Christiane* war Anfang dreißig, in Vollzeit berufstätig, Mutter eines dreijährigen Kindes und suchte wegen Depressionen und Erschöpfung Hilfe. Schon beim ersten Kennenlernen fiel mir ihre intelligente und zugleich nachdenkliche Art auf, die von einer tiefen Verzweiflung überschattet wurde. Unsere gemeinsame Reise sollte bald auch das Thema Klimaangst auf eine Weise berühren, die uns beide herausforderte – und bereicherte.
In unseren ersten Sitzungen berichtete Christiane von ihren bereits seit längerer Zeit…
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– und bereicherte.
In unseren ersten Sitzungen berichtete Christiane von ihren bereits seit längerer Zeit bestehenden Gefühlen der Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit. Ihre Symptome deuteten klar auf eine depressive Episode hin, und ich begann damit, ihre Lebensgeschichte und aktuelle Stressfaktoren zu eruieren. Es wurde deutlich, dass Christiane sich in einer überaus herausfordernden Lebensphase befand: beruflicher Stress, partnerschaftliche Probleme, hohe Anforderungen durch Care-Arbeit und ein generelles Gefühl der Überforderung. Doch es gab noch einen weiteren Aspekt, der sie belastete, der sich erst allmählich herauskristallisierte.
In einer der folgenden Sitzungen sprach Christiane – zunächst eher zögerlich – über ihre große Sorge um die Klimakrise. Sie erzählte, wie sie immer wieder nachts wachliege, während sie über den Zustand des Planeten, ihre Zukunft und die der kommenden Generationen grübelte. Sie erzählte von wissenschaftlichen Berichten, die sie gelesen und gesehen hatte, die ihr große Sorge bereiteten und eine diffuse Anspannung in ihr hervorriefen, was sie fast fortwährend unruhig machte. Sie hatte Bilder von Naturkatastrophen vor Augen, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekam, manchmal habe sie sogar Albträume davon. Sie berichtete von starken Ohnmachtsgefühlen, die dazu führten, dass sie die Klimakatastrophe am liebsten komplett ausblenden würde. Diese Themen waren nicht der Ursprung ihrer Depression, aber sie trugen erheblich zu ihrer Belastung bei.
Reale Bedrohung, verständliche Angst
Ich hörte Christiane aufmerksam zu und erkannte, dass ihre Sorgen nicht pathologisch, also nicht krankhaft, sondern rational und fundiert waren. Es ist nur zu verständlich, in Anbetracht dieser realen Bedrohung Angst zu entwickeln. Dies war mir nicht neu, es sind dieselben Nachrichten und Bilder, die mich als Mensch ebenfalls beschäftigen. Ich sah mich daher vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits musste ich Christiane darin unterstützen, ihre depressive Episode zu überwinden, andererseits wollte ich ihr helfen, einen konstruktiven Umgang mit ihren Ängsten um die Zukunft der Menschheit zu finden. Ziel war dabei, dass sie nicht in ihrer erlebten Ohnmacht steckenblieb.
Die Ängste und Sorgen, die Christiane schilderte, spiegelten viele meiner eigenen wider. Die gleichen Erkenntnisse und daraus resultierenden Gefühle hatten mich vor fast sechs Jahren dazu bewegt, mich intensiv mit der Psychologie der Klimakrise zu beschäftigen. Dieses gemeinsame Bewusstsein brachte Christiane und mich in eine neue, sehr persönliche Form der Verbindung. Ich teilte vorsichtig einige meiner eigenen Gedanken und Gefühle, um meiner Patientin zu zeigen, dass sie nicht allein war und dass ihre Sorgen berechtigt und verständlich waren.
Sich wieder wirksamer fühlen
Ich erklärte Christiane, dass es völlig normal sei, sich von der Klimakrise bedroht und überfordert zu fühlen. Dies war ein wichtiger Schritt, um ihr zu helfen, ihre Emotionen zu akzeptieren, anstatt sie als zusätzliches Gewicht auf ihre depressive Störung zu laden.
Neben der emotionalen Validierung war eine inhaltliche Überprüfung von Christianes Befürchtungen wichtig. Christiane war bereits gut informiert, sie hatte aber auch irrationale Ängste entwickelt, die zu einem Gefühl der Panik beitrugen. Ich half ihr dabei, ein realistisches Bild der Situation zu bekommen. Daraufhin ließen ihre Albträume nach. Wir suchten gemeinsam nach Wegen, wie Christiane sich wirksamer fühlen könnte. Ein zentraler Aspekt dabei war, sie zu unterstützen, von der Passivität in die Aktivität zu kommen, also ihre Klimagefühle handlungsleitend einzusetzen.
Wir erarbeiteten konkrete Schritte und Ideen, die sie im Alltag unternehmen und umsetzen konnte, um einen positiven Beitrag zu leisten, Vorbild zu sein und ihre Gefühle der Hilflosigkeit zu reduzieren.
Bringen meine Bemühungen überhaupt irgendwas?
Christiane versuchte bereits, sich im Alltag klimafreundlicher zu verhalten. Sie fuhr mehr mit dem Fahrrad und kaufte bewusster ein. Obwohl sie wusste, dass dies für sie so richtig war, fragte sie sich, ob ihre Taten eigentlich etwas bringen würden. Dies erzeugte weiteren Frust. So gehe es vielen Menschen, erklärte ich ihr. Auch wenn es wichtig ist, ein gutes Vorbild zu sein und wertekonform zu handeln, ist der direkte Effekt individueller Verhaltensänderungen vergleichsweise gering. Wir überlegten gemeinsam, welche Handlungsfelder zu ihr passten und zudem viele Menschen erreichten. Ich empfahl ihr, das, was sie sowieso gerne mache und gut könne, mit dem Klimaschutz zu verbinden.
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Christiane begann daraufhin, sich in einer lokalen Umweltinitiative zu engagieren. Die gegenseitige Unterstützung innerhalb der Gruppe empfand sie als besonders entlastend und hilfreich. Hier konnte sie ihre Gefühle teilen, fühlte sich verstanden und musste sich nicht erklären. Da sie in ihrer Freizeit gerne kreativ war, half sie zudem der Umweltgruppe, Plakate zu entwerfen. Christiane initiierte eine Arbeitsgemeinschaft zum Thema Klimakrise an ihrem Arbeitsplatz und brachte so Kolleginnen und Kollegen zusammen, die gemeinsam die Firma hin zu mehr Nachhaltigkeit entwickeln wollten. Diese Aktivitäten gaben ihr das Gefühl, aktiv an einer Lösung mitzuwirken, statt nur hilflos das Geschehen zu beobachten. Teile ihrer Ideen wurden auch umgesetzt, dieser Erfolg gab ihr positiven Aufwind.
Sich Pausen von der Klimakrise erlauben
Dabei fiel mir auf, dass Christiane dazu neigte, sich in sehr hohem Maße zu engagieren und über ihre Grenzen zu gehen. Es war wichtig, dass sie auch einen Ausgleich fand und sich Pausen erlaubte, um Überforderung zu vermeiden – und so letztlich auch mit sich selbst nachhaltig umzugehen. Ihr half es, regelmäßig Sport zu treiben und zu meditieren, um ihre innere Anspannung zu regulieren, sowie ihren Medienkonsum zu reduzieren, um sich selbst nur dosiert mit Klimanachrichten zu konfrontieren. Wenn es ihr zu viel wurde, beschäftigte sie sich auch mal ein paar Tage gar nicht mit dem Klima.
Unsere Sitzungen haben mir verdeutlicht, wie wichtig es ist, gesellschaftliche Themen nicht aus der therapeutischen Arbeit auszuklammern. Die Klimakrise ist eine reale Bedrohung, die viele Menschen belastet und in ihrem psychischen Wohlbefinden beeinflusst. Es ist essenziell, dass wir als Therapeutinnen und Therapeuten diese Themen offen ansprechen und unseren Patientinnen Raum geben, ihre Gefühle und Ängste zu teilen. Die Validierung und Handlungsorientierung erwiesen sich im Fall der Klimagefühle von Christiane als kraftvolle Werkzeuge, um sie dabei zu unterstützen, ihre Ängste in produktive Bahnen zu lenken und trotz der überwältigenden Umstände Hoffnung und Handlungsfähigkeit zu finden.
Mareike Schulze ist Diplompsychologin und Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als Einzel- und Gruppentherapeutin in eigener Praxis in Neustadt in Holstein. 2019 gründete sie zusammen mit Lea Dohm die Psychologists / Psychotherapists for Future. 2022 erschien ihr gemeinsames Buch Klimagefühle. Wie wir an der Umweltkrise wachsen, statt zu verzweifeln
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, welche die Patientin erkennbar machen könnten, wurden verändert
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