„Sehen, wie die Zeit vergeht“

Philip Gröning hat für seinen Dokumentarfilm „Die große Stille“ sechs Monate lang in einem Kloster gelebt. Und geschwiegen. Wie hat ihn die Stille verändert?

Abt des Klosters La Grande Chartreuse in den französischen Alpen
Abt des Klosters "La Grande Chartreuse" in den französischen Alpen: Hier drehte Philip Gröning sechs Monate lang © Philip Gröning 2005

Woher kam Ihr Interesse an einem Schweigeorden?

Es ist wie ein mythisches inneres Bild gewesen. Ich bin katholisch erzogen worden, da gab es immer dieses Bild des Mönchs, der vollkommen still und in tiefer Kontemplation vor sich hinlebt. Und die Überraschung war dann, festzustellen, dass es das so radikal gar nicht gibt. Es gibt ja niemanden, der für immer schweigt. Aber in mir war eine Sehnsucht danach zu erleben, was mit einem passiert, wenn man so lebt.

Und was ist dann mit Ihnen passiert? Während der Dreharbeiten haben Sie ja sechs Monate lang im Kloster gelebt.

Am Anfang war da eine ziemliche Verzweiflung. Man ist ja wahnsinnig gewohnt daran, zu kommunizieren und viele Dinge aufzunehmen. Und dann ist man plötzlich in so einer Zelle und denkt: Man müsste jetzt einen tollen Blick über die Alpen haben. Aber die Klöster sind so gebaut, dass man nur auf die Wand der Zelle vor sich schaut. Auch das dient der Reduktion. Da war bei mir erst einmal eine große innere Leere und auch eine große Trauer. Und dann, nach ein paar Wochen, hat sich die Wahrnehmung geöffnet für das, was eigentlich das Wunderbare der Gegenwart ist: Wie ist das Licht, wie verändern sich kleine Pflanzen, wie sind die Wolken?

Haben Sie sich denn an die Regeln des Klosters gehalten?

Ich war ja alleine dort, also ohne Kamera- und Tonmann, und musste am Anfang öfter mit dem Berliner Technikbüro Fragen zur Kamera klären. Und ich habe da sicherlich öfter angerufen als ich sollte. Manchmal bin ich auch aus dem Kloster rausgegangen, weil ich das Gefühl hatte, ich brauche einfach Bewegung, ich muss mal kurz auf so einen Berg steigen. Das habe ich aber wirklich nur ganz am Anfang gemacht und dann gemerkt: Ok, ich sollte mich schon an die Regeln des Klosters halten, und wenn ich das Bedürfnis habe, joggen zu gehen, lieber Holz hacken – also den „Sport“ betrieben, den die Mönche auch machen.

Wie viel Stunden haben Sie am Tag gedreht?

Sehr unterschiedlich. Manchmal habe ich viel gedreht – so eine Nachtmesse aufzunehmen dauert mit Vorbereitungen ja schon etwa acht Stunden. Und manchmal gar nichts. Oder nur ein Bild, wie auf meinem Tisch das Essen steht und der Tee dampft. Das war ganz variabel, je nachdem, was ich sehen konnte. Das interessante war, wie sich in dieser Reizreduktion die Tiefe des Blicks verändert hat. Am Anfang fängst du an, lauter Bilder von diesen wunderschönen Kreuzgängen zu machen. Dann, nach sieben, acht Wochen, kannst du es nicht mehr ertragen, dass es immer die gleichen Kreuzgänge sind. Es gibt einen wirklichen Verzweiflungsmoment, in dem du denkst: Ich kann einfach keine neuen Bilder in diesem Kloster mehr finden. Und dann plötzlich geht eine neue Dimension auf und du siehst direkt neben dir ein neues Detail, irgendetwas, das wunderschön ist. Das passiert, glaube ich, egal, ob man in einem religiösen oder in einem anderen Zusammenhang in eine solche Stille geht. Es ist wie eine stufenhafte Erweiterung in der Genauigkeit der Wahrnehmung.

Haben Sie sich allein gefühlt in dem Kloster, in der Stille?

Merkwürdigerweise viel weniger, als wenn ich in normalen Gesellschaftszusammenhängen lebe. Die Kommunikation dort im Kloster ist begrenzt. Man begegnet sich im Kreuzgang, man lächelt sich zu. Und es hat eine solch strahlende Offenheit gehabt, wie diese Menschen nur über den Blickkontakt sagen: Das ist gut, dass du jetzt hier bist. Ich war ja auch im Winter dort, das heißt, ich musste immer meinen Holzofen heizen. Und du siehst: Zur gleichen Zeit, zu der du deinen Ofen anmachst, steigt auch aus dem Schornstein der Zelle vor dir Rauch auf. Du siehst, diese Menschen machen jetzt alle dasselbe. Das erzeugt eine wahnsinnige Verbundenheit, ohne dass man direkt miteinander in Kontakt ist oder sich spricht. Ich fühlte mich dort nach sehr kurzer Zeit sehr aufgehoben. Eigentlich von Anfang an.

Wie hat sich Ihr Umgang mit der Stille in den Monaten verändert?

Die Stille wurde mir immer wichtiger. Ich war immer dankbarer für die Momente, in denen ich weder drehen noch zu einer Messe musste, sondern einfach nur da sein konnte und sehen, wie die Zeit vergeht. Das Irre an der Stille ist die Veränderung der Wahrnehmung. Du kommst in die Lage zu sagen: Durch diesen Stein, den du beim Spazierengehen gefunden hast, kannst du hindurchsehen bis zur Schöpfung der Welt. Was vom physikalischen Gesichtspunkt her ja auch stimmt: Jeder Stein, jedes Glas, jedes Objekt erzählt die ganze Geschichte, die sich vom Urknall bis heute zugetragen hat. Und plötzlich siehst du das. Du siehst den Zeitraum, der in allen Dingen steckt.

Gab es Momente, in denen Sie gedacht haben: Hier möchte ich bleiben?

Ja, ganz oft. Gibt es auch immer wieder, Momente, in denen ich denke: Ich weiß eigentlich gar nicht genau, warum ich da nicht bin. Wobei ich das natürlich schon weiß: Meine Berufung ist es, als Künstler zu arbeiten und etwas zu produzieren. Aber wenn man es daran misst, wie glücklich die Zeit dort war, wäre ich geblieben. Und zwar wegen der Offenheit der Menschen. Nicht wegen der Stille. Sondern wegen der Güte und der Offenheit, die aus der Stille erwachsen.

Philip Gröning ist Regisseur und Dokumentarfilmer. Aktuell läuft in den Kinos sein Spielfilm "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot". Sein Dokumentarfilm "Die große Stille" über das Leben in dem Kartäuser-Kloster "La Grande Chartreuse" aus dem Jahr 2005 wurde unter anderem mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille
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