Gebändigt und keimfrei sauber: So beschrieb Theodor W. Adorno vor einem halben Jahrhundert die Sexualität moderner kapitalistischer Gesellschaften. An ebendiese Feststellung will die Philosophin Bettina Stangneth mit ihrem Buch Sexkultur anknüpfen. Sie arbeitet sich darin an einer Gegenwart ab, in der es in Sachen Sex wenig Tabus und viel Toleranz gibt – aber auch kaum mehr unausgeleuchtete Erfahrungsräume, in denen die Faszination der Fantasie herrscht. Denn während wir einerseits die sexuelle Befreiung feiern, welche die letzten Jahrzehnte mit sich brachten, führen wir andererseits durchoptimierte Partnerschaften mit ausformulierten Erwartungen und bis ins Letzte definierten Routinen. Die moderne Vorstellung vom Sexleben sei, so schreibt die Autorin, der klassischen Vernunftehe überaus ähnlich.
Mit etwas mehr Neugier hingegen könnten wir erkennen, was Sex im besten Fall sein kann: ein Sicheinlassen auf ein unmittelbar körperliches Erleben, das sich weder durch Theorien erfassen noch durch Sprache zufriedenstellend beschreiben lässt. Ein Erleben mit geradezu revolutionärem Potenzial: „Eine Veränderung meines sexuellen Erlebens ist im harmlosesten Fall eine Erweiterung der Perspektiven“, schreibt Stangneth, „im extremsten eine Neubewertung meiner Prioritäten, und das nicht nur in Bezug auf die Menschen, die mir bisher nahestanden, oder das Leben, das ich geführt habe. Es verändert meine Denkungsart.“
Da mag man einwenden: Sollten wir nicht froh sein, dass unsere aufgeklärten Zeiten ein entspannteres, weniger überhitztes und von Erlösungsfantasien durchsetztes Verhältnis zur Sexualität beinhalten? Ist es nicht begrüßenswert, dass Sex zu einer schönen Nebensache unter vielen werden darf? Stangneth ist das eine zu prosaische Einstellung. Sie wünscht sich eine neue, eine positive Sexkultur.
Erfindungsreich und kunstvoll
Wie das gemeint ist, arbeitet sie heraus, indem sie sich mit einer Reihe von Begrifflichkeiten und Konzepten auseinandersetzt. Jenem der „Natur“ etwa: Viele Menschen neigen ja dazu, beschwichtigend zu betonen, dass die Sexualität etwas ganz Natürliches sei. Doch so einfach ist das nicht, denn wenn man die Natur mit dem Reinen, Unverdorbenen gleichsetzt, ist es nicht mehr weit bis zu einer Vorstellung, die alles, was von der Norm des vermeintlich Natürlichen abweicht, als „unnatürlich“ verteufelt. Eine positive Sexkultur hingegen pocht nicht auf das Normale und sanktioniert keine Abweichungen, sondern ermöglicht einen erfindungsreichen und kunstvollen Umgang mit der Lust – in etwa so, wie dies auch die erotischen Traditionen Japans oder der römischen Antike taten.
Stangneth hat in einem Interview einmal gesagt, als Philosophin schreibe sie nicht für Leserinnen und Leser, sondern für sich selbst – um ihre Argumente klarer herauszuarbeiten. Auch in Sexkultur kann man ihr, die zuvor unter anderem über das Lügen und das Böse publiziert hat, beim Denken zusehen: Es ist ein bisweilen relativ frei assoziierendes Buch geworden, allzu viel alltagsnahe Konkretion sollte man nicht erwarten. Erwarten kann man indes, sich von einem mit großer Leidenschaft vorgetragenen Gedanken inspirieren zu lassen: dass Sex mehr sein kann, als wir glauben.
Bettina Stangneth: Sexkultur. Rowohlt, Hamburg 2020, 288 S., € 22,–