Fehlerhaft grandios

Warum ist der Mensch nach 300000 Jahren Evolution noch so anfällig für körperliche und psychische Krankheiten?

Der Mediziner und Psychiater Martin Brüne beschäftigt sich in seinem Buch Der unangepasste Mensch mit der Evolution und der menschlichen Psyche. Berufsbedingt liegt der Schwerpunkt des Autors auf psychischen Störungen. Warum gibt es sie überhaupt, obwohl sie auf den ersten Blick keine Anpassungsvorteile bieten im Hinblick auf Überleben oder Fortpflanzung?

Mittlerweile kann man die Entstehung zumindest einiger psychischer Erkrankungen relativ plausibel nachvollziehen. Menschen in Europa besitzen zum Beispiel besonders häufig eine bestimmte Genvariante auf einem Dopaminrezeptor, der ein erhöhtes Risiko für ADHS bedeutet. Einerseits. Andererseits sollen Personen, die diese Genvariante tragen, besonders neugierig sein. Entstanden ist die Mutation vor etwa 50000 Jahren, als der Homo sapiens aus Afrika nach Europa wanderte.

Vermutlich hatten neugierige Zugewanderte einen Fortpflanzungsvorteil, so dass sich das betreffende Gen-Allel weiterverbreitete. „Dass heutzutage Kin­der mit der langen Variante häufiger ADHS bekommen als die mit der kurzen, hat eher damit zu tun, dass sich unsere modernen Umwelten massiv von den Bedingungen unterscheiden, unter denen wir uns evolutionär entwickelten“, erklärt Martin Brüne.

Anschaulich und trotzdem genau

Anschaulich erzählt er, „warum wir so sind, wie wir sind, warum wir gleichzeitig so unglaublich erfolgreich und doch so vulnerabel sind“. Große Probleme macht modernen Menschen bekanntlich ihre Ernährungsweise: Diabetes-Typ-2-Erkrankungen steigen explosionsartig in die Höhe, seitdem Fertiggerichte sowie viel Zucker und Fett auf dem Speisezettel stehen. Die Zahl der Neuerkrankungen bei Jugendlichen hat sich in den letzten zehn Jahren verfünffacht. Aber eine Spezies, die eine Million Jahre lang zu wenig davon hatte, könne den verlockenden Angeboten eben schwer widerstehen, sagt Brüne.

So gesehen sind wir eine glatte Fehlanpassung. Auf der anderen Seite – das ist die ermutigende Nachricht – können Einflüsse der Umwelt unser Verhalten doch entscheidend verändern. Der Botenstoff Oxytocin erhöht zum Beispiel nicht nur das Vertrauen zwischen Menschen, er verstärkt auch Neid und Schadenfreude. Welcher Seite der Waagscha­le man letztlich zuneigt, scheint mit der frühen Kindheit zusammenzuhängen. Wer eine sichere und liebevolle Kindheit erlebt hat, dem fällt es leichter, anderen freundlich zu begegnen.

Bei seinen Erläuterungen verzichtet Brüne nicht auf notwendige Fachausdrücke. Es gelingt ihm aber trotzdem, anschaulich zu schreiben und Leserinnen und Lesern neue und spannende Zusammenhänge zu vermitteln.

Klar wird, dass Evolution nie zum Stillstand kommt und auch heute sehr aktiv ist. Das Minenfeld Geschlecht und Verhalten streift der Autor allerdings nur am Rande. Verständlich, denn Aussagen über dieses Thema werden schnell missverstanden. Was hier Kultur und was Biologie ist, lässt sich schwer entschlüsseln.

Martin Brüne: Der unangepasste Mensch. Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 364 S., € 24,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2021: Raus aus alten Mustern
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