Das letzte Bild vorm Anschlag

Anke Ehlers entwickelt Verfahren, die sich mit traumatisierende Erfahrungen auseinandersetzen und den Patienten eine Rückkehr ins Leben ermöglichen.

Eine Frau sitzt den Kopf auf die Hände gestützt da und wird verfolgt von dem letzten Bild vor der Katastrophe, die ihr Leben prägt und weshalb sie traumatisiert ist
Viele werden in (Tag-)Träumen von den furchtbaren Bildern des Erlebten heimgesucht – Psychotherapie hilft. © Rafa Elias/Getty Images

Psychologie Heute Frau Professor Ehlers, können Sie sich an den 7. Juli 2005 erinnern?

Anke EHLERS Selbstverständlich! Das war ein schwarzer Tag, ein traumatischer Schlag für ganz Großbritannien.

PH In London, mitten im morgendlichen Berufsverkehr, zündeten damals islamistische Terroristen, vermutlich Selbstmordattentäter, vier Bomben. In Bahnhöfen, in der U-Bahn, in einem Bus. 56 Menschen wurden getötet, 775 verletzt, viele von ihnen schrecklich verstümmelt. Glauben Sie, dass das Land heute, fast zehn Jahre…

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775 verletzt, viele von ihnen schrecklich verstümmelt. Glauben Sie, dass das Land heute, fast zehn Jahre nach dem Anschlag, über das Trauma hinweggekommen ist?

EHLERS Ich glaube, die Erinnerung an eine solche Tat wird sich nie ganz tilgen lassen. Sie bestimmt das Klima im Land, das allgemeine Gefühl von Sicherheit, Planbarkeit und Kontrolle; sie beeinflusst Entscheidungen der Politik. Denken Sie auch an die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York, deren Erschütterungen bis heute das Lebensgefühl und das politische Handeln in der ganzen Welt beeinflussen. Was mich in meinem Beruf als Psychotherapeutin und Psychotherapieforscherin aber vor allem interessiert, sind die Auswirkungen solcher Ereignisse – oder allgemein: die Auswirkungen traumatischer Ereignisse – auf den Einzelnen in seinem sozialen Umfeld.

PH Niemand weiß, wie viele Menschen von dem Attentat in London mittelbar betroffen waren – als Augenzeugen des schrecklichen Geschehens etwa oder als Angehörige von Menschen, die Leben oder Gesundheit verloren haben. Viele kamen zur Behandlung ihrer Traumata zu Ihnen ins Maudsley Hospital im Stadtteil Camberwell.

EHLERS Fast 800 Verletzte wurden damals in einem Screening-Programm auf psychische Folgen untersucht, rund 200 von ihnen sind in therapeutische Behandlung gekommen – und tatsächlich kamen viele zu uns in unser Centre for Anxiety Disorders and Trauma, also das Zentrum für Angststörungen …

PH … das Sie mit zwei anderen klinischen Psychologen leiteten, Paul Salkovskis und Ihrem Ehemann, David M. Clark. Konnten Sie helfen?

EHLERS Nun, posttraumatische Belastungsstörungen, kurz PTBS, sind seit gut 30 Jahren als schwere psychische Verletzungen wissenschaftlich klassifiziert. Die Psychologie arbeitet bis heute intensiv daran, die Mechanismen immer besser zu verstehen und die Methoden der Behandlung immer genauer auszuarbeiten. Wir wissen heute viel über Wirkzusammenhänge und kognitive wie emotionale Komponenten dieses Problems. Wir können uns auf sehr gute Daten aus randomisierten Therapiestudien stützen, das ist in der Therapieforschung der Goldstandard. Viele Studien haben wir auch in unserer eigenen Ambulanz gemacht – ich denke also, wir waren wirklich ordentlich vorbereitet. Tatsächlich fanden wir, dass die Therapieerfolge bei den Überlebenden der Bombenattentate genauso gut waren wie in unseren kontrollierten Studien: Mehr als 70 Prozent der Behandelten ging es nach der Therapie deutlich besser.

PH Was sind denn allgemein die Symptome einer PTBS?

EHLERS Das Kernsymptom ist, dass die Erinnerung an so ein Trauma immer wiederkehrt. Betroffene erleben sogenannte Flashbacks, also ungewollte Bilder und Eindrücke, die sie heimsuchen wie aus heiterem Himmel. Zugleich wenden sie große Energie auf, um Situationen und Menschen aus dem Weg zu gehen, die sie an das Trauma erinnern. Häufig kommen Symptome einer übermäßigen Erregung hinzu, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Reizbarkeit und Schreckhaftigkeit. Viele verlieren das Interesse an Dingen, die für sie früher wichtig waren, und fühlen sich entfremdet von anderen Menschen. Und manche berichten, dass sie sich innerlich wie tot fühlen, unfähig, irgendwelche Emotionen zu haben.

PH Weil alle Emotion auf das traumatische Ereignis gerichtet ist?

EHLERS Die Flashbacks sind so lebhaft, dass es den Betroffenen vorkommt, als passiere das alles hier und jetzt. Manchmal können sie überhaupt nicht mehr zwischen ihrer gegenwärtigen Realität und dem längst vergangenen Trauma unterscheiden. Wir hatten eine Patientin, die im Schlachthof arbeitete und dort von einem Bullen angegriffen worden war. Sie hatte zwar mit einem Sprung durchs Fenster ihr Leben retten können, aber auch lange Zeit danach verspürte sie immer wieder den Impuls, in panischer Flucht davonzulaufen. Einmal ist sie auf einem Spaziergang in einen Fluss gesprungen und weit hinausgeschwommen – später stellte sich heraus, dass sie auf einer eingezäunten Weide, weit entfernt, ein paar Kühe gesehen hatte. Es war Winter, das Wasser eiskalt; die Frau hat sich also wirklich in Gefahr gebracht.

PH Was wäre in einem solchen Fall zu tun?

EHLERS Wir halfen ihr, die Auslöser des Flashbacks zu erkennen und zu lernen, ihre Aufmerksamkeit auf das zu richten, was in einer gegenwärtigen Situation anders ist als damals im Schlachthof – sie konnte sich zum Beispiel vergegenwärtigen: Das sind ja nur Kühe, die friedlich auf der Weide stehen; die nehmen mich nicht einmal zur Kenntnis; ich bin draußen, ich kann mich frei bewegen; es riecht anders.

PH Das klingt nach einer sehr sachlichen Form der Auseinandersetzung.

EHLERS Die therapeutische Wirklichkeit ist komplexer. Die Auslöser sind individuell sehr verschieden und nicht leicht zu erkennen, wenn sie etwa nur auf einer Sinnesebene Gemeinsamkeiten mit dem Trauma haben. Dann genügt schon eine Farbe, ein Geruch oder eine bestimmte Tonfrequenz, um solche Erinnerung hervorzurufen. Wir müssen also mit jedem Patienten sehr detailliert daran arbeiten, die individuellen Auslöser zu entdecken, um zwischen dem Damals und dem Jetzt unterscheiden zu können.

PH Wo liegt der Unterschied zu den unmittelbaren Reaktionen auf das Ereignis?

EHLERS Der erscheint zunächst gar nicht mal so groß. Die meisten Opfer werden unmittelbar nach einem Trauma schlecht schlafen, Albträume haben oder Bilder vom Geschehen vor sich sehen. Oder sie glauben, Geräusche zu hören, etwa den Knall vom Unfall, das Klirren von Glas, das Schlittern der Reifen auf der Straße. Solche Erinnerungen werden ganz spontan in den Kopf kommen.

PH Ganz normal?

EHLERS Vollkommen normal! Lebensbedrohliche Ereignisse müssen verarbeitet werden. Dazu ist es notwendig, die Erinnerungen immer wieder zu befragen. Bei den meisten Menschen ebbt das irgendwann wieder ab, nach ein paar Wochen oder vielleicht auch Monaten. Dann können sie wieder in den Alltag zurückkehren. Aber bei denen, die eine posttraumatische Belastungsstörung als chronisches Problem entwickeln, lässt das auch nach Monaten nicht nach.

PH Das spräche eigentlich gegen eine Versorgung durch psychologisch geschulte Helfer, die mit Blaulicht an den Ort des Geschehens rasen.

EHLERS Ich will die Arbeit von Seelsorgern oder Krisenhelfern am Ort eines Unglücks oder einer Katastrophe nicht in Zweifel ziehen, und natürlich benötigen Traumaopfer möglichst schnell emotionale und praktische Unterstützung. Aber die psychische Verarbeitung eines solch einschneidenden Erlebnisses braucht Zeit. Ebenso eine gewisse Distanz, um über das Erlebte und dessen Bedeutung nachdenken zu können und es als Teil der Vergangenheit zu erleben. Das erklärt vielleicht die enttäuschenden Ergebnisse mit einmaligem Psychological Debriefing kurz nach dem Erlebnis …

PH … eine schnelle, quasi eine Instant-Form der nachträglichen Bearbeitung und Strukturierung, um langfristige Belastungsstörungen zu verhindern.

EHLERS Das war eine gut gemeinte Idee. Die traumatisierten Opfer von Unglücksfällen oder Verbrechen sollten möglichst rasch nach dem Geschehen – etwa von Notfall-Einsatzkräften – dazu angeleitet werden, sehr detailliert über das Trauma zu sprechen, auch die eigenen Reaktionen bis ins Detail zu reflektieren. Die Annahme war, dass man sich die Last ein für allemal, wie man so sagt: von der Seele redet. Leider hat sich die Methode nicht bewährt. Es gab viele Studien dazu; die meisten finden keinen Unterschied, ob es dieses Debriefing nun gegeben hat oder nicht. Schön, da könnte man noch sagen: Das ist vielleicht nur eine Verschwendung von Energie aufseiten der Helfer oder auch der Opfer. Damit kann man leben. Aber zumindest zwei Studien – eine davon haben wir an unserem Institut gemacht – kamen zu dem Resultat, dass es diesen Patienten sogar schlechter geht, als wenn man sie einfach ihre natürlichen Bewältigungsmechanismen nutzen lässt.

PH Aber auch Ihre Arbeit besteht doch darin, das Geschehen und die Reaktionen darauf noch einmal aufzuarbeiten.

EHLERS Wir konzentrieren uns auf Menschen, die sich nicht von allein erholen. Und es ist mühsam und aufwendig, ihre Probleme aufzuarbeiten. Das erfordert in den meisten Fällen etwa zwölf Doppelsitzungen – es ist also nicht damit getan, sich einmal alles von der Seele zu reden.

PH Wie gehen Sie dabei vor?

EHLERS Die Therapie hat drei Ansatzpunkte: Wir betrachten gemeinsam mit dem Patienten, welche Momente am schlimmsten waren, warum diese Momente weiter so bedrohlich sind und welche neue Perspektive sich aus heutiger Sicht bietet. Wir erarbeiten, zweitens, die individuellen Auslöser der Flashbacks und helfen den Patienten, anders als bislang auf sie zu reagieren. Und drittens geht es darum, Verhaltensweisen aufzugeben, die einer Besserung im Weg stehen – ständiges Grübeln etwa oder überzogene Anstrengungen, sich Sicherheit zu verschaffen. Denken Sie an die Frau, die in den Fluss gesprungen ist, um sich vor den Kühen in Sicherheit zu bringen.

PH Also ist in jedem Fall eine sehr spezifische Geschichte aufzuarbeiten.

EHLERS So ist es. Damit steht und fällt der Erfolg einer Therapie. Ich erinnere mich etwa an einen Mann aus London, nennen wir ihn Michael, der im Dezember 2004 Urlaub in Thailand machte, als dort der Tsunami die Küsten überrollte, ganze Landstriche verwüstete und Zigtausende von Einheimischen und Touristen tötete. Michael überlebte. Er kam zu uns in die Therapie, weil die Erinnerung ihn nicht losließ, weil er nicht mehr schlafen, sich nicht mehr konzentrieren und seiner Arbeit nicht mehr nachgehen konnte. Er hatte versucht, einen Freund zu retten, der aber von der Welle fortgerissen wurde und ertrank. Das Bild, das ihn lange danach noch heimsuchte und nicht mehr losließ, waren die Hände des Freundes. Hände, nach denen er griff, die er festzuhalten suchte, bis sie ihm doch entglitten und in den tobenden Wassermassen verschwanden.

PH Merkwürdig. Es waren also nicht etwa das Schreien des bereits fortgerissenen Freundes, die krachenden Zerstörungen der Umgebung oder vielleicht die Bestätigung, dass der Freund die Katastrophe nicht überlebt hat …

EHLERS Genau das ist interessant: Wir haben oft erlebt, dass nicht etwa der Moment der Katastrophe selbst in Bildern oder Geräuschen im Gedächtnis wiedererlebt wird. Es ist das Kreischen der Bremsen vor einem Verkehrsunfall, es ist der huschende Schatten eines Räubers, oder es sind die raschen Schritte des Vergewaltigers, die ein Verbrechen ankündigten, es ist der Blick eines Attentäters, kurz bevor er zuschlägt oder eine Bombe zündet – es sind oft Eindrücke, die der Katastrophe unmittelbar vorausgingen.

PH Als machte der Betroffene sich nachträglich Vorwürfe, nicht rechtzeitig oder nicht richtig reagiert zu haben …

EHLERS So war es bei Michael. Für ihn blieb der Moment, der ihm immer wieder ins Gedächtnis kam, ein Moment eigenen Versagens. Er gab sich die Schuld am Tod des Freundes – und schloss daraus, dass er ein schlechter, wertloser Mensch sei. Er verfiel in ein Grübeln darüber, was er hätte anders machen sollen. In der Therapie gelang es ihm, die Umstände realistisch zu betrachten. Er akzeptierte, dass er alles getan hatte, was ihm möglich war. Er ließ sogar die Erinnerung daran zu, dass er anderen Menschen geholfen, einer jungen Frau sogar das Leben gerettet hatte. Das half ihm, die traumatische Situation zu überwinden. Er hörte auf zu grübeln und konnte wieder arbeiten.

PH Es scheint in diesen endlos wiederkehrenden Erinnerungen und den Gedankenschleifen beim Grübeln also vor allem um die Verhandlung von Ursächlichkeit zu gehen. Spielt die Frage nach Kontrolle und Kontrollierbarkeit eine Rolle?

EHLERS Eine große! Es geht ja auch darum, sich in der Verarbeitung eines Geschehens vor künftigen Katastrophen in Sicherheit zu bringen: Es wäre alles anders gekommen, wenn ich dieses oder jenes Detail rechtzeitig erkannt hätte …

PH Macht es also einen Unterschied für die Arbeit an solchen Störungen, ob einer ein jugendlicher Hallodri ist, der mit Vollgas durch die Stadt brettert, bis er irgendwann gegen die Wand knallt, oder ob es sich um einen reiferen, erfahrenen Menschen handelt, der immer vorsichtig fährt?

EHLERS Der Unterschied liegt in der Wahrscheinlichkeit, mit der sich aus dem Schock eine chronische Störung entwickelt. Bei Verkehrsunfällen haben wir das empirisch untersucht: Leiden Menschen, die den Unfall selbst verursacht haben, danach häufiger oder weniger häufig unter einer posttraumatischen Belastungsstörung? Und Sie werden staunen: Im Schnitt erwiesen sich die schuldhaften Verursacher als weniger gefährdet! Der Mechanismus lässt sich erklären. Wahrscheinlich denken sie sich: Ich war unvorsichtig, bin zu schnell gefahren, habe mich ablenken lassen. Aber das alles habe ich unter Kontrolle. Ich kann nächstes Mal vorsichtiger sein.

PH Ob einer für sein ganzes Leben eine Last mit sich herumträgt, ob er – aus eigener Schuld oder als unschuldiges Opfer – davon drangsaliert wird bis zu dem Punkt, an dem er darunter zusammenbricht: Ist das tatsächlich eine Frage der persönlichen Verarbeitung?

EHLERS Doch, das ist es. Wir haben immer wieder erlebt, dass die kognitive Kodierung eines Traumas – im Moment des Erlebens und danach – ein Risikofaktor von entscheidender Bedeutung ist. Deshalb stellen wir in unserer Forschung immer wieder die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand so ein chronisches Problem entwickelt? Da spielen zunächst Daten zur Persönlichkeit des Betroffenen und seiner Vorgeschichte eine Rolle, zum Beispiel wie ängstlich oder depressiv jemand vorher schon war oder ob er schon andere Traumata erlebt hat. Dann die Art des Traumas: Wenn man das Opfer eines Verbrechens geworden ist, von Vergewaltigung, Überfall oder gar Folter, wenn man also ein Trauma erlitten hat, das einem von anderen in böser Absicht zugefügt wurde – dann ruft das mit viel höherer Wahrscheinlichkeit eine posttraumatische Belastungsstörung hervor als zum Beispiel ein Unfall.

PH Gibt es Menschen, die psychisch immun sind?

EHLERS Das wohl nicht. Niemand ist völlig davor geschützt. Auch der an sich unerschrockene Draufgänger könnte eine solche dauerhafte Störung entwickeln, wenn er zum Beispiel Todesangst empfunden hat und auf den Gedanken verfällt: „Beim nächsten Mal überlebe ich so etwas nicht.“ Bedroht sind auch Menschen, die in ihren Berufen eigentlich ganz routiniert solchen Erfahrungen begegnen.

PH Was sind das für Berufe?

EHLERS Soldaten etwa. Unter denen stellen solche Störungen ein gravierendes und durchaus verbreitetes Problem dar. Denken Sie nur an die vielen Veteranen aus Afghanistan oder dem Irakkrieg. Es dringt nicht so stark in unseren Alltag durch, weil die Kriege heute meist in fernen Ländern geführt werden. Aber manche der heimkehrenden Soldaten sind durch ihre Erlebnisse völlig aus der Bahn geworfen worden. Es ist dann sehr schwer, sie wieder in den Alltag zu integrieren und ihnen eine Chance zu eröffnen, ein unbeschwertes Leben aufzunehmen.

PH An den Veteranen des Vietnamkriegs sind ganze Generationen von Helfern in den USA gescheitert.

EHLERS Aber auch Katastrophenhelfer können betroffen sein, Feuerwehrleute, Polizisten, Rettungssanitäter. Oder Zugfahrer, die erleben mussten, wie plötzlich ein Mensch auf die Schienen sprang. Wir arbeiten mit dem London AmbulanceService zusammen. Das sind die Helfer, die etwa zu Selbstmorden oder schlimmen Unfällen gerufen werden und dann als Erste zur Stelle sind. Natürlich haben sie sich ihren Beruf ausgesucht und schaffen es, auch in solchen Situationen überlegt und professionell zu handeln. Aber manchmal sind die Konstellationen so, dass ihre Erlebnisse im Beruf ihrem persönlichen Leben doch zu nahe kommen. Stellen Sie sich vor, dass etwa Kinder betroffen sind. Dann können auch erfahrene Helfer bisweilen die professionelle Barriere nicht aufrechterhalten und erleben ebenfalls, wie sich ein Trauma selbständig macht und ihren Alltag bis zur Lähmung beherrscht.

PH Nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 in New York erhielten rund 690 000 Menschen irgendeine Form von psychologischer Krisenhilfe. Viele Fachleute beklagen dennoch, dass da ein gewaltiger Bedarf an Beratung und Therapie nicht befriedigt werden konnte. Wie wäre es, die Zahl einmal von der anderen Seite zu betrachten? 690 000 Menschen bei einem Ereignis, das eine ganze Kultur, eine ganze Hemisphäre erschüttert: Das sind doch eigentlich erstaunlich wenige.

EHLERS Sie haben recht: Die Widerstandsfähigkeit, die Resilienz, die viele in traumatischen Situationen zeigen, ist immer wieder erstaunlich. Es ist verblüffend, was Menschen verarbeiten können, über wie viele schreckliche Erfahrungen sie aus eigenen Mitteln hinwegkommen. Tatsächlich ist die chronische PTBS eine relativ seltene Reaktion. Viele werden durch ihr Umfeld aufgefangen, durch ihre Familie, viele erholen sich auch von ganz schlimmen Traumata. In der Behandlung konzentrieren wir uns auf die, die nicht von allein herausfinden.

PH Aber bei Nine Eleven hatte die Katastrophe eine Dimension, die auch auf dieser Ebene nicht mehr zu bewältigen war.

EHLERS Tatsächlich haben viele nicht bekommen, was sie brauchten und was ihnen geholfen hätte. Die akute Krisenintervention war nach den Terrorattacken oft nicht ausreichend. Denken Sie etwa daran, wie viele Menschen nahestehende Personen verloren haben. Viele haben die ersten Bilder live im Fernsehen gesehen und sofort zum Telefon gegriffen, um mit ihrem Vater, ihrer Schwester, ihrer Verlobten oder ihrem Sohn im World Trade Center zu sprechen. Und dann war plötzlich die Leitung unterbrochen, und sie wussten: In diesem Moment stirbt mein Angehöriger …

PH Dazu die Milliarden von Menschen in der ganzen Welt, die den Schrecken immer wieder am Bildschirm nacherleben mussten: Erlitten nicht auch sie ein Trauma?

EHLERS Da bin ich skeptisch! Ich habe ernsthafte Zweifel, dass Bilder im Fernsehen eine posttraumatische Belastungsstörung auslösen können. Was wir in unserer Praxis behandeln, sind gewichtigere Fälle – etwa Traumata, bei denen die Patienten selbst oder nahestehende Personen direkt betroffen waren. Oder es kommen Menschen zur Therapie, die direkt dabei waren, als jemand schwer verletzt oder getötet wurde.

PH Was auffällt, ist eine Nähe zur Psychoanalyse. Dort geht es ja auch um Traumata, die ihre Wirkung perpetuieren. Wahrscheinlich sind es oft Traumata anderer Art. Aber etwa sexueller Missbrauch …

EHLERS Ich denke, psychisches Trauma ist eine Grundfrage der klinischen Psychologie seit den Tagen von Sigmund Freud. Man will verstehen, wie ein traumatisches Erlebnis zu den jeweiligen Symptomen führen kann. Und wie die Betroffenen zu behandeln sind. Das gemeinsame Interesse überschneidet sich da vollkommen.

PH Sie sind dennoch zur Verhaltenstherapie zurückgekehrt.

EHLERS Sagen wir: bei ihr geblieben. Und zwar mit einem deutlichen Schwerpunkt auf kognitiven Interventionen. Ich hatte zwar zunächst gedacht, Ansatz und Menschenbild der Gesprächstherapie lägen mir viel näher. Zudem fand ich einige Techniken und Therapieziele, die in den sechziger und siebziger Jahren in der Verhaltenstherapie diskutiert und auch exerziert wurden, geradezu abschreckend – zum Beispiel Aversionstherapie oder die Versuche, Homosexualität gegenzukonditionieren. Da habe ich lieber parallel zum Studium in Tübingen meine Gesprächstherapie-Ausbildung gemacht und aus eigener Tasche bezahlt. In der Arbeit mit Patienten aber wurde mir klar, dass ein rein nondirektives Vorgehen oft nicht ausreicht. Und die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Methoden, insbesondere bei den Angststörungen, ist beindruckend. Das hat mich überzeugt. Ebenso die Verhaltensmedizin, also die Frage, wie wir mit Psychologie körperliche Probleme und Beschwerden behandeln können.

PH Und plötzlich bekam die so nüchterne Verhaltenstherapie ein menschliches Antlitz …

EHLERS Nun ja, von der Idee der Black Box jedenfalls haben wir uns schnell verabschiedet. Die Reduktion auf Input, Output und Konditionierung, wie sie der frühe Behaviorismus nahelegte, passte einfach nicht zu den Problemen, die uns im therapeutischen Alltag begegneten. Wir haben gelernt, gemeinsam mit unseren Patienten Erklärungsmodelle für ihre Störung zu erarbeiten, und das tun wir noch heute. Und unser Lehrer Niels Birbaumer hat schon sehr früh betont: Bei Phänomenen wie Angst müssen wir neben dem Verhalten auch kognitive Prozesse bearbeiten.

Anke Ehlers, 1957 in Kiel geboren, hat in Tübingen Psychologie studiert. Nach der Promotion 1985, betreut von dem dort lehrenden Niels Birbaumer und dem Amerikaner Walton T. Roth von der Stanford University, und der Habilitation in Marburg war Ehlers zunächst Professorin an der FU Berlin und in Göttingen und ging 1993, unterstützt durch ein Stipendium des britischen Wellcome Trust, nach Oxford, wechselte 2000 ans King’s College nach London, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann David M. Clark das Centre for Anxiety Disorders and Trauma am Maudsley Hospital leitete. Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) blieben ihr Spezialgebiet auch nach ihrer Rückkehr 2012 an die Oxford University.

Anke Ehlers ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, der British Academy und der Academia Europaea. Ihre Behandlungsrichtlinien für posttraumatische Belastungsstörungen wurden 2006 mit dem Buchpreis der British Medical Association ausgezeichnet, sie wurde 2013 mit dem Deutschen Psychologenpreis und dem Oswald-Külpe-Preis geehrt und erhielt 2014 für ihre Forschungsarbeit den American Psychological Association Award for Distinguished Scientific Contributions to Clinical Psychology.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2014: Wie geht Erholung?