Herr Professor Gabriel, würden Sie bitte bei einem Richtig-oder-falsch-Quiz mitwirken?
Einverstanden.
Erstens: „Bewusstsein und Geist sind eine Art Innenansicht dessen, was im Gehirn vor sich geht.“
Falsch!
Zweitens: „Alles, was uns zugänglich ist, sind unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, also das, was sich in unserem Bewusstsein abspielt. Deshalb ist es zweifelhaft, ob es überhaupt eine Welt jenseits des Bewusstseins gibt.“
Auch falsch!
Drittens: „Es gibt eine einzige unteilbare Wirklichkeit, und irgendwann…
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des Bewusstseins gibt.“
Auch falsch!
Drittens: „Es gibt eine einzige unteilbare Wirklichkeit, und irgendwann wird die Wissenschaft diese Wirklichkeit mit einer einheitlichen ‚Theorie von allem‘ beschreiben können.“
Nein!
Viertens: „Einhörner sind real, ebenso Feen, Zwerge und Trolle, und Sherlock Holmes gibt es wirklich.“
Richtig!
Auf die Begründungen bin ich gespannt. Warum gibt es im Universum überhaupt etwas so Merkwürdiges wie Bewusstsein? Warum laufen wir nicht als intelligente Zombies durch die Welt und machen alles, was Menschen so tun, jedoch völlig bewusstlos, ohne jedes seelische Innenleben?
Wenn man die Frage so formuliert, ist Bewusstsein tatsächlich ein Mysterium, mit dem sich nicht nur Philosophen traditionell herumschlagen. Hirnforscher fragen sich etwa, warum ausgerechnet die Aktivität bestimmter Zellen von Bewusstsein begleitet ist, die Aktivität anderer Zellen hingegen nicht. Wieso sollte verdammt nochmal so ein „feuchter Motor“, wie John Searle das Gehirn ironisch nannte, etwas wie Bewusstsein hervorbringen? Selbst wenn dies eine Tatsache ist, sieht es mysteriös aus. Wenn man aber als Philosoph einem Mysterium begegnet, ist die richtige Frage: Wie löse ich es auf? Mysterien sind philosophisch ein Zeichen dafür, dass etwas schiefgelaufen ist. Philosophen feiern keine Mysterien, sondern wollen sie loswerden – oder wie Ludwig Wittgenstein sagte: „Das Geheimnis gibt es nicht.“ Das Mysterium verschwindet, wenn man den Ausgangspunkt umdreht und von der Tatsache ausgeht, dass Bewusstsein nun mal da ist. Bewusstsein kommt einem nur dann merkwürdig vor, wenn man sich vorher ein falsches Weltbild gezimmert hat, nämlich eines, in dem Bewusstsein nicht vorkommt. Das naturalistische Weltbild geht davon aus, dass wir die Wirklichkeit nur dann objektiv beschreiben, wenn wir uns selbst aus dieser Beschreibung eliminieren. Das ist aber unsinnig und führt nirgendwohin.
Ist es vielleicht umgekehrt, und das Bewusstsein ist nicht nirgends, sondern überall? Ist also der Kosmos als Ganzes bewusst und unsere eigene kleine Erlebenswelt nur ein Teil eines allumfassenden Bewusstseins?
Der Panpsychismus, den Sie da skizzieren, ist die umgekehrte Versuchung. Die eine Versuchung ist, dass man das Bewusstsein aus der Welt ausklammert und uns zu Zombies erklärt, und die ebenso falsche Gegenreaktion ist, dass man Bewusstsein nun über die ganze Welt ausbreitet. Meiner Ansicht nach lautet das richtige Modell: Es ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Bewusstsein, dass sich in der Evolution Gehirne einer bestimmten Beschaffenheit entwickelten. Ohne ein solches Nervensystem gibt es kein Bewusstsein.
Und wenn es nun überhaupt keinen Kosmos gibt? Wenn alles, was wir wahrnehmen und empfinden, Lug und Trug ist, eine reine Vorstellungswelt, ähnlich wie in den Matrix-Filmen?
Diesen Standpunkt, den man Solipsismus nennt, hat Descartes schon durchgespielt: Angenommen, es gäbe ein „böses Genie“ (genius malignus), das eine reine Geisterwelt erschaffen hat und uns die Außenwelt und unseren Körper nur vorgaukelt. Selbst wenn man dieses Weltbild für wahr hielte und davon ausginge, dass alles nur Lug und Trug ist, müsste man trotzdem eine Tatsache als real anerkennen – nämlich die Tatsache, dass alles Lug und Trug ist. Auch der Solipsismus wird also die Wirklichkeit nicht los. Niemand kann eine Position beschreiben, in der man nur auf sein Bewusstsein eingeschränkt ist. Der Solipsismus ist kein kohärentes Gedankenexperiment, sondern eine paranoide, allerdings faszinierende Fantasie, weshalb er auch so gerne in Filmen wie Matrix, The Thirteenth Floor oder Fassbinders Welt am Draht aufgegriffen wird.
Aber sind denn nicht unsere nächtlichen Träume so ein Matrix-Fall: eine komplett halluzinierte Wirklichkeit?
Schon, aber Träume unterscheiden sich nun mal vom Wachzustand, sonst wäre ja alles Traum, und der Begriff hätte keinen Sinn. Ein Traum ist etwas, das eine beschränkte Zeit hat: Manchmal träume ich, manchmal nicht. Man überdehnt den Begriff des Traumes, wenn man sich fragt: Könnte das Leben ein Traum sein? Das ist so, als würde man sich fragen: Könnte das Leben eine Orange sein?
Könnten nicht nur wir Menschen, sondern auch Maschinen prinzipiell Bewusstsein entwickeln? Werden wir eines Tages in unserer Wohnung Saugroboter haben, die Schmerz empfinden, wenn sie sich am Stuhlbein stoßen, und sich freuen, wenn sie endlich Feierabend machen können?
Das halte ich nicht für möglich. Wenn wir als Menschen von Bewusstsein sprechen, beziehen wir uns auf Erlebniszustände leidensfähiger Wesen. Wenn wir wie in der neuen Serie Westworld Roboter bauen könnten, die äußerlich nicht von Menschen unterscheidbar sind und täuschend echt zum Beispiel vor Schmerz schreien, bedeutet dies nicht, dass sie tatsächlich Schmerz empfinden. Ich bin der Auffassung, dass unser Schmerzerleben und alle anderen Empfindungen, die dafür sorgen, dass wir als biologische Organismen lebensfähig sind, eine jahrmillionenlange Evolution zur Voraussetzung haben. Diese lange Entwicklungsgeschichte ist konstitutiv, also wesentlich für unser menschliches Bewusstsein. Wir können die Evolution nicht abkürzen. Ein Leben zu bauen, das Empfindungen und Bewusstseinszustände hätte wie wir, wäre genauso kompliziert, wie eine gesamte Galaxie herzustellen. Niemand käme auf den Gedanken, dass wir im Labor eine Galaxie herstellen könnten, aber viele denken, man könne einen empfindungsfähigen Roboter bauen.
Wie schade für die Science-Fiction!
Wie gut für die Science-Fiction! Es wäre doch schrecklich für dieses Genre, wenn daraus Science würde, denn dann wäre die Fiktion verloren.
Sind also nur wir Menschen mit Bewusstsein ausgestattet und sonst niemand?
Es mag auch auf anderen Planeten bewusstseinsfähige Organismen geben, aber die kennen wir nicht. Doch ich bin davon überzeugt, dass Bewusstsein in verschiedenen Formen über das Tierreich hier auf der Erde verbreitet ist. Nur ist das Bewusstsein dieser Tiere jeweils anders als unseres. Psychologen haben das Phänomen der „kognitiven Penetration“ beschrieben. Einfaches Beispiel: Wenn man beim Autofahren in den Rückspiegel schaut, hat man ja nicht das Gefühl, ein Spiegelbild zu sehen, sondern man hat den Eindruck, dass man anschaut, was hinter einem auf der Straße passiert. Das heißt, unsere bewusste Erfahrung ist immer durchdrungen von unseren Vorkenntnissen, und sie ist durchdrungen von unserem Wissen als Lebensform. Und so wird auch bei anderen Lebewesen deren Bewusstsein durch ihre Lebensform durchdrungen sein. Bienen zum Beispiel orientieren sich an Lichtspektren und Magnetfeldlinien am Himmel. Und ich bin überzeugt, dass sie dies bewusst tun, so wie ich mich bewusst an mein GPS halte. Wir wissen als Menschen zwar nicht, wie es sich „anfühlt“, sich wie eine Biene am Himmel zu orientieren, aber ich habe kein Problem damit, zu glauben, dass es sich für die Biene irgendwie anfühlt. Ich würde allerdings nicht so weit gehen, dass ich Einzellern ein Bewusstsein unterstelle. Wo zwischen Einzellern und Bienen der evolutionäre Schnitt ist, ab dem man von Bewusstsein sprechen kann, vermag heute noch niemand zu sagen.
Haben manche Tiere sogar ein Ich-Bewusstsein, wie einige Forscher annehmen? Malt man etwa einem Schimpansen in Narkose, also ohne dass er es merkt, einen roten Punkt auf die Stirn und er betrachtet sich anschließend im Spiegel, dann greift er sich verwundert an die Stirn. Erkennt dieser Schimpanse sich selbst, also sein „Ich“ im Spiegel?
Delfine können das wohl auch, und man hat dieses Phänomen inzwischen bei einigen Tierarten beobachtet. Ich würde sagen, dass diese Tiere kein Bewusstsein davon haben, dass sie ein Bewusstsein haben, also kein echtes Selbst-Bewusstsein. Aber sie haben ein Bewusstsein davon, dass sie ein bestimmtes Wesen unter anderen sind: „Ich bin der dort im Spiegel.“ Wenn wir allerdings etwa die Sprache von Delfinen entschlüsseln könnten und wir im Delfinischen einen Begriff vorfänden, der unserem Begriff für Bewusstsein entspricht, dann könnten wir in der Tat annehmen, dass Delfine über ein echtes Bewusstsein ihres Bewusstseins verfügen.
Sie gehen also davon aus, dass es ein Gehirn braucht, um Bewusstsein zu entwickeln. Warum polemisieren Sie dann in Ihren Büchern so heftig gegen die Bemühungen der Hirnforscher, unser Bewusstsein anhand der Vorgänge im Gehirn zu erklären?
Es gibt eine riesige Kluft zwischen dem Anspruch der Hirnforschung und dem, was sie wirklich kann. Angenommen, wir sehen, wie jemand Fahrrad fährt. Und nun wollen wir erklären, was Fahrradfahren ist. Wir könnten eine Theorie entwickeln, die bis in die kleinsten Einzelheiten die Beschaffenheit des Fahrrads beschreibt, vom Material über den Reifendruck bis zu den akustischen Schwingungen der Klingel. Doch bei all dem hätten wir nichts über das Fahrradfahren gelernt, sondern nur etwas über das Fahrrad. Nun braucht man zwar ein Fahrrad, um Fahrrad zu fahren, aber Fahrradfahren ist in keiner Weise identisch mit dem Fahrrad. So ist es mit der Hirnforschung und dem Bewusstsein: Das Gehirn entspricht dem Fahrrad, nicht dem Fahrradfahren.
Wenn es aber doch gelänge, ein Aktivierungsmuster im Gehirn ausfindig zu machen, aus dem sich zu 100 Prozent ableiten lässt, was ich in diesem Augenblick erlebe, denke, wünsche, beabsichtige – könnte man dann sagen: Dieser Hirnzustand und mein Bewusstsein sind identisch?
Die Forschung ist davon unendlich weit entfernt. Niemand hat auch nur die Spur einer Ahnung davon, was etwa das neuronale Korrelat in Einsteins Gehirn bei der Entdeckung der Relativitätstheorie war. Aber ich bin gerne bereit zu unterstellen, dass man für alle Bewusstseinszustände eine neuronale Entsprechung im Gehirn finden könnte. Doch daraus folgt nichts, außer dass das Gehirn immer in einem bestimmten Zustand ist, wenn ein bestimmter Bewusstseinszustand vorliegt. Philosophisch brächte uns diese Entdeckung nicht weiter, denn sie sagt nichts darüber aus, auf welche Weise diese Gehirn- und Bewusstseinszustände miteinander verbunden sind. Theoretisch ließe dies sogar die Vorstellung zu, dass ich eine immaterielle Seele habe, die aus dem Nirgendwo auf der Klaviatur meines Gehirns spielt. Diesen Dualismus halte ich für abwegig – doch auf hirnphysiologischem Weg ist er nicht zu widerlegen.
In Ihrem Buch Ich ist nicht Gehirn nennen Sie die Idee, „unser Ich mit dem Gehirnding unter der Schädeldecke zu identifizieren“, eine „Entlastungsfantasie“. Was soll daran entlastend sein?
Wenn ich es schaffe, mir zu sagen: „Ich bin das Gehirnding unter meiner Schädeldecke“, dann bin ich entlastet von der mühsamen Arbeit, ständig zu entscheiden, wer ich denn sein will. Ich bin dann entlastet von all den moralischen Fragen, die das Leben ständig an uns stellt. Denn wenn ich das Gehirnding bin, dann könnte es ja einen Experten für mein Selbstsein geben, der mich aus der Außenperspektive besser beurteilen kann als ich mich selbst. Das könnte etwa ein Neurologe sein, der mir sagt: „Ich verschreibe dir eine Pille gegen deine Depressionen, denn die sind nichts anderes als dieser Hirnzustand.“
Unser Bewusstsein wird oft mit einer Kino- oder Theatervorführung verglichen, in der wir selbst vorkommen. Wie können wir gleichzeitig der Beobachter und das Beobachtete sein?
Man sieht daran schon, dass dies ein widersprüchliches Gedankenexperiment ist. Man kann sich Bewusstsein zwar als einen grandiosen Film vorstellen, angereichert mit Gerüchen, Sinnesempfindungen und Erinnerungen. Und in diesem Film spielen wir selbst mit, sind mittendrin – bis dahin funktioniert die Metapher. Probleme gibt es, wenn wir zusätzlich einen Homunculus, ein kleines Männchen herbeizaubern, das sich diese Filmvorführung anschaut. Zwar sind meine Erlebnisse natürlich Teil von mir selbst als Ganzem, als Person. Doch man darf sich dieses Ganze nicht als externen Beobachter vorstellen. Das Ganze, das ist das „ganze Biest“, das ich bin, mein gesamter Organismus, aber auch zum Beispiel meine Vergangenheit und meine gesellschaftlichen Rollen, etwa als Hochschullehrer oder als Vater.
Ist die Ich-Figur vielleicht völlig entbehrlich? Der Buddhismus sagt: Das Ich ist eine Illusion. Der Strom von Gedanken und Empfindungen sei einfach da und brauche kein Ich als Träger. Und wenn man entsprechend tief meditiert, erfährt man die Welt ohne Ich.
Natürlich gibt es pathologische Zustände, in denen das Ich verschwindet. Aber der meditierende Mönch kann ja auch zurückkehren, sonst wäre er einfach weg. Vollstreckte Erleuchtung wäre kognitiver Suizid, also in der Tat eine Form von Selbstauslöschung. Die Vorstellung, dass man sein Selbst eliminieren könnte oder gar sollte, scheitert daran, dass es im Erfolgsfall in eine Geisteskrankheit mündet. Der Erleuchtete ist wahnsinnig.
Wenn es denn ein Ich gibt, dann gibt es glücklicherweise nicht nur eines davon auf Erden. Wir erleben ja auch die Menschen um uns herum als empfindsame, bewusstseinsbegabte Wesen, in die wir uns einfühlen und eindenken. Dass wir ein Ich unter vielen Ichs sind: Welche Rolle spielt das für unser Menschsein?
Es spielt eine konstitutive Rolle. Der Großmeister der Ich-Philosophie, Johann Gottlieb Fichte, hat es so ausgedrückt: „Der Mensch ist nur unter den Menschen Mensch.“ Die Erfahrung von fremdem Bewusstsein ist viel ursprünglicher im menschlichen Leben als die Erfahrung einer ichleeren Gegenstandswelt. Die erste Erfahrung, die man wahrscheinlich schon im Mutterleib macht, ist die eines anderen Menschen, eines anderen Bewusstseins. Von dort aus erst erschließen wir uns die Erfahrung einer realen Gegenstandswelt. Fremdes Bewusstsein ist für uns als Menschen das Bekannteste überhaupt.
Jetzt verraten Sie uns bitte noch, warum und in welchem Sinne Sie Einhörner für real halten.
Nehmen wir den Film Das letzte Einhorn, in dem es übrigens dem Titel zum Trotz sehr viele Einhörner gibt. Niemand wird auf den Gedanken kommen, diese Filmfiguren, da es ja bekanntlich keine Einhörner geben kann, als etwas anderes zu deuten, etwa als schlecht verkleidete Ponys. Niemand kann Bibi Blocksberg interpretieren, ohne zu glauben, dass es in Bibi Blocksberg mindestens eine Hexe gibt, nämlich Bibi Blocksberg. Wir wissen also, dass es Elfen und Trolle gibt, nämlich zum Beispiel in der Literatur oder in der Mythologie oder beim Karneval. Der Kontext ist hier entscheidend.
Und deshalb sagen Sie, dass es die Welt als Ganzes nicht gibt?
Genau. Die Welt als Ganzes, das wäre eine Liste von allem, das existiert. Schreiben wir mal auf, was es alles gibt: Harry Potter, die Bundeskanzlerin Merkel, die Zahl sieben, Bauchschmerzen, die Vergangenheit, Haarausfall … Das ergäbe erstens eine unendliche Liste, und zweitens haben viele der Gegenstände auf dieser Liste nichts gemeinsam, außer dass sie zusammen auf dieser Liste stehen. Jetzt hat man zwei Möglichkeiten: Entweder man reduziert willkürlich die Gegenstände dieser Liste, sodass sie nur noch solche Elemente enthält, die sich sinnvoll zusammenfügen. Das nennt man dann ein Weltbild. Doch dieses Weltbild kann nie vollständig sein, kann nie das Ganze beschreiben. Ich bevorzuge deshalb die zweite Möglichkeit: Sie streichen nichts von der Liste und nehmen hin, dass sie unendlich und in sich widersprüchlich ist. Dann erhalten Sie kein Weltbild. Das meine ich, wenn ich sage, dass es die Welt nicht gibt. Es gibt nichts Substanzielles, keinen Stempel, den alles, was existiert, trägt. In gewisser Weise ist das die viel radikalere Variante des Buddhismus: Es gibt wirklich all diese Dinge auf der unendlichen Liste, aber jeweils in ihrem eigenen Zusammenhang, in ihrem Sinnfeld – zum Beispiel eben im Sinnfeld eines Films, in dem Einhörner vorkommen. Es gibt unendlich viele miteinander verschachtelte Sinnfelder. Die Welt selbst können wir nicht begreifen, weil es kein allumfassendes Sinnfeld gibt, zu dem sie gehört.
In dem Roman The Fifth Heart von Dan Simmons schließt der Detektiv Sherlock Holmes aus untrüglichen Indizien, dass er kein echter Mensch ist, sondern eine fiktive Figur sein muss. Mit seinem Kummer vertraut er sich schließlich Mark Twain an, der sich als Schriftsteller ja mit fiktiven Figuren auskennt. Wie würden Sie Holmes trösten, wenn Sie Mark Twain wären?
Ich würde ihm sagen: „Keine Sorge, du existierst. Das ist die gute Botschaft. Die weniger gute Botschaft ist: Du existierst nur relativ zur Interpretation deiner Leser. Du hast also keine bestimmte Anzahl von Haaren oder Füßen, außer ich stelle mir als Leser vor, dass du soundso viele Haare und zwei Füße hast. Und du wirst dich relativ zu diesen wechselnden Interpretationen deiner Leser verändern. Du bist also ein schillerndes Ding.“ Ich weiß nicht, ob das Sherlock Holmes beruhigen würde.
Markus Gabriel, Jahrgang 1980, ist seit 2009 Philosophieprofessor – noch immer der jüngste Deutschlands. Er hat den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn. Für ein breiteres Publikum schrieb er die Sachbücher Warum es die Welt nicht gibt (2013) und Ich ist nicht Gehirn (2015), die beide beim Ullstein-Verlag erschienen. In seinen Büchern veranschaulicht er seine Überlegungen mit besonderer Vorliebe anhand von TV-Serien und Spielfilmen wie zum Beispiel: Doctor Who, Blade Runner, Star Trek, Die Ritter von der Kokosnuss, Seinfeld, Matrix, Stromberg, Inception, Meister Eder und sein Pumuckl.