PSYCHOLOGIE HEUTE Frau Dr. Ritter, arbeiten Sie an Ihrem Institut gelegentlich mit Gruppen-Brainstorming?
SIMONE RITTER Das wäre naheliegend. Brainstorming ist die bekannteste und beliebteste Kreativitätsmethode überhaupt. Ihr Erfinder, der Werbefachmann Alex Osborn, hat einmal behauptet, sie sei doppelt so effektiv wie alles andere.
PH Und? Stimmt das?
RITTER Fast alle Studien zeigen, dass diese Behauptung falsch ist. Anfangs hat das niemanden so richtig interessiert. Aber dann kamen die…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
hat das niemanden so richtig interessiert. Aber dann kamen die ersten Metaanalysen mit recht eindeutigen Ergebnissen: Man bekommt deutlich mehr Ideen – und deutlich bessere –, wenn man zunächst jeden für sich allein brainstormen lässt und erst dann in die Gruppe geht und alles zusammenfügt. Das ist im Übrigen auch die Methode, mit der wir an unserem Institut gelegentlich arbeiten.
PH Noch einmal zum Mitschreiben: Gruppen-Brainstorming ist Unfug?
RITTER Na ja, Unfug ist jetzt nicht genau das Wort, das ich wählen würde. Aber fest steht: Wenn man gleich in der Gruppe mit Brainstorming anfängt, schießt man sich in der Regel viel zu schnell auf bestimmte Ideen ein. Dabei geht eine Menge Potenzial verloren. Und das geschieht eben nicht, wenn sich jeder erst ein paar Minuten lang für sich allein seine Gedanken macht. Das ist nicht teuer: Papier und Bleistift genügen. Trotzdem habe ich nicht den Eindruck, dass diese Methode schon sehr häufig angewendet wird.
PH Was kann man noch tun, wenn man in einem Team kreativ sein möchte?
RITTER Inzwischen arbeiten Forscher an diversen Varianten. Es gibt zum Beispiel Techniken für eine Art Computer-Brainstorming, wo die Notizen der einzelnen Teilnehmer direkt auf gemeinsamen Bildschirmen erscheinen. Oder man notiert seine Ideen auf Papier – und auf ein Signal hin wird jeder Zettel einfach an den Nachbarn weitergereicht. Man liest, was der Kollege oder die Kollegin geschrieben hat, und spinnt den Gedanken für sich weiter. Oder man bittet seine Mitarbeiter, sich vorher zu Hause Gedanken zu machen. In der Praxis läuft das aber meist so, wie wir das aus unserer Schulzeit kennen: Ein paar Leute machen ihre Hausaufgaben, andere machen sie gar nicht oder schreiben sie kurz vor dem Unterricht von ihrem Nachbarn ab.
PH Bisher haben wir über Kreativität in der Gruppe gesprochen. Ihre Arbeit beschäftigt sich allerdings mehr mit dem schöpferischen Individuum. Manche Menschen scheinen kreativer zu sein als andere. Sie haben eine Methode gefunden, diese Unterschiede im Gehirn sichtbar zu machen.
RITTER Genau. Wir geben unseren Testpersonen eine bestimmte Aufgabe, bei der man ein bisschen rumspinnen muss, um zu guten Lösungen zu kommen. Dabei sieht man recht schnell, dass manche Testpersonen deutlich kreativer sind als andere. Unsere Frage war nun: Wo finden wir die entsprechenden Unterschiede im Gehirn? Und tatsächlich gibt es solche Unterschiede, nämlich im sogenannten Default Mode Network. Das ist ein Netzwerk, das sich über mehrere Gehirnareale erstreckt. Es ist immer dann aktiv, wenn unsere bewusste Aufmerksamkeit nicht auf ein bestimmtes Problem gerichtet ist. Etwa wenn wir tagträumen und einfach unseren Gedanken nachhängen. Forscher glauben, dass unbewusste Prozesse in diesem Netzwerk verarbeitet werden. Jedenfalls konnten wir in unserer Studie zeigen, dass dieses Default Mode Network bei kreativen Menschen stärker ausgeprägt ist. Das ist zwar kein Beweis, aber ganz sicher ein Hinweis darauf, dass unbewusste Prozesse in der Kreativität eine gewisse Rolle spielen.
PH Bleibt die Frage: Wie lässt sich Kreativität steigern? Und wenn ja: Welche Methoden funktionieren – und welche nicht?
RITTER Zu dieser Frage gibt es eine relativ aktuelle Metastudie. An den Ergebnissen kann man sehen, dass sehr strukturierte Techniken zuverlässiger zu Erfolgen führen. Das entspricht auch meiner Erfahrung als Trainerin. Die Leute können mit ganz konkreten Handlungsanweisungen einfach mehr anfangen. Etwa mit der Reverse Assumption-Technik.
PH Was genau ist das?
RITTER Sagen wir: Eine Gruppe von Designern hat das Ziel, eine neue Art von Wecker zu erfinden. Dann fragt sich die Gruppe: Was sind meine Annahmen über einen Wecker? Zum Beispiel: Man macht ihn mit der Hand aus. Oder: Er steht auf meinem Nachttisch. Im zweiten Schritt schaue ich: Wie kann ich das Gegenteil davon annehmen? Etwa: Statt mit der Hand ausmachen – nicht mit der Hand ausmachen. Er steht auf dem Nachttisch – er steht nicht auf dem Nachttisch. Und im dritten Schritt schaue ich dann: Wenn er nicht auf dem Nachttisch steht – wo steht er dann? Tja. Vielleicht steht er auf dem Boden. Und wenn ich ihn nicht mit der Hand ausmache – vielleicht mit dem Fuß? Und dann käme man im nächsten Schritt auf die Lösung: Der Wecker ist eine Art Teppich. Er hört erst auf zu klingeln, wenn man auf ihm steht …
PH … und zwar mit beiden Füßen!
RITTER Genau, mit beiden Füßen! Das wäre etwas Neues, oder nicht? So jedenfalls funktioniert die Technik der „umgekehrten Vermutung“, mit der man sehr schnell und recht zuverlässig zu verblüffenden Ergebnissen gelangt.
PH Und welche Technik funktioniert nicht? In Frauenzeitschriften liest man zum Beispiel gerne den Tipp: „Ziehen Sie Analogien! Schon wird aus dem Kugelschreiber ein Deoroller!“
RITTER Ja, das klingt super. Man liest es und denkt: Natürlich! Kugelschreiber, Deoroller – auf die Idee wäre ich auch gekommen. Aber es dann tatsächlich zu machen, ist wahnsinnig schwer. Eigentlich kein Wunder, dass es als Lehrmethode nicht gut funktioniert.
PH Gibt es denn eine allgemeingültige Definition von Kreativität?
RITTER Es gibt zumindest eine Formel, auf die sich die meisten Experten geeinigt haben. Kreativ ist etwas, das zugleich neu und brauchbar ist.
PH Wie misst man Kreativiät?
RITTER Es gibt da eine Reihe von Tests. Am gebräuchlichsten ist die Alternative Uses Task: Man zeigt den Leuten einen Backstein und fragt: Was kann man damit alles machen? Und dann zählt man, wie viele Antworten man bekommt und wie originell die Antworten sind. Mit dieser Methode arbeiten Psychologen schon seit den 1960er Jahren.
PH Zufall, dass Sie jetzt den Backstein als Beispiel genannt haben?
RITTER Nein, tatsächlich ist das die Frage, die mit Abstand am häufigsten gestellt wird. Deshalb spricht man unter Psychologen auch vom Brick Task. Eigentlich total langweilig. Aber der Backstein wurde schon so häufig in Experimenten abgefragt – da weiß man sehr genau, welche Antworten kommen können, und hat deshalb weniger Probleme mit der Auswertung.
PH Reden wir ein wenig über Theorie. Sie schreiben in Ihrer Arbeit immer wieder über die Phase der „Inkubation“. Das ist die Zeit, in der man eine neue Idee sozusagen ausbrütet. In der das Unbewusste arbeitet – um uns dann irgendwann mit guten Lösungen zu überraschen.
RITTER Richtig. Dieses Phänomen ist ja nicht gerade neu. Archimedes hat das vor mehr als 2000 Jahren erlebt. Sein Problem war: Er sollte herausfinden, ob die neue Krone seines Königs tatsächlich aus purem Gold war. Die Lösung fiel ihm ein, als er sich eine Denkpause verordnete und ein Bad in der Wanne nahm.
PH Er soll vor Begeisterung splitternackt durch Syrakus gerannt sein und immer wieder „Heureka“ („Ich hab’s gefunden“) gebrüllt haben.
RITTER So ist es, diese Anekdote wird sehr häufig zitiert. Sie kann einen aber in die Irre führen. Sie scheint uns nämlich zu sagen: Hey, du kannst total kreativ sein, selbst wenn du den ganzen Tag Shoppen gehst oder in der Badewanne liegst. Das ist natürlich Unsinn. Man braucht Wissen, um so einen Heureka-Moment zu erleben. Man muss sich intensiv mit seinem Thema beschäftigt haben. Das ist die eine Seite. Die andere sieht so aus: Wenn man in seiner Arbeit nicht weiterkommt, ist es sehr ratsam, die Sache ruhen zu lassen und sich mit etwas ganz anderem zu beschäftigen. Dann verbinden sich im Gehirn Wissensgebiete miteinander, die in unserem bewussten Denken voneinander getrennt sind. Die Forschungsliteratur nennt das Spreading Activation. Es findet also eine breitere Aktivierung von Gehirnarealen statt.
PH Sie haben diese Annahme experimentell überprüft. Sie gaben allen Probanden dieselbe Kreativaufgabe. Aber bei einem Teil der Versuchspersonen wurde dieser Prozess unterbrochen, die Probanden wurden durch eine andere Aufgabe abgelenkt und durften erst danach wieder zur Kreativarbeit zurückkehren. Was ist dabei herausgekommen?
RITTER Da muss ich zuerst eine Kleinigkeit vorausschicken. Wir begreifen Kreativität ja als zweistufigen Prozess. Am Anfang steht das Generieren von Ideen, das Brainstorming, wenn Sie so wollen. Man notiert alles, was einem einfällt. Im zweiten Schritt wählt man aus, welche Ideen man besonders brauchbar findet. Dieser zweite Schritt wird in der Forschungsliteratur kaum beachtet. Dabei ist er meiner Meinung nach ganz entscheidend für den gesamten Prozess.
PH Aha!
RITTER Jedenfalls hat das Experiment, das Sie gerade beschrieben haben, deutliche Auswirkungen auf die Evaluationsphase, aber nicht auf die Phase der Generierung. Das heißt: Die Testpersonen, die zwischendurch abgelenkt waren, haben zwar nicht mehr oder originellere Ideen entwickelt. Aber sie waren signifikant besser darin, eine tolle Idee von einer mittelmäßigen zu unterscheiden. Genau das machte sie am Ende kreativer.
PH Es gibt noch mehr Möglichkeiten, eine Pause einzulegen. Im Volksmund heißt es zum Beispiel, man solle „eine Nacht darüber schlafen“, wenn man vor einer schweren Entscheidung steht. Macht Schlaf kreativer?
RITTER Das haben wir untersucht. Man weiß, dass unser Unterbewusstes im Schlaf mit sehr vielen Dingen beschäftigt ist. Wie aber kann man dafür sorgen, dass es just an den Themen arbeitet, die uns gerade wichtig sind? Wir haben also Folgendes gemacht: Wir haben unseren Versuchspersonen eine Kreativitätsaufgabe gestellt und dabei im Raum einen bestimmten Duft versprüht.
PH Orange-Vanille, wenn ich richtig gelesen habe.
RITTER Ja, der Duft war optimal: angenehm und unaufdringlich. Jedenfalls haben wir dafür gesorgt, dass ein Teil der Versuchspersonen in der darauffolgenden Nacht bei genau demselben Duft geschlafen hat. Die Personen aus dieser Duftgruppe haben am nächsten Tag mehr und auch originellere Antworten gegeben als die übrigen Personen. Gerüche sind offenbar eine sehr einfache Methode, um das Unbewusste während der Nacht auf eine bestimmte Aufgabe zu lenken – und das wiederum steigert unsere Kreativität.
PH Schlafen Sie seither mit Duftbäumchen unterm Kopfkissen?
RITTER Das würde ich gerne. Leider habe ich eine Allergie gegen künstliche Geruchsstoffe.
PH Sie könnten Lavendel nehmen; der wächst zur Not auch auf dem Balkon. „Leichter denken mit Lavendel“ – klingt doch super, oder?
RITTER Bevor die Euphorie zu groß wird, möchte ich lieber noch eine Einschränkung machen: Psychologen unterscheiden ja zwei Arten von Kreativität oder Creativity, wie es im Englischen heißt. Auf der einen Seite stehen Leute wie Einstein, Heisenberg, Darwin. Da spricht die Forschungsliteratur von Big C, von großer Kreativität. Und was diese Dinge betrifft, sollte man die Kirche besser im Dorf lassen: Eine Nacht drüber schlafen – selbst bei Lavendelduft – wird sicher niemals genügen, um eine neue Relativitätstheorie zu finden. Dafür ist viel mehr nötig. Viel mehr Arbeit, sehr viel Talent. Aber es gibt auch eine Alltagskreativität – Little c. Diese Kreativität wohnt in uns allen. Und ich glaube, dass jeder seine schöpferischen Fähigkeiten mit ein paar kleinen Tricks verbessern kann.
PH Einen dieser Tricks haben Sie mit einem ziemlich spektakulären Experiment nachgewiesen. Sogar die BBC hat ausführlich darüber berichtet. Was genau haben Sie da gemacht?
RITTER Wir haben gezeigt, dass Menschen kreativer werden, sobald man ihre Erwartungen unterläuft, sobald etwas passiert, mit dem sie nicht gerechnet haben. Psychologen sprechen dabei von Schema Violation. Die Versuchspersonen setzten sich eine Computerbrille und eine Art Rucksack auf. Sie haben dann einen virtuellen Raum gesehen, eine virtuelle Cafeteria.
PH Wozu diente der Rucksack?
RITTER Er hat Bewegungsdaten auf das Computerprogramm übertragen. Man konnte also ganz normal umhergehen – und hatte den Eindruck, sich tatsächlich durch die virtuelle Cafeteria zu bewegen. Dort haben sich dann einige merkwürdige Dinge ereignet. Es gab zum Beispiel einen Koffer, der immer kleiner wurde, je näher man ihm kam. Oder eine Flasche, die umfiel, dann aber nicht zu Boden plumpste, sondern nach oben an die Decke flog. Wir haben sozusagen ein paar Naturgesetze außer Kraft gesetzt.
PH Klingt ein bisschen nach Alice im Wunderland.
RITTER Ja, das stimmt. Der spannende Teil kam aber erst nach dem Trip in dieses Wunderland: Die Probanden haben hinterher bemerkenswert hohe Kreativleistungen erbracht. Einfach weil ihr Gehirn sich in einem anderen Modus befand. In einer Welt, in der alles anders ist, verlässt offenbar auch unser Denken seine gewohnten Bahnen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Menschen durch längere Auslandsaufenthalte kreativer werden.
PH Wie kann man dieses Wissen konkret nutzen?
RITTER Dafür haben wir noch einen zweiten, etwas alltäglicheren Versuch gestartet. Wie Sie vielleicht wissen, essen in den Niederlanden viele Menschen zum Frühstück Brot mit Schokochips. Man nimmt die Chips und streut sie auf sein Butterbrot, ganz einfach. Die Hälfte unserer Versuchspersonen haben wir nun gebeten, sich ihr Frühstück umgekehrt zuzubereiten: Erst die Chips auf den Teller streuen, dann das Butterbrot draufdrücken. Das funktioniert ganz gut, auch wenn das im wirklichen Leben natürlich keiner macht. Und allein das hat schon genügt, um die Leute aus ihrer Routine zu holen. Die Teilnehmer in dieser Gruppe haben beim anschließenden Kreativtest signifikant besser abgeschnitten als die anderen.
PH Sie haben vorhin davon gesprochen, dass die Auswahl guter Ideen manchmal das eigentliche Problem der Kreativität ist. Warum ist diese Auswahl so schwierig?
RITTER Weil wir keine Kriterien haben, an denen wir uns orientieren können. Wenn eine Idee neu ist, wissen wir ja per Definition nicht, ob sie etwas taugt oder nicht. Andererseits müssen wir in der Praxis andere Menschen davon überzeugen, dass unsere Idee Potenzial hat, unseren Vorgesetzten, unsere Kunden, unsere Geldgeber. Meistens sagen wir: Ich hab’ ein gutes Gefühl dabei. Aber die wirklichen Argumente fehlen.
PH Ihr Kollege Ap Dijksterhuis hat genau darüber geforscht: Er hat gezeigt, dass unsere Intuition sehr wertvoll sein kann, wenn wir komplizierte Entscheidungen zu treffen haben. Könnte man diese Erkenntnis nicht einfach auf die Kreativitätsforschung übertragen?
RITTER Da habe ich meine Zweifel. Dijksterhuis hat untersucht, wie gut unser Bauchgefühl funktioniert, wenn wir Dinge kaufen – etwa neue Möbel oder ein neues Auto. Dort stehen wir meist vor dem Problem, dass wir viel zu viele Informationen beachten müssen, viel zu viele Kriterien. Im kreativen Prozess ist es genau umgekehrt: Wir haben fast gar keine Informationen. Trotzdem: Ich vermute, dass die Lösung auch bei der Auswahl kreativer Ideen letztlich im Körperempfinden liegen kann.
PH Und am Ende entscheidet dann trotzdem der Chef?
RITTER Kann sein. Aber auch das würde ich gerne erforschen: Wer ist am besten geeignet, Ideen auszuwählen? Jemand, der bei der Entwicklung mit dabei war? Oder jemand, der nur die Ergebnisse sieht? In ein paar Jahren werden wir es hoffentlich wissen.
Literatur
Simone Ritter: Creativity. Understanding and enhancing creative thinking. Dissertation an der Radboud-Universität Nimwegen, 2012
Die Sozialpsychologin Dr. Simone Ritter stammt aus Deutschland, studierte und promovierte jedoch in den Niederlanden. Sie arbeitet derzeit als Assistenzprofessorin an der Radboud-Universität Nimwegen.
So baut man ein kreatives Team
Schöpferische Leistungen entstehen häufig in Teams. Diese sorgten bereits in den 1940er Jahren für die Hälfte aller wissenschaftlichen Innovationen. Heute liegt ihr Anteil jenseits der 90-Prozent-Marke. Wie setzt sich eine erfindungsreiche Gruppe zusammen? Hollywood, die große Suppenküche der
abendländischen Kultur, liefert darauf zumindest vier idealtypische Antworten:
1. Modell: Ocean’s Eleven Man nehme lauter erstklassige Experten, einen Crack für jeden Fachbereich. Sie kennen sich von früher und mögen sich – eine Art Nationalmannschaft, bestehend aus elf Freunden!
2. Modell: Die glorreichen Sieben Auch dieses Team besteht aus Topexperten, ist aber eine Zweckgemeinschaft. Die Beziehungen sind in der Gründungsphase eher professioneller Natur.
3. Modell: Harry Potter Man übergibt den Job einem Haufen enthusiastischer und naiver Anfänger. Immerhin: Die Teammitglieder sind talentiert – und eng miteinander befreundet.
4. Modell: Der Herr der Ringe Die Mischung aus den genannten Modellen. Im Team sind einige Spitzenkönner, aber auch ein paar Grünschnäbel. Einige Teammitglieder kennen und mögen sich bereits. Andere sind neu in der Mannschaft – und nicht jeder erscheint dem anderen besonders sympathisch.
Welches dieser vier Modelle ist besser? Der US-Soziologe Brian Uzzi untersuchte in einer Studie die Besetzungslisten von Broadwayproduktionen aus mehreren Jahrzehnten. Wie oft hatten die einzelnen Mitglieder schon zusammengearbeitet? Wie viel Erfahrung hatten sie auf ihrem Gebiet? Die Teamdaten verglich Uzzi mit dem Erfolg der jeweiligen Produktion: Wie viele Tickets wurden dafür verkauft? Wie gut waren die Kritiken? Als Uzzi die Ergebnisse sah, traute er seinen Augen nicht: „Ich hätte nie gedacht, dass die Zusammensetzung des Teams eine so große Rolle spielt.“ Denn tatsächlich entpuppte sich eine der vier genannten Varianten als deutlich überlegen: War ein Team nach der Herr der Ringe-Methode zusammengestellt, stieg die Wahrscheinlichkeit für einen kommerziellen und künstlerischen Erfolg um das Zweieinhalbfache. Uzzis Fazit: Die besten Teams bestehen aus ein paar dicken Freunden und einigen neuen Gesichtern, aus alten Hasen und ein paar Frischlingen.
Literatur:
Brian Uzzi u. .: Collaboration and creativity: The small world problem. American Journal of Sociology, 111(2), 2014, 447–504
Macht Widerspruch kreativer? Nein! Und: Ja!
„Keine Kritik“ lautet ein Grundsatz im klassischen Gruppen-Brainstorming. Viele Firmen, auch jene von der erfolgreich-kreativen Sorte, pflegen jedoch eine andere Kultur. Der US-Wissenschaftsautor Jonah Lehrer beschreibt etwa die Arbeitsweise des kalifornischen Animationsstudios Pixar (Toy Story, Findet Nemo). Dort trifft man sich allmorgendlich, um die gemeinsame Arbeit des Vortages zu bewerten. Der Ton der Sitzung sei „brutal kritisch“. Man möchte keine Lösung, die irgendwie funktioniert. Sondern eine, bei der es schlichtweg nichts mehr zu meckern gibt. Wie kreativ ist Kritik? Dieser Frage hat die Berkeley-Psychologin Charlan Nemeth einen beachtlichen Teil ihres Forschungslebens gewidmet. In einer ihrer Studien arbeitete sie mit zwei Gruppen: Die einen Teilnehmer sprudelten ganz klassisch – ohne Bewertung und Widerworte. Die anderen sollten Vorschläge der eigenen Gruppe ausdrücklich kritisieren und diskutieren. Das Ergebnis: Die „Kritiker“ lieferten geringfügig bessere Ergebnisse als die „Wertfreien“.
Doch dabei beließ es Nemeth nicht. Am Ende der Untersuchung befragte sie jede Versuchsperson, ob ihr vielleicht nach der Gruppensitzung weitere Ideen gekommen seien. Und tatsächlich: In den Köpfen gab es noch eine ganze Reihe guter Einfälle. Im Durchschnitt rund drei bei den Mitgliedern der „Keine-Kritik-Gruppe“. Und sieben bei der „Kritikgruppe“. „Möglicherweise ist Freiheit – selbst die Freiheit, mit anderen zu streiten – am besten dazu geeignet, kreative Lösungen zu produzieren“, vermutet Charlan Nemeth.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Feldstudie des niederländischen Psychologen Carsten de Dreu: Ein bisschen Zoff macht Teams kreativer. Allerdings nur dann, wenn alle Gruppenmitglieder weiter produktiv an der Sache mitarbeiten. Genau hier liegt das Problem: Die meisten Menschen mögen keine Kritik. Wie stellt man sicher, dass sie sich nicht verschüchtert, beleidigt oder gekränkt aus dem Prozess zurückziehen?
Die europäische Tradition behilft sich an dieser Stelle mit einem Rollenspiel: dem Advocatus Diaboli, einem Gruppenmitglied also, dem die Rolle zufällt, Kritik und Gegenargumente vorzubringen. Charlan Nemeth unterzog diese Methode einem wissenschaftlichen Test. Die Ergebnisse waren jedoch ausgesprochen dürftig. Rollenspiele funktionieren viel schlechter als das, was Nemeth als authentic dissent (echten Widerspruch) bezeichnet. Mit anderen Worten: Streit zündet nur dann den Kreativturbo, wenn er von Herzen kommt. Bei Pixar ersetzt man die zähmende Kraft des Advocatus Diaboli übrigens durch eine Spielregel namens plussing: Kritik ist erst dann erlaubt, wenn man sie mit einem brauchbaren Gegenvorschlag versüßt. Das lenkt den Fokus der Gruppe nicht so sehr auf den Fehler, sondern eher auf dessen Reparatur.
Literatur
Jonah Lehrer: Imagine! Wie das kreative Gehirn funktioniert. C.H. Beck, München 2014
(Anmerkung der Redaktion: Die amerikanische Originalausgabe dieses Buches wurde wegen etlicher unkorrekter Zitate stark kritisiert und zeitweilig vom Markt genommen; bei der deutschen Übersetzung handelt es sich um eine stark korrigierte und überarbeitete Fassung.)
Charlan J. Nemeth u. .: Rogues and heroes: finding value in dissent. In: Jolanda Jetten u. . (Hg.): Rebels in groups: dissent, deviance, and defiance. Wiley-Blackwell 2014, S. 17 ff.
Charlan J. Nemeth u. .: The liberating role of conflict in group creativity: A study in two countries. European Journal of Social Psychology, 34, 2004, 365–374