Die Arbeit mit Borderlinepatienten gehört sicherlich nicht immer zu den attraktivsten Tätigkeiten in meinem therapeutischen Arbeitsalltag. Zu häufige Beziehungstests – „Hält der Therapeut auch wirklich zu mir?“ –, zu wenig Möglichkeiten zur Regulation der überbordenden Emotionen, die zu Selbstbestrafung und -verletzung führen, machen die Arbeit in der Regel nicht gerade leicht. Aber wer will schon immer nur mit „unkompliziert erscheinenden“ Patienten arbeiten?
Anna* kam mit der Diagnose Borderlinepersönlichk…
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erscheinenden“ Patienten arbeiten?
Anna* kam mit der Diagnose Borderlinepersönlichkeitsstörung in unsere Praxis. Sie war damals 25 Jahre alt und bereits berentet, ich begleite sie therapeutisch seit nunmehr 13 Jahren.
Traumatisierungen, sexuelle Gewalterfahrungen, Erfahrung mit harten Drogen, wiederkehrende Angst und Panikattacken sowie unzählige Beziehungsabbrüche kennzeichnen ihre Biografie. Ständige Aufenthalte in verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern mit Spezialabteilungen und Suizidversuche – mein Optimismus, ihr helfen zu können, war anfangs sicherlich eher verhalten. Sie konnte keinen Blickkontakt halten, trug die Haare wie ein Visier vor ihrem Gesicht, murmelte leise vor sich hin. Ein Handgeben zur Begrüßung war ebenso wenig möglich wie eine genaue Exploration der Traumatisierungen, da sie dabei stets unmittelbar dissoziierte, das heißt aus der Realität verschwand und sich in eine eigene ruhige Innenwelt begab. Was löste sie in mir aus? Zuerst ein starkes Mitgefühl mit ihrer Not und Verzweiflung, verbunden mit dem Ziel, mit ihr das Leben anzusehen und nicht ständig über dessen Beendigung zu verhandeln. Ich sagte ihr, dass ich mit ihr arbeiten wolle – unter der Bedingung, dass sie bis zum nächsten vereinbarten Termin keinen Suizidversuch unternehmen werde beziehungsweise sich in der Not sofort an einen Therapeuten wende. Sie stimmte dem Non-Suizid-Vertrag zu, später allerdings berichtete sie mir, dass sie dachte, es passiere ihr ja nichts weiter, wenn sie diesen „erfolgreich“ brechen würde. Sie zeigte sich erstaunt, dass ich keine weiteren Bedingungen formulierte, wie sie es aus vorherigen Klinikaufenthalten kannte. Ich machte ihr deutlich, dass ich nicht sagen könne, wohin unsere gemeinsame Therapiereise gehe, mich aber sehr interessiere, wie sie die Welt sehe, was für Träume sie habe und wo ihr die Krankheit möglicherweise im Weg stehe.
Das mag erstaunen, aber ehrlicherweise muss ich sagen, dass sich Patienten nach mehreren stationären Aufenthalten in der Regel mit borderlinespezifischen Therapietechniken fast besser auskennen als ich. Um der starken inneren Spannung zu begegnen, die sie zur Selbstverletzung treibt, lernen Borderlinepatienten, den Druck auf ungefährliche Art zu mindern, etwa in eine Chilischote zu beißen oder sich mit Igelball oder Gummiband körperliche Reize zu schaffen, die von der inneren Anspannung ablenken, statt sich zu ritzen. Allerdings läuft man mit dem Verweis auf diese in akuten Krisensituationen hilfreichen Techniken auch Gefahr, etwas in der Beziehung im Moment auszublenden und „wegzutechnisieren“.
Therapeutische Unaufgeregtheit
Es folgte eine über Jahre gehende, niederfrequente begleitende Arbeit mit monatlichen Sitzungsterminen und der Möglichkeit der Notfall-Kontaktaufnahme sowie anfangs halbierten Therapiestunden mit 25-minütiger Dauer. Ich bekam den Eindruck, dass ihr die therapeutische „Unaufgeregtheit“ und Gelassenheit guttat und dass sie den Umstand, dass ich keinen Veränderungsdruck auf sie ausübte, für sich zu nutzen begann.
Zunächst versuchte sie, Beziehungen zu Pferden aufzubauen – sie kümmerte sich bei der Pflege, half im Stall mit, hatte eine für sie sinnvolle Aufgabe und bekam ein Gefühl für eine unkomplizierte Beziehung – wenn auch nur zu einem Tier. Sie begann Kontakte zu pflegen und versuchte beruflich wieder geringfügig einzusteigen. Von ihren Eltern, die sie stark in der Krankenrolle sahen und ihr kein selbständiges Leben zutrauten, löste sie sich. Vor zwei Jahren verliebte sie sich dann überraschend in jemanden, der psychisch ebenfalls auffällig war. Sie heiratete und berichtete von einer zunehmend unproblematischen Sexualität. Ihren ehemals starken Kinderwunsch hatten ihr Ärzte nach den multiplen Traumatisierungen vor langer Zeit schon genommen. In der letzten Sitzung war die zwischenzeitlich aufgehellte und meist fröhliche Patientin wieder zurückgezogener und „verhüllter“ und antwortete auf meine Frage, wie sie mit sich zurechtkomme: „Überhaupt nicht gut – ich bin schwanger!“
Kein Druck – und eine verlässliche Beziehung
Wie Sie sich vorstellen können, war das eine Mitteilung, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte, ich zeigte mich freudig überrascht und gratulierte ihr spontan. Sie: „Ich kann mich nicht freuen – alle meine Zukunftspläne sind plötzlich durchkreuzt, und ich habe Angst vor der Verantwortung.“ Ich: „Kann es sein, dass Ihr Körper nach dieser ganzen schönen Entwicklung, die Sie geschafft haben, jetzt dazu vielleicht erstmals wieder bereit ist? Und Ihre Psyche sagt: Die Verantwortung kann ich mit der Hilfe meines Partners und meiner Freundinnen und Freunde übernehmen?“ Sie reagierte nachdenklich und sagte: „Ich muss mich an diesen Gedanken wohl erst noch gewöhnen.“ Ich: „Lassen Sie sich Zeit und nehmen Sie sich die nötige Ruhe, Sie müssen heute noch nicht so weit sein, diese neue Perspektive klar denken zu können.“
Ich erinnerte mich, dass ich ihr im Lauf der Jahre häufiger das Oscar Wilde zugeschriebene Zitat mitgegeben hatte: „Am Ende wird alles gut, und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende!“ Welch eine Entwicklung für eine Frau, die leicht als „Drehtürpatientin“ hätte enden können – als jemand, der entlassen wird, bevor er ausreichend therapiert worden ist, und deshalb bald wieder in einer Klinik landet. Was hat ihr möglicherweise geholfen, einen solchen Weg zu vermeiden? Ich denke in erster Linie: Beziehung. Sie konnte sich auf mich verlassen, fühlte sich nicht unter Druck gesetzt, musste keine Veränderungsschritte planen, keine Therapieziele vereinbaren, keine Fortschritte als Legitimation weiterer Gespräche vorweisen. Sie hat viel Bestätigung erhalten, kleine Veränderungen wurden anerkannt, ihr Potenzial und ihre Ressourcen standen im Mittelpunkt. Wenn Sie mich fragen, ob das Psychotherapie ist, würde ich antworten: Auch das ist Psychotherapie. Genauso wie es sinnvoll sein kann, mit Menschen Ziele abzusprechen, Vereinbarungen zu treffen oder ihnen Aufgaben zu stellen, kann es richtig sein, solche Elemente zu unterlassen. Denn sie schädigen unter Umständen ein ohnehin stark ausgeprägtes negatives Selbstkonzept weiter („Ich bekomme es einfach nicht hin“, „Alle anderen haben ihre Gefühle besser im Griff“, „Auch in dieser Therapie werde ich wieder versagen“). Im Gegenteil: Anna gewann zunehmend das Gefühl, doch für etwas und jemanden gut zu sei, und gelangte zu der Überzeugung, dass ihr Veränderungen in Einstellung und Verhalten gelangen. Sie begann über ihr Leben und nicht über dessen Beendigung nachzudenken.
Manchmal würde ich mir wünschen, Kostenträger könnten auch akzeptieren, dass Veränderungen bei solch biografisch schwer belasteten Patienten ihre Zeit brauchen. Zum Glück gibt es als Abrechnungsmöglichkeit die sogenannte „Gesprächsziffer“. Die Vergütung ist deutlich schlechter als bei einer bewilligten Psychotherapie, dafür ohne Kontingentbegrenzung. Auf diese Weise kann ich mit der Patientin im Quartal dreimal 50 Minuten sprechen, ohne mit den gültigen Richtlinien in Konflikt zu kommen. Ja – 13 Jahre sind eine lange Therapiedauer, aber wie viele stationäre Aufenthalte wurden vermieden, wie viele Notarzteinsätze überflüssig? Rein rechnerisch hat die Behandlung die Krankenkasse bislang etwa 7000 Euro gekostet – weniger als ein einziger mehrwöchiger stationärer Aufenthalt.
* Name von der Redaktion geändert
Michael Broda arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Dahn. Er ist Mitherausgeber und Schriftleiter der Fachzeitschrift Psychotherapie im Dialog und Mitherausgeber der Lehrbücher Praxis der Psychotherapie und Techniken der Psychotherapie