil sie etwa in leitenden Gremien meist in der Minderzahl sind?
Das gilt für alle Gelegenheiten, in denen Frauen noch die Ausnahme sind. Wenn Sie als einzige Frau unter 20 männlichen Aufsichtsräten sitzen, dann ist das eine andere Herausforderung und ein anderer Test für das Selbstbewusstsein, als wenn Sie eine von 19 anderen sind.
Was sind Warnzeichen für eine beginnende Sucht?
Wenn Sie anfangen, täglich zu trinken, und wenn die Dosis inzwischen bei einer halben Flasche Wein pro Tag liegt – dann sollten Sie sich ganz sicher Hilfe holen. Auch wenn Sie außerdem sehen, dass es öfter vorkommt, dass Sie durch Alkohol berauscht sind. Es gibt bei der Selbsteinschätzung aber ein großes Problem: Wir neigen dazu, uns dabei selbst zu belügen. Wenn Freunde oder Bekannte uns auf unseren Alkoholkonsum ansprechen, sollten wir daher offen sein. Man selbst will eine beginnende Abhängigkeit leider meist nicht wahrhaben.
Wir haben dazu eine Untersuchung mit 13000 Hausarztpatienten in acht europäischen Ländern gemacht. Es zeigte sich: Von den 13000 Menschen waren 8 Prozent alkoholkrank, aber von diesen Betroffenen wiesen es 60 bis 70 Prozent kategorisch zurück, ein Alkoholproblem zu haben. Unserer Erfahrung nach wird vor allem am Beginn einer Sucht keine Hilfe gesucht.
Weil Alkoholkranke fürchten, abgewertet zu werden?
Heute werden psychische Krankheiten deutlich weniger stigmatisiert als noch vor 15 Jahren. Es kommt etwa viel häufiger vor, dass Menschen öffentlich über ihre Depression oder ihr Burnout sprechen. Die einzige psychische Krankheit, die nach wie vor ein ganz schlechtes Image hat, ist die Sucht – und eine Frau, die trinkt, wird noch stärker stigmatisiert, sie gilt als besonders charakterschwach. Gerade wenn dazu gehört, in der Öffentlichkeit die Kontrolle zu verlieren, was ja bei starkem Alkoholkonsum manchmal vorkommt.
Ist das der Grund dafür, dass die Suchtkliniken manchmal nach Geschlechtern getrennt sind?
Das nehme ich an. Wegen der Stigmatisierung von Süchten fällt es alkoholkranken Menschen überhaupt sehr schwer, über ihre Krankheit zu sprechen. Das gilt auch während der Psychotherapie, die oft in Gruppen stattfindet. Es kann daher noch eine zusätzliche Hemmschwelle für Frauen sein, wenn Männer in der Gruppe anwesend sind. Wenn also Patientinnen lieber in Frauengruppen mit den Alkoholproblemen umgehen wollen als in gemischten Gruppen: Warum sollten wir ihnen das nicht ermöglichen? Man sollte diese Therapie auf die bestmögliche Art anbieten, die Frauen entgegenkommt.
Unterstützung bei Alkoholproblemen
Alkoholselbsttest: kenn-dein-limit.de/selbst-tests/alkohol-selbst-test
Programme zur Alkoholprävention: bzga.de
Selbsthilfegruppen und weitere Informationen: guttempler.de
Telefonhilfe rund um die Uhr: Sucht- und Drogenhotline, Telefon 01805/313031 (kostenpflichtig: über das Festnetz pro Minute €0,14, mit Handy maximal €0,42)
Jürgen Rehm, Psychologe und Professor für Gesundheitswissenschaften, forscht am Centre for Addiction and Mental Health (CAMH) in Toronto. Er hat einen Lehrstuhl an der Universität Toronto und leitet an der TU Dresden eine epidemiologische Arbeitsgruppe zur Suchtforschung
Zum Weiterlesen
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Drogen und Suchtbericht 2018. Online unter: drogenbeauftragte.de
Leah Odze Epstein, Caren Osten Gerszberg (Hg.): Trinkende Frauen. Louisoder, München 2018
Linda Richter: Alcohol and women: Unique risks, effects, and implications for clinical practice. Neuroscience of Alcohol, 2019, 21–28. DOI: 10.1016/B978-0-12-813125-1.00003-9