Welchen Song von Bob Dylan sie als Erstes gehört hat, kann Birte Ebermann heute nicht mehr sagen. 14 Jahre alt war sie damals, in ihrem Regal zig Platten von den Beatles. „Die Bandmitglieder waren beeindruckt von Bob Dylan. Ich habe mich dann gefragt: Wer ist das denn?“, sagt sie. Ebermann besorgte sich Platten des Musikers und war fasziniert: von den Melodien, der Stimme, der Instrumentierung. Und von den Texten.
„Ich habe mich schon vorher sehr dafür interessiert, was die Bands, die ich gehört habe, da…
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die Bands, die ich gehört habe, da genau singen“, sagt sie. „Mit 12 habe ich vor dem Kassettenrekorder gehangen, immer wieder zurückgespult und auf dem Zettel mitgeschrieben, was ich verstanden hatte.“ Inzwischen ist Birte Ebermann 45 Jahre alt, ihre tiefe Verbundenheit zu der US-amerikanischen Folkrocklegende besteht bis heute. „Er entwirft mit seinen Texten lyrische Gemälde, die nicht immer eindeutig sind, sondern Raum für Interpretationen geben. Darin ist etwas, was mich berührt, auch wenn ich nicht alles verstehe – wie bei abstrakter Malerei.“
Für besonders musikalisch hält die Kulturwissenschaftlerin aus Uelzen sich nicht. Dennoch ist Musik ein zentraler Bestandteil ihres Lebens – ähnlich wie für viele Millionen Menschen hierzulande. Fast drei Stunden hören wir im Schnitt täglich Musik – auf diesen Wert kommt eine Erhebung der Universität Hamburg aus dem Jahr 2020.
Stütze in Lebens- und Liebeskrisen
Viele der Befragten gaben an, auch auf die Liedinhalte zu achten oder die Songs sogar danach auszuwählen. Auf unzähligen Internetseiten lassen sich heute Millionen von Texten nachlesen, von dem Bluesmusiker Ali Farka Touré aus Mali bis zu den Zillertaler Schürzenjägern. Das Interesse an Songtexten ist immens: Auf Google zählt lyrics zu den häufigsten Suchbegriffen und liegt in den USA 2021 sogar vor coronavirus.
Liedinhalte können uns beglücken oder traurig machen, uns Hoffnung geben oder zum Nachdenken anregen. Sie stützen uns in Lebens- und Liebeskrisen. Wie viele Jugendliche haben wohl in den 1980er Jahren mit der Band Die Ärzte („Eines Tages werd ich mich rächen, ich werd die Herzen aller Mädchen brechen“) die erste verflossene Liebe verdaut?
Wie viele Endvierziger suchen heute in ähnlichen Situationen Trost bei Element Of Crime („Am liebsten wär ich ein Astronaut und flöge auf Sterne, wo gar nichts vertraut und versaut ist durch eine Berührung von dir“)? Wenn Freddy Mercury The Show Must Go On singt, artikuliert er unseren Durchhaltewillen, entgegen allen Umständen, ob Krankheit oder Jobverlust. Danger Dans Lied Lauf davon öffnet uns die Augen dafür, dass wir nicht Gefangene, sondern Gestalter unseres Lebens sind.
Prosoziale Playlists und Fair-Trade-Kaffee
Manche Zeilen bleiben uns jahrzehntelang im Gedächtnis. Und vielleicht verändern sie uns auch ein Stück weit. Vor einigen Jahren hat der Musikwissenschaftler Nicolas Ruth, der an der Universität Hamburg forscht, in einem gutbesuchten Café in Würzburg ein einfaches Experiment durchgeführt. Er bat das Personal, hintereinander zwei Playlists abzuspielen, die er zuvor zusammengestellt hatte.
Die eine enthielt Stücke, die sich gegen soziale Ungleichheit, Vorurteile und Krieg wenden – darunter Pinks Dear Mr. President, Michael Jacksons Heal the World oder Imagine von John Lennon. Die Lieder auf der zweiten Liste stammten von denselben Interpreten, hatten aber einen neutralen Inhalt. Ruth machte eine interessante Beobachtung: Wenn die prosoziale Playlist lief, bestellten die Kunden häufiger Fair-Trade-Kaffee, als wenn sie mit der neutralen Musik beschallt wurden.
Die Musik, die wir hören, scheint also einen Einfluss auf unser Verhalten zu haben. Wie viel von diesem Effekt tatsächlich auf die Texte zurückzuführen ist, kann Ruths Studie jedoch nicht zweifelsfrei beantworten. Zwar stammten die Stücke in beiden Playlists von denselben Interpreten.
Dennoch unterschieden sie sich in Rhythmik und Geschwindigkeit – das „neutrale“ Michael-Jackson-Stück Dirty Diana klingt eben ganz anders als Heal the World. Im vergangenen Jahr hat Ruth daher eine ähnliche Studie mit einem eigens komponierten Song durchgeführt, bei dem er lediglich den Text variierte. Darin konnte er keine Auswirkungen des Inhalts auf das Verhalten der Hörerinnen und Hörer feststellen.
Zusammenhang mit aggressivem Verhalten
Untersuchungen wie diese, in denen sich nur die Texte unterscheiden, sind allerdings bislang rar. Auch wenn man die Forschungsergebnisse, die es bisher gibt, mit etwas Vorsicht interpretieren sollte: Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Befunden, die einen Zusammenhang zwischen Songinhalten und Verhalten nahelegen, allerdings bislang nur kurzfristige Effekte wie in Ruths Caféstudie: Die Kunden kauften zwar während der Beschallung mit prosozialer Musik mehr fair gehandelten Kaffee. Wie lange dieser Effekt anhielt, beantwortet das Experiment nicht. Aber kann uns, was wir hören, überhaupt nachhaltig prägen und verändern?
Die These, dass unser Musikkonsum uns langfristig beeinflusst, ist nicht neu – vor allem wenn es um mögliche negative Wirkungen geht. „Nach dem Amoklauf an der Columbine High School 1999 hieß es beispielsweise: Die böse Musik von Marilyn Manson, Slipknot und Konsorten, die von den Tätern angeblich gehört wurde, macht Jugendliche gewalttätig“, erinnert sich Musikwissenschaftler Ruth.
Tatsächlich gibt es Langzeitstudien, die diesen Zusammenhang stützen. Eine davon stammt von den US-Psychologinnen Sarah Coyne und Laura Padilla-Walker. Sie befragten 2015 rund 500 Jugendliche zu ihren Lieblingsbands. Diejenigen Mädchen und Jungen, die Künstler mit aggressiven Texten bevorzugten, gaben ein Jahr später häufiger zu Protokoll, sich selbst aggressiv zu verhalten. Und zwar unabhängig davon, wie streitbar sie zu Beginn der Studie gewesen waren.
Gangsta-Rap und Frauenfeindlichkeit
Allerdings wählen wir unsere Musik auch danach aus, wie sehr sie zu uns passt. Es kann also sein, dass die Texte, die wir hören, uns nicht grundsätzlich verändern, sondern nur die Neigungen verstärken, die ohnehin schon in uns schlummern. „Vermutlich ist es ein Zusammenspiel aus beidem“, meint Marc Grimm von der Universität Bielefeld.
Der Jugendforscher ist Mitarbeiter in einem Projekt, das mögliche Auswirkungen des Konsums von Gangsta-Rap auf die Einstellungen der Hörerinnen und Hörer analysiert. Dazu haben die Beteiligten eine repräsentative Stichprobe von 500 Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 24 Jahren aus Nordrhein-Westfalen untersucht. Das Ergebnis fiel deutlich aus: Wer gerne Gangsta-Rap hört, ist im Schnitt antisemitischer und frauenfeindlicher.
„Diese Beobachtung belegt nicht, dass die Musik ursächlich dafür verantwortlich ist“, betont Grimm. „Es kann auch sein, dass Menschen mit antisemitischer Haltung einfach lieber Gangsta-Rap hören.“ Er geht aber davon aus, dass die Musik judenfeindliche Einstellungen mit verursacht. „Die Songs bieten politische Informiertheit an, die relativ einfach zu haben ist. Man muss dafür keine Bücher lesen, sondern nur auf die Texte achten“, sagt er.
Damit verbunden sei eine vermeintlich moralische Aufwertung: Ich kritisiere die Besatzermacht Israel; ich stehe auf der Seite der Guten. „Widersprüche haben in diesem bipolaren Weltbild keinen Platz. Dass dieses Angebot bei einem längerfristigen Konsum keine Spuren hinterlässt, halte ich für unwahrscheinlich.“
Musikgeschmack ist Teil der Identität
„Musik hat einen enormen Effekt, gerade auf Jüngere“, ist auch der Hamburger Musikwissenschaftler Nicolas Ruth überzeugt. „Damit meine ich allerdings nicht das passive Musikhören – wenn Jugendliche beim Videospiel die Playlist anwerfen und sich mit Gangsta-Rap-Songs berieseln lassen.“ Für viele Hörerinnen und Hörer ist Musik weit mehr: Sie setzen sich intensiv mit den Liedern und ihren Texten auseinander, oft auch mit dem Leben der Künstler, die sie besonders ansprechen.
Was sie hören, ist Teil ihrer Identität: Ihr Musikgeschmack bringt zum Ausdruck, wie sie sich sehen, mit welchen Ideen und Werten sie sich identifizieren. Gleichzeitig schaffen Lieder ein Gefühl der Zugehörigkeit: Wer meine Musik hört, der denkt und fühlt in vielen Punkten ähnlich wie ich. „Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste, was Musik bewirkt: Sie kann Menschen verbinden“, sagt Birte Ebermann.
Vielleicht ist es gerade dieser Punkt, der Musik bei umstrittenen Politikern mitunter so unbeliebt macht: dass sie ein Gemeinschaftsgefühl entstehen lässt und Texte das Bewusstsein schaffen können, mit der eigenen Kritik an den Verhältnissen im Land nicht allein zu stehen.
So versammelten sich die Menschen in Belarus zu Beginn der Proteste gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko zu spontanen Konzerten, um dort gemeinsam Volkslieder zu singen. Die Dirigentin eines Chores, der auf Demonstrationen Protestsongs vortrug, wurde zwischenzeitlich festgenommen. Auch die Mitglieder der russischen regierungskritischen Punkband Pussy Riot mussten wiederholt ins Gefängnis. Die Liste ließe sich beliebig mit Beispielen aus aller Welt verlängern.
Macht der Musik
„Diktaturen leben von einer vermeintlichen Einheit“, erklärt der Politikdidaktiker Hans-Werner Kuhn von der Pädagogischen Hochschule Freiburg, der lange Zeit das Projekt Musik und Politik bei der Bundeszentrale für politische Bildung geleitet hat. Einerseits haben repressive Regime die Macht der Musik selbst erkannt, nutzen Militärmärsche, Hymnen und Lieder für ihre Jugendorganisationen, um die Einheit zu stärken und sich nach außen abzugrenzen. Andererseits kann Musik aber auch Andersdenkende hinter sich versammeln und so das System ein Stück weit infrage stellen. „Und da machen Diktaturen dann sehr schnell den Deckel drauf“, sagt Kuhn.
Um zum Leitmotiv einer Protestbewegung zu werden, benötigen Songs nicht einmal unbedingt einen Text. Als Jimi Hendrix in Woodstock The Star Spangled Banner spielte, verwandelte er die amerikanische Nationalhymne in eine Anklage gegen den Vietnamkrieg, die wohl alle Anwesenden verstanden, ohne dass es dazu irgendwelcher Worte bedurft hätte. Anderen einflussreichen Protestliedern gelang es, ihr Anliegen in eine griffige Zeile zu packen, die sich in das kollektive Gedächtnis einbrannte: We shall overcome. Oder: This land is your land. Und: Say it loud, I’m black and I’m proud.
Musik kann versprengten Einzelkämpfern das Bewusstsein vermitteln, Teil einer größeren Bewegung zu sein.
Der Protestsongcontest in Wien
Zugleich kann sie unseren Horizont erweitern. Vielleicht erklärt das auch den Erfolg einer Veranstaltung, die jedes Jahr am 12. Februar in Wien stattfindet und inzwischen über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt ist. Premiere hatte der „Protestsongcontest“ 2004 im Wiener Rabenhoftheater. „
Damals jährte sich der österreichische Bürgerkrieg zum 70. Mal“, erklärt der Theaterwissenschaftler Gerald Stocker. „Gleichzeitig waren wir wieder in einer politisch schwierigen Phase. Jeden Donnerstag gingen in Wien die Menschen auf die Straße, um gegen die Koalition von ÖVP und der rechtspopulistischen FPÖ zu demonstrieren. Wir haben uns dann überlegt, wie wir dem Protest eine Bühne bieten können.“
Stocker startete zusammen mit Freunden und einem Radiosender einen Aufruf an Musikschaffende: Sie sollten Stücke über das schreiben, was sie auf dem Herzen hatten – ganz egal ob das nun die schwarz-blaue Regierung war, die Umweltverschmutzung oder Tierversuche. Die Idee traf augenscheinlich einen Nerv: Rund 300 Einsendungen gingen ein.
Songs als Saat, die Wurzeln treiben kann
„Komplett unterschiedliche Acts, von Punk bis Mundharmonika“, erinnert sich Stocker. Mit den zehn Finalisten gab es dann ein großes Livekonzert. Was als Einmalaktion geplant war, hat sich bis heute erhalten. „Wir hatten schon alle erdenklichen Themen und Musikstile, nachdenkliche Lieder, absurde oder revolutionäre, auf Deutsch, Englisch, Arabisch oder Kroatisch“, sagt Stocker.
Er glaubt, dass Protest für die Demokratie wichtig ist. Musik ist für ihn ein Medium mit einer besonderen Kraft, da in ihr Text und Musik zusammenkommen und einander ergänzen. „Klar, wir bekehren hier gewissermaßen den Papst zum Katholizismus“, gibt er zu. Songs könnten nicht die Welt verändern, zumindest nicht von heute auf morgen. Aus Stockers Sicht können sie aber für neue Themen sensibilisieren und so möglicherweise langfristig etwas bewirken. Sie seien eine Saat, die langsam Wurzeln treibt und unter den passenden Umständen irgendwann aufgehen kann.
Literatur
Studie zur Zukunft der Musiknutzung 2018-2020: Ergebnisse der fünften von sechs Stufen der Panelbefragung; September 2020; https://www.uni-hamburg.de/newsroom/forschung/2020/0922-musikstudie.html
Antisemitismus im Gangsta Rap; Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) der Universität Bielefeld; https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/zpi/projekte/antisemitismus-gangsta-rap/
Sarah M. Coyne und Laura M. Padilla-Walker: Sex, violence, & Rock n' Roll: Longitudinal effects of music on aggression, sex, and prosocial behavior during adolescence. Journal of Adolescence, 41, 2015, 96-104. DOI: 10.1016/j.adolescence.2015.03.002.
Tobias Greitemeyer: Exposure to music with prosocial lyrics reduces aggression: First evidence and test of the underlying mechanism. Journal of Experimental Social Psychology, 47/1, 2011, , 28-36. DOI: 10.1016/j.jesp.2010.08.005
Stephanie Pieschl und Simon Fegers: Violent Lyrics = Aggressive Listeners? Effects of Song Lyrics and Tempo on Cognition, Affect, and Self-Reported Arousal. Journal of Media Psychology, 28/1, 2016, 32–41. DOI: 10.1027/1864-1105/a000144
Helmut Rösing: 9/11: Wie politisch kann Musik sein? In: Dietrich Helms (Hrsg.): 9/11 – The world’s all out of tune. transcript-Verlag Bielefeld, 2004, 155-168
Nicolas Ruth und Holger Schramm: Effects of prosocial lyrics and musical production elements on emotions, thoughts and behavior. Psychology of Music, 2020. DOI: 10.1177/0305735620902534
Nicolas Ruth: „Heal the World”: A field experiment on the effects of music with prosocial lyrics on prosocial behavior. Psychology of Music, 45/2, 2017, 298-304. DOI: 10.1177/0305735616652226
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