Mein Internetanschluss funktioniert nicht, deshalb rufe ich bei der Telefonanbieter-Servicehotline an, und es geht sofort jemand ans Telefon. Weil ich nur selten aus leidvollen Erfahrungen lerne, finde ich das sensationell und überschütte die Frau am anderen Ende der Leitung mit meiner Begeisterung darüber, dass sie so prompt am Telefon ist. „Oft landet man ja erst mal in Warteschleifen“, sage ich.
„Worum geht es?“, fragt die Frau, und als ich ihr den Fall geschildert habe, sagt sie: „Da verbinde ich Sie…
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Frau, und als ich ihr den Fall geschildert habe, sagt sie: „Da verbinde ich Sie mal mit der Technik.“ Und schon bin ich in der Warteschleife, ich Schaf. Ich hatte vergessen, dass der Hotline-Erstkontakt nichts als ein schwenkbarer Kranarm ist, der einen in die Warteschleife setzt, wo man dann seine endlosen Bahnen ziehen muss. Es läuft Für Elise, natürlich.
Eine Flaschenbürste in einer Röhre
Nach zwanzig Minuten – mein Blick ist mittlerweile leer, die Gesichtszüge entgleist – wird die Musik unterbrochen, und sofort bin ich hellwach. Es meldet sich ein Techniker. Er sagt: „Ich prüfe jetzt mal die Verbindung“, und dann macht er etwas, das sich anhört, als fahre er mit einer Flaschenbürste in eine Röhre. „Kann gut sein, dass das nicht an der Verbindung liegt, sondern an Ihrem Router“, sagt der Techniker, nicht ohne Vorwurf in der Stimme. Da ich immer bereit bin, ein Schuldgefühl anzunehmen, wenn es mir angeboten wird, frage ich mich, ob ich womöglich meinen Router nicht artgerecht gehalten habe. Der Techniker bietet mir einen neuen Router an, der ungefähr so teuer ist wie ein Helikopter. „Ich prüfe jetzt aber noch mal was. Dauert einen Moment“, sagt er. Weil ich mittlerweile eine Für Elise-Phobie entwickelt habe, sage ich: „Bitte kommen Sie bald zurück“, ich sage das mit etwas verrutschter Stimme, so, als steche der Techniker in See und ich bliebe liebend und bangend am Ufer zurück.
„Jau“, sagt der Techniker. Und dann gibt es wieder nur Für Elise und mich. Außer mir ist keiner zu Hause. Es könnte so schön still sein.
Letztens hat mein zur Übertreibung neigender Lieblingsonkel Ulrich, ein Psychoanalytiker im Ruhestand, damit geprahlt, dass er sich nicht erinnern könne, jemals in seinem Leben auf etwas gewartet zu haben. Wenn sich bei ihm beispielsweise ein Patient verspätete, erzählte Onkel Ulrich, wusste er sich immer sinnvoll zu beschäftigen – nie wartete er tatenlos herum. Als Onkel Ulrich mal eine Reifenpanne hatte und auf den Mechaniker wartete, klappte er auf dem Standstreifen der Autobahn kurzerhand sein Laptop auf und schrieb ein psychologisches Gutachten fertig. (Allerdings glaube ich nicht, dass Onkel Ulrich, während er auf Patienten oder Mechaniker wartete, die ganze Zeit irgendetwas für Elise im Ohr hatte.)
Der Fluss des Lebens
Als ich sagte, dass ich in Wartezeiten nichts anderes tun könne als warten, fand Onkel Ulrich, dass ich zu sehr auf andere Menschen bezogen sei, was besonders dann den Fluss des Lebens hindere, wenn der Mensch, auf den man sich beziehe, noch gar nicht erschienen sei, sondern nur erwartet werde. Und dann fing Onkel Ulrich – man kann die Uhr danach stellen – wieder mit dem Hier und Jetzt an, dem man sich nicht hingebe, wenn man sich auf die Zehenspitzen stelle und erwartungsvoll über das Hier und Jetzt hinauszuschauen versuche.
Tatsächlich bin ich momentan sehr bezogen, auf den noch nicht wieder erschienenen Techniker nämlich. Für Elise wird unterbrochen. „Hören Sie?“, fragt der Techniker, und ich bin dankbar, dass es wirklich der gleiche Techniker ist, der zu mir zurückgesegelt ist, und kein anderer, dem ich meine traurige Geschichte dann von vorn erzählen muss. „Es ist doch nicht Ihr Router“, sagt er, „es ist ein technisches Problem. Ich muss da noch mal was nachprüfen. Dauert einen Moment.“
Weil ich mittlerweile eine kapitale Elisenpanik habe, will ich die ersten Klänge noch etwas hinauszögern, den Techniker noch ein wenig bei mir behalten, deshalb frage ich: „Wie finden Sie eigentlich Beethoven?“ Es ist kurz still. Dann antwortet der Techniker: „Beethoven – ein Komponist von Weltrang.“ Und bevor ich sagen kann, dass das gar nicht die Frage war, gibt es wieder was für Elise auf die Ohren.
Hat Elise Für Elise genauso oft gehört wie ich?
Ich versuche, nicht zu warten. Ich mache ein paar Rückenübungen für Elise. Ich halte Für Elise an meine Zimmerpflanze, weil Pflanzen doch angeblich bei klassischer Musik prächtig gedeihen, ich glaube aber, zusehen zu können, wie die Pflanze bei jedem neuen Düdüdüdüdüdü welker wird. Ich gehe in die Küche. Ich sortiere die Gewürzdöschen alphabetisch. Ich frage mich, wie wohl die von Beethoven bewidmete Elise Für Elise fand und ob sie es genauso oft gehört hat wie ich. Ich erinnere mich, dass man gar nicht genau weiß, wer Elise eigentlich war, dass eine gewisse Elisabeth Röckel im Verdacht steht, Elise zu sein, und ich frage mich, was wäre, wenn Beethoven sein Stück nicht Für Elise, sondern Für Frau Röckel genannt hätte, und dann frage ich mich, wo eigentlich mein Aggressionspotenzial geblieben ist. Warum ich dem Techniker nichts von „Zumutung“ und „Servicewüste“ und „Unverschämtheit“ hinblaffen will. Nichts davon will ich. Ich will nur, dass der Techniker nicht für immer verschwunden ist. Allein, dass er zu mir zurücksegelt, macht ihn für mich zu einem Techniker von Weltrang.
Es knistert. „Hören Sie?“, fragt der Techniker. „Ich höre und höre“, sage ich, „Beethoven vor allem“, und der Techniker sagt: „Es gibt eine technische Störung vor Ort. Es muss ein Techniker bei Ihnen vorbeikommen. Ich stelle Sie zu einem Kollegen durch, der wird einen Termin vereinbaren.“ „Dauert einen Moment“, sagen der Techniker und ich gleichzeitig. Ich kneife die Augen zu. Für Elise. Alles ist immer, immer für Elise.