Wie entscheiden Sie im Allgemeinen: eher mit dem Kopf oder aus dem Bauch heraus? Vertrauen Sie Ihrer Ratio oder doch eher der Intuition? Sicher ist: Für gute Entscheidungen brauchen wir beides. Betrachten wir die Kopfseite: Wie steht es mit der Urteilsfähigkeit und dem logischen Schlussfolgern? Wie gut haben wir diese hochgeschätzten Fähigkeiten wirklich entwickelt, und wie weit reichen sie in der Realität? Schon eine kleine Denkaufgabe reicht aus, um zu illustrieren, wie unser „klares Denken“ schnell…
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reicht aus, um zu illustrieren, wie unser „klares Denken“ schnell überfordert ist: Ein Tischtennis-schläger und ein Ball kosten zusammen einen Euro und zehn Cent, also 1,10 Euro. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
Der Ball kostet zehn Cent, meinen Sie? Nicht ganz, es sind fünf Cent. Würde er zehn Cent kosten, kostete der Schläger 1,10 Euro, zusammen also 1,20 Euro. Die Aufgabe ist mit einfachem Rechnen und rationaler, logischer Analyse zu lösen. Eigentlich. Dennoch kennt die Kognitions- und Entscheidungsforschung mittlerweile eine Vielzahl von Denk-, Urteils- und Entscheidungsfehlern, die uns fast routinemäßig unterlaufen: zum Beispiel der sogenannte Basisratenfehler (wir gehen von einer falschen Häufigkeitsannahme für bestimmte Ereignisse aus); oder die Prognoseillusion (wir überprüfen selten oder nie, ob vorhergesagte Ereignisse wirklich eingetroffen sind, und verlassen uns immer wieder auf Experten); der Knappheitsirrtum (wir entscheiden aufgrund der Annahme, eine Ware oder ein Gut sei bald „vergriffen“); das Ausblenden der Wahrscheinlichkeit (wir verhalten uns wie Spieler, ohne uns um die statistische Grundlage unserer Chancen zu kümmern); der Liking-Effekt (wir entscheiden uns für eine Alternative, weil wir es anderen recht machen wollen) und und und. Die Sozialpsychologie hat buchstäblich Hunderte von möglichen Fehlerquellen identifiziert, die uns bei Entscheidungen in die Irre führen können.
Und in der Tat: Im Alltag sind solche Denkfehler und (falschen) Faustregeln die Regel – und nicht etwa die Ausnahme. Wissenschaftler unterliegen ihnen genauso wie Politiker, Manager oder der Normalbürger. Und das betrifft nicht etwa nur banale alltägliche Konsumentscheidungen ( „Ich habe mir im Restaurant wieder einen ,tollen Chardonnay‘ aufschwatzen lassen!“). Auch und gerade wenn es um große, wichtige Fragen des Lebens geht, sind wir fehleranfällig –und oft schlechte Entscheider in eigener Sache: So würden über 40 Prozent aller Anwälte jungen Menschen von einem Jurastudium abraten. Repräsentative Studien zeigen, dass bei zwei Dritteln aller Führungskräfte in Wirtschaft und Politik richtig schlechte Entscheidungen mindestens so häufig vorkommen wie erfolgreiche. Übrigens: Die Qualität von Entscheidungen hängt sehr wenig von Bildungsstand oder Intelligenzgrad ab: Sollten Sie bei der Denkaufgabe zur 10-Cent-Fraktion gehören, wären Sie in bester Mehrheitsgesellschaft. Über die Hälfte der Studenten in den amerikanischen Eliteuniversitäten Harvard, Princeton und am Bostoner MIT irrte genauso wie Sie, unter Studenten anderer Universitäten sogar mehr als vier Fünftel.
Komplexe Probleme: Es gibt nicht die eine richtige Entscheidung
Die Professorenbrüder Chip und Dan Heath von der Stanford University beziehungsweise Duke University haben sich seit vielen Jahren mit der Psychologie von Entscheidungsprozessen und Entscheidungsfehlern beschäftigt. Die Fragestellung ihrer Untersuchungen ist: Kann man trotz der Vielfalt von Entscheidungssituationen doch ein allgemeines, übergeordnetes Modell entwerfen, das im Großen und Ganzen die Fähigkeit zum Entscheiden verbessert – und zwar im Alltags- und Privatleben ebenso wie im Beruf?
Die Wissenschaftler sind überzeugt: Ja, das ist möglich! Auf dem Weg zu diesem Ziel sind aber essenzielle Einsichten zu berücksichtigen:
Bei offenen, komplexen Entscheidungen kann es in der Regel nicht die eine absolut richtige geben. Typisch für solche offenen Wahlsituationen sind etwa Konsumentscheidungen: Welches Produkt oder welches Gerät ist das beste für mich? Die Suche nach dem Maximum und die Jagd nach dem Allerbesten verhindert letztlich die Güte der Entscheidung – und den Genuss der gewählten Alternative: Man ist nie zufrieden, weil die Möglichkeit einer noch besseren Entscheidung immer im Raum bleibt. Wie der Psychologe Barry Schwartz zeigte, sollte das Ziel solcher offenen Entscheidungen das Satisfying sein –das Sichanfreunden und Zufriedensein mit der nach wirklich bestem Wissen irgendwann einmal getroffenen Wahl. In den meisten Fällen ist sie „gut genug“ und erspart uns Zeit und qualvolles weiteres Abwägen und Suchen. Offen und komplex ist beispielsweise auch jede Personalauswahl: Der Bewerber ist fantastisch – aber es gibt sicher einen noch besseren! Wer den Fantastischen laufen lässt und weiter sucht, ist selbst schuld. Dasselbe Prinzip gilt übrigens auch für die Partnerwahl …
Wie man Denkfehler in den Griff bekommt
Gute Entscheidungen, das zeigt die Forschung, sind nie auf den Moment der Wahl beschränkt, sondern immer das Ergebnis eines Prozesses. Das bedeutet nicht nur, dass man sich genügend Zeit nimmt, um Alternativen (und die eigene Motivation) zu prüfen, sondern auch mit einer gewissen Systematik vorgeht, was Recherche und Informationssuche betrifft. Bei Entscheidungen in Gruppen schließt der Prozess auch die Regeln der Entscheidungsprozedur mit ein: Werden die Stimmen der von einer Entscheidung Betroffenen gehört, ist der Prozess transparent und gerecht? Oder erliegt die Gruppe dem sogenannten groupthink – einer vorschnellen, falschen Übereinstimmung (weil man sich als Gruppe so toll findet oder weil man den ehrlichen Streit um die besten Ideen vermeiden will). „Prozess“ bedeutet keinesfalls endloses Debattieren und Hinauszögern – sondern ein Vorgehen, das einem das Gefühl gibt: Ich (wir) habe(n) alles versucht, um richtig oder gut zu entscheiden, besser geht’s halt nicht. Die Organisationsforschung hat jahrzehntelang wichtige und komplexe Entscheidungszyklen untersucht und kennt diese Faustregel: Gute Entscheidungsprozesse sind herkömmlichen Entscheidungsfindungen um das Sechsfache überlegen.
Auch wenn theoretisch alle Denk- und Urteilsfehler berücksichtigt werden müssten, um ausnahmslos bessere Entscheidungen treffen zu können, ist das meiste schon gewonnen, wenn wir vier besonders häufige und irreführende Denkfehler in den Griff bekommen:
Einrahmungseffekte: Wie sind die Entscheidungen formuliert, wie stellen sie sich uns dar? Erkennen wir falsche Scheinalternativen, fallen wir auf deren trickreiche Präsentation durch andere rein? (Vorschläge, die wir „nicht ablehnen können“.)
Selbstbestätigungseffekte: Sobald wir mental eine Vor-Entscheidung getroffen haben oder emotional bereits zu einer Alternative neigen, suchen wir nur noch nach Argumenten, die diese Tendenz untermauern. Der Prozess ist nicht mehr „offen“.
Kurzzeitiges Wohlgefühl: Wir treffen viele Entscheidungen, weil wir uns kurzfristig gut fühlen oder die Mühe eines längeren Entscheidungsprozesses vermeiden wollen.
Selbstüberschätzung: Wir erliegen dem Irrtum, wir wären clever, gut informiert, rational –kurz: wir wären gute Entscheider und wüssten fast immer, was gut für uns ist. Ein großer Irrtum! Entsprechend leichtfertig gehen wir manche Entscheidungen an.
Auf dieser Grundlage und in der Erkenntnis, dass alle vier „Tätergruppen“ im Gesamtpaket ausgeschaltet werden müssen (und können), entwickelten die Heaths eine plausible Strategie: Gute Entscheidungen folgen dem sogenannten WRAP-Prozess, vier aufeinanderfolgenden Schritten bei der Entscheidungsfindung: W steht für „Weiten der Wahlmöglichkeiten“, R für „Realitätsprüfung“, A für „Abstand gewinnen“, P für „Problemvorsorge“. Die beiden Entscheidungsforscher lassen sich dabei von der Metapher eines sehr beweglichen Suchscheinwerfers leiten: Das ganze Feld einer Entscheidung sollte jeweils ausgeleuchtet werden. So werden diese Entscheidungsräume buchstäblich begehbar, die Scheinwerfer erhellen die persönlichen und zeitlichen Dimensionen.
Der WRAP-Prozess im Detail:
Schritt 1
W wie Weiten der Wahlmöglichkeiten
Sie stehen vor einer Entscheidung und blicken auf die vorhandenen Alternativen. Nun müssen Sie zuerst den „Rahmeneffekt“, also einen zu engen Bezugsrahmen ausschalten: Lassen Sie Ihren Scheinwerfer bewusst schweifen, die weitere Umgebung beleuchten und andere Optionen erfassen: Wollen Sie in einer Firma bleiben – oder sich selbständig machen? Es ist also die Abwägung Sicherheit und Abhängigkeit versus Freiheit und Risiko. Tatsächlich sind die vorgegebenen oder gefundenen Alternativen kaum je die einzigen: So fand der Organisationsforscher Paul Nutt heraus, dass in Unternehmen auch bei wichtigen Entscheidungen nur in knapp drei von zehn Fällen mehr als eine Alternative auf der Agenda steht – mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.
Gegen diesen Tunnelblick hilft diese Grundregel: Suchen Sie immer das Und – geben Sie sich nie mit einem Entweder-dies-oder-das zufrieden! Folgen Sie dem praktischen Vorbild erfahrener Ärzte: „Und was könnte das Symptom sonst noch bedeuten?“, oder professioneller Journalisten am Ende eines Interviews: „Und was habe ich Wichtiges vergessen, Sie noch zu fragen?“
Für die Jobentscheidung könnte man beispielsweise nach Wegen suchen, ein Optimum an finanzieller Absicherung mit möglichst viel Freiheit zu kombinieren: Teilzeitverträge, Partnerschaften mit anderen Selbständigen, Teilbindung als „fester Freier“ und so weiter. Es kommt darauf an, die Sackgasse des Entweder-oder zu verlassen.
Bei jeder Entweder-oder-Entscheidung, so die Heath-Brüder, sollten bei Ihnen die „Alarmglocken“ läuten: Sind das wirklich die einzigen Alternativen bei dieser Wahl? Gibt es nicht noch weitere Optionen? Kann man das Getrennte vielleicht sogar verbinden oder mehrgleisig vorgehen?
Ausweiten bedeutet auch, sich auf bestimmte Weise zu informieren: Autokauf, Kindererziehung oder Studium, vor welcher Wahl Sie auch stehen: Holen Sie sich die Entscheidungshilfen bei Menschen, die dieses oder ein ähnliches Problem schon einmal – und zwar erfolgreich – gelöst haben. Fragen Sie gezielt im Freundes-, Kollegen- und Bekanntenkreis, konsultieren Sie die einschlägigen Erfahrungen, die in Büchern, im Internet oder „vor Ort“ zu finden sind.
Schritt 2
R wie Realitätsprüfung
Sie haben die Alternativen identifiziert, die Sie nun genauer analysieren müssen: Was ist gut für mich – oder nicht so gut? Was spricht für eine Entscheidungstendenz, die ich in mir spüre? In dieser Phase bekommen Sie es mit einer besonders mächtigen Gegenspielerin zu tun: der Selbstbestätigung (confirmation bias). Sie ist die Mutter aller Denkfehler. Sie tut alles, um Informationen so zurechtzubiegen und zu interpretieren, dass sie zu unseren Vorlieben, uneingestandenen Wünschen, Bequemlichkeiten oder Weltanschauungen passen. Oder sie blendet „unpassende“ Informationen gleich ganz aus und filtert die Fakten, die den Entschluss stören könnten. Sie haben sich im Grunde schon für eine Alternative oder eine Strategie entschieden? Dann sehen Sie in der Wirklichkeit auch nur noch das, was diese meist intuitiv-emotionalen, sympathischen Präferenzen stützt und zu ihnen passt. Das geschieht natürlich unbewusst: Die Intuition funktioniert nun wie eine Assoziationsmaschine, erzählt die Geschichte schlüssig weiter und sucht sich das Passende heraus. Ganz nach dem Motto: Ich recherchiere doch mein gutes Bauchgefühl nicht kaputt!
Der Sozialpsychologe Daniel Kahneman, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat sein Forscherleben lang solche Denkfehler und Entscheidungsheuristiken untersucht (siehe Kasten unten). Er geht davon aus, dass man diese selbstbestätigenden Denkfehler nie ganz ausschalten kann, sondern nur mehr oder weniger mindern – mit beträchtlichem bewusstem und dauerhaftem Aufwand. Eine wirklichkeitsnahe Entscheidungsfindung sollte uns jedoch diese Mühe wert sein. Das Grundprinzip dieses Kampfes lautet: Suchen Sie nachdrücklich und bewusst nach allem Gegenteiligen und Widersprüchlichem – also nach allen Informationen, die Ihre Präferenzen, Vorlieben oder Weltbilder infrage stellen, stark relativieren oder gar außer Kraft setzen könnten. Seien Sie Ihr eigener Advocatus Diaboli. Sie sind Christdemokrat und wollen keinen „Roten“ in Ihrer Firma einstellen? Sie halten alle Juristen prinzipiell für durchtrieben und geldgeil? Für Sie sind alle BWLer empathielose Karrieristen? Wenn solche Vorurteile Ihre Entscheidungen dominieren, müssen Sie die Brennweite Ihrer Scheinwerfer etwas genauer einstellen. Machen Sie Großaufnahmen, vergrößern Sie Details und suchen Sie bewusst nach Gegenbeweisen: Der Sozialdemokrat ist eigentlich ein wirklich tüchtiger und umgänglicher Bewerber, der Juraabsolvent offen und integer, der BWLer engagiert und keineswegs nur auf das Geld versessen.
Versuchen Sie zudem, die möglichen Folgen Ihrer Alternativen selbst zu erleben, so gut es geht: Strecken Sie Ihren Fuß ins Wasser, machen Sie kleine Ausflüge in die neue Realität, testen Sie Ihre Annahmen etwa in „Minipraktika“, experimentieren Sie! Sie wollen beruflich nicht in den klimatisch wie kommunikativ kalten Norden der Republik – auch wenn dort ein toller Job auf Sie wartet? Dann opfern Sie jeweils eine Woche Ihres Winter- wie Sommerurlaubes und probieren aus, wie sich der Norden im Alltag anfühlt. Mit anderen Worten: In schwierigen Entscheidungen sollten wir so unvoreingenommen wie möglich sein.
Schritt 3
A wie Abstand gewinnen vor der Entscheidung
In den Schritten 1 und 2 haben Sie das äußere Entscheidungsfeld genauer ausgeleuchtet und die Grundlagen für Ihre Wahl geschaffen. Sie haben qualitativ wichtige Alternativen erkundet und sich die notwendigen realitätsnahen und rationalen Informationen verschafft. Um nun zur endgültigen Entscheidung zu schreiten, müssen Sie sich aber von Ihren kurzfristig einflussreichen Emotionen lösen. Sie sollten zeitlich und persönlich aus der Situation heraustreten, sie von „außen“ oder von „oben“ betrachten und eine Distanz zu sich selbst aufbauen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben sich in den perfekten Mann, die perfekte Frau verliebt oder den Traumjob gefunden, der Sie vor allem endlich und dauerhaft Ihrer Geldsorgen enthebt. Bevor Sie nun aber das Aufgebot mit dem künftigen Vater, der künftigen Mutter Ihrer Kinder bestellen oder den Arbeitsvertrag endgültig unterschreiben, sollten Sie in der dritten Entscheidungsphase das praktizieren, was die Heaths mit „Abstand gewinnen“ bezeichnen und was der deutsche Psychologe Walter Braun die „motivationale Hintergrundkontrolle“ nennt: Der Scheinwerfer richtet sich nun auf Sie selbst – jetzt geht es um die Psychologie und Reflexion Ihrer eigenen Persönlichkeit.
Um zeitliche Distanz gegenüber den Verführungen des Augenblickes zu schaffen, ist oft die 10/10/10-Entscheidungsregel der Psychologin Suzy Welch besonders hilfreich: Wie wird es mir mit diesem (Ehe-)Partner in 10 Minuten gehen, wie in 10 Monaten – und wie in 10 Jahren? Wenn ich diesen Job übernehme, wie zufrieden bin ich dann nach 10 Minuten, nach 10 Monaten – und nach 10 Jahren? Probieren Sie es aus und sprechen Sie dabei mit sich selbst – laut und vernehmlich.
Um persönliche Distanz zu schaffen, stellen Sie sich die Frage: „Was würde ich in diesem Falle meinem besten Freund raten?“ Für die Gebrüder Heath ist diese Freundesfrage so bedeutungs- und wirkungsvoll, dass sie im Grunde bei jeder Entscheidung gestellt werden sollte. Im Geschäftsleben hat sie die Form: „Was würde mein Nachfolger in dieser Situation tun?“
In jedem Fall vollziehen Sie einen Distanzschaffenden Perspektivenwechsel, der Sie quasi automatisch mit Ihren innersten Überzeugungen, Werten, Prämissen und Einstellungen in Berührung bringt – mit allem also, was Ihnen im Leben wirklich wichtig und wertvoll ist. So versteht die Sozialpsychologin Sheena Iyengar von der Stanford University jede Entscheidung als „untrennbaren Bestandteil unserer Lebensgeschichte und damit unserer Identitäts- und Sinngebung“. Noch weiter ging die Psychologin Rebecca Schlegel von der University of Austin: Sie entdeckte in einer Reihe von Studien, dass wirklich zufriedenstellende Entscheidungen vom wahren Selbst stammen, dem unwandelbaren Kern unserer Persönlichkeit. Dieses wahre Selbst fungiert auch als „innerer Lebens- und Entscheidungskompass“. Da dieses wahre Selbst und das Alltags- oder Real-Ich nur zu 40 Prozent übereinstimmen – wir verhalten uns nach außen oft anders, als wir „drinnen“ wirklich sind –, rät Schlegel nachdrücklich, auf den günstigen „inneren Zeitpunkt“ zu achten und wichtige Entscheidungen nur dann zu treffen, wenn wir das sichere Gefühl haben, mit uns wirklich im Einklang zu sein.
Die Frage, was wir uns selbst als bestem Freund raten würden, weist so gesehen auf die innere Stimme des wahren Selbst – sicher die wichtigste aller intuitiven Stimmen. Gehört werden sollte sie unbedingt bei allen existenziellen Entscheidungen oder Entscheidungskonflikten: Welches Leben will ich führen? Wie will ich arbeiten? Mit wem will ich meine Zeit verbringen? Meine Umgebung – und meine Noten – sprechen zwar für ein privilegiertes Studium, das mir Karriere, Wohlstand und jede Menge gesellschaftliche Anerkennung sichern würde. Aber will ich diese Karriere und diese Identität wirklich: als Staranwalt etwa milliardenschwere Lobbyisten oder andere rechtliche Grenzgänger gegen jeden guten Geist der (Menschen-)Rechte „verteidigen“? Oder ist es nicht eher mein Ding, für eine gute und gerechte Sache zu kämpfen, auch wenn ich dabei auf Reichtum verzichten muss? Und vielleicht ist auch eine prekäre Künstlerexistenz sogar das, was mich wirklich glücklich machen würde. Die innere Stimme weiß Freundesrat.
Bestätigung für dieses Herangehen an existenziell wichtige Entscheidungen liefert auch die Selbstbestimmungstheorie (self-determination theory), die von Edward Deci und Richard Ryan, den Erforschern der intrinsischen Motivation, in den 1990er Jahren begründet wurde. Sie wiesen nach, dass die extrinsischen Bestrebungen und Lebensziele wie etwa Wohlstand, Ruhm oder Attraktivität langfristig nur wenig zu Lebensglück und Wohlbefinden beitragen. Sehr häufig sind diese Ziele nur erreichbar unter Verleugnung wichtiger Werte oder authentischer Ziele. Persönliches Wachstum, dauerhafte und beglückende Beziehungen und seelische Gesundheit setzen die Befriedigung intrinsischer menschlicher Grundbedürfnisse voraus – vor allem der nach Intimität und engen Sozialkontakten, Kompetenz (im Sinne von Ausleben der eigenen Talente) und Autonomie (im Sinne von Freiheit und Selbstbestimmung, etwa über das eigene Zeitbudget). Diese entsprechen dem intrinsisch-authentischen Selbst – wir bleiben uns selbst treu, auch und gerade in unseren Wahlen und Entscheidungen.
Schritt 4
P wie Problemvorsorge
Mit einer getroffenen Wahl ist für die meisten Menschen das Thema Entscheidung beendet. Für die Gebrüder Heath und andere Entscheidungsforscher beginnt es damit aber eigentlich erst richtig, weil der Entscheidungsprozess aus Kopf und Herz (oder Bauch) in die Wirklichkeit übergeht: Sie haben sich nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, aber ab sofort müssen Sie auch mit den Folgen und eventuellen Irrtümern leben können: prepare to be wrong– stellen Sie sich darauf ein, mit Ihrer Entscheidung danebenzuliegen! Sie wissen definitiv nicht, was die Zukunft bringt. Bereiten Sie sich so gut wie möglich darauf vor, dass sich die Dinge wohl nie ganz so reibungslos entwickeln, wie es den Anschein hatte: „Kein Plan“, wusste schon der preußische Generalstabschef von Moltke, „überlebt die erste Feindberührung.“
Das wichtigste Hilfsmittel ist die von Denk- und Intuitionsforscher Gary Klein stammende Premortem-Methode: „Sie sind ein Jahr in der Zukunft. Sie haben Ihren Plan umgesetzt, das Ergebnis ist aber eine Katastrophe. Schreiben Sie in fünf bis zehn Minuten eine kurze Geschichte, warum es dazu kam!“ Nutzen Sie die Erkenntnisse aus dieser Katastrophenstory – oder anderen Szenarien –, um so etwas wie Sicherheitskriterien zu definieren, Sicherheitszonen einzuführen und regelmäßige Prozesschecks durchzuführen. Erkundigen Sie sich bei Menschen mit entsprechenden Erfahrungen, was alles schieflaufen kann und tatsächlich falsch gelaufen ist. Die Heaths empfehlen, sich selbst „Stolperdrähte“ zu spannen, die Sie an Ihre Entscheidung und Ihre aktuelle Entwicklung erinnern: Bin ich noch „dran“ am Entscheidungsprozess – oder lasse ich mich von Nebensächlichkeiten ablenken?
Aber selbst wenn einige Ihrer Entscheidungen zu keinem allzu erfreulichen Ende geführt haben sollten: Wirklich bereuen müssen Sie es letztlich nicht. Scheitern gehört zu unserem Dasein – und kann eine äußerst ergiebige Lernquelle sein. Wenn das Ganze gut vorbereitet und reflektiert war, verblassen Ärger, Frust und Trauer relativ schnell – und irgendetwas Brauchbares und Sinnvolles war sicher auch dabei. Der mit hohen Erwartungen verknüpfte Auslandsaufenthalt in Barcelona war beruflich zwar ein großes Missverständnis – aber immerhin konnten Sie eine andere Lebensweise kennenlernen, Sie haben großartige Museen und Konzerte besucht und haben – bei genauer Betrachtung – viel gelernt, vor allem auch über sich selbst. Gefühle des wirklichen Scheiterns, mitunter auch der Schuld und der Reue entstehen viel eher aus Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben: Die sind unwiderruflich perdu, nicht wiedergutzumachen – eine niemals mehr zu füllende Leerstelle unseres Lebens.
Kopf oder Bauch: Wer ist der bessere Entscheider?
Der Kognitionspsychologe Daniel Kahneman unterscheidet in seiner Erforschung menschlicher Denk-, Urteils- und Entscheidungsfehler das „System 1“ vom „System 2“. System 1 ist zuständig für den mühelosen, enorm schnellen, assoziativ-intuitiven Denkmodus, System 2 dagegen für das mühevolle, zeitraubende logisch-rationale und reflektierte Denken. Beide Systeme sind auf ihre Art brillant wie fehleranfällig: Die erfahrungsgetränkten Bauchgefühle der Intuition sind zwar ganzheitlich und rund um die Uhr tätig, entwickeln dabei aber einen fatalen Hang zu realitätsverzerrender Oberflächlichkeit und Faktenignoranz. Die rationale Logik des Kopfes wiederum ist präzise und detailgenau, aber nie dauerhaft einsetzbar und mit dem Versuch, der Komplexität aller Fakten gerecht zu werden, völlig überfordert. Kurz: Die Alternative „Intuition oder Ratio?“ ist unsinnig – wir brauchen das Beste beider Systeme, eine gelungene Synthese.
Der Dissens darüber, dass ein System dem anderen überlegen sei, ist seit der Kooperation von Kahneman mit seinem Kritiker, dem Intuitionsforscher Gary Klein, auch wissenschaftlich beigelegt. 2009 definierten die beiden nach vielen Diskussionen und Analysen in einem gemeinsamen Artikel zwei Bedingungen für professionelle Expertise und Intuition: eine „Umgebung, die hinreichend regelmäßig ist, um vorhersagbar zu sein“ sowie eine „Gelegenheit, diese Regelmäßigkeiten durch langjährige Übung zu erlernen“. Nur wenn beide Bedingungen gegeben sind, kann sich eine meisterliche Intuition und – wie bei Schachspielern – hochkomplexe, schnell abrufbare Mustererkennung entwickeln.
Verlassen Sie sich also nur dann auf Ihre Bauchgefühle, wenn Sie auf dem jeweiligen Gebiet so erfahren sind, dass Sie viele ähnliche Entscheidungen getroffen und deren Ergebnisse überprüft haben. Kahneman formulierte aufgrund des Befundes einer siebenjährigen Langzeitstudie mit Vermögensberatern, die mit ihren Aktienempfehlungen insgesamt nicht besser abschnitten als der Zufall, die These, dass Intuition in einem nicht berechenbaren, regellosen Umfeld vollkommen wertlos ist.
Kahneman ist unter den Urteils-, Denk- und Entscheidungsforschern der gekrönte König: Er begründete in den späten 1960er Jahren zusammen mit dem 1996 verstorbenen Amos Tversky die systematische Erforschung der Urteilsheuristiken (also aller alltäglichen Faustregeln und Entscheidungsmethoden) und stieß bald auf eine Vielzahl von Verzerrungen (biases) unserer Urteils- und Denkfähigkeit. Den aktuellen Stand der Entscheidungs- und Denkforschung gibt sein 2011 erschienenes Meisterwerk Thinking, fast and slow von 2011 wieder (deutsch: Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler, München2012). Es gilt bei allen Sozial-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaftlern als Bibel der Denkforschung und ist eine komplette Bestandsaufnahme aller Entscheidungsfehler.
Literatur
Walter Braun: Die (Psycho-)Logik der Entscheidung. Fallstricke, Strategien und Techniken im Umgang mit schwierigen Situationen. Hans Huber, Bern 2010
Chip Heath, Dan Heath: Decisive. How to make better choices in life and work. Crown Business (Random House), New York 2014
Sheena Iyengar: The art of choosing. Twelve, New York 2012
Helmut Jungermann, Hans-Rüdiger Pfister, Katrin Fischer: Die Psychologie der Entscheidung. Eine Einführung, 3. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2010
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. Pantheon, München 2014
Daniel Kahneman, Gary Klein: Conditions for intuitive expertise. A failure to disagree. American Psychologist, September 2009, 515–526. DOI: 10.1037/a0016755
Gary Klein: Streetlights and shadows: Searching for the keys to adaptive decision making. MIT Press, Cambridge/MA 2009
Rebecca Schlegel: The dynamic interplay between perceived true self-knowledge and decision satisfaction. Journal of Personality and Social Psychology, 2013, 104, 542–558. DOI: 10.1037/a0031183