Seelische Last: Wenn Arbeit krank macht

Dossier Beruf & Leben: Psychische Probleme am Arbeitsplatz nehmen zu. Doch Psychotherapie spielt dort kaum eine Rolle. Zögerlich beginnt ein Umdenken.

Die Illustration zeigt eine Frau, die erschöpft und krank in einem Hamsterrad liegt
Viele Jahre lang läuft es sich geräuschlos im Hamsterrad – dann kommt der Zusammenbruch. © Julia Schwarz

Mehr als dreißig Jahre hat die 52-jährige Susanne Müller (Name geändert) als Sachbearbeiterin in einer großen Firma gearbeitet. Doch jetzt kann sie nicht mehr. Seit einem halben Jahr ist sie arbeitsunfähig. Zuvor fiel ein Kollege aus und sie bekam deshalb viel zusätzliche Arbeit auf den Tisch. Müller hat versucht, es „trotzdem irgendwie zu schaffen“. Sie machte Überstunden und kaum noch Pausen. Auch in der Freizeit ließ die Arbeit sie nicht mehr los. Schließlich begab sie sich in psychotherapeutische…

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Behandlung. Diagnose: Depression.

Wie ihr geht es vielen Beschäftigten. Die Bundesregierung schätzt die Zahl der Fehltage durch psychische Erkrankungen für 2017 auf 107 Millionen. Das sind mehr als doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.

Doch warum ist die Zahl der Krankschreibungen mit psychischen Störungen stark gestiegen? Und was lässt sich tun, damit es nicht so weit kommt?

Natürlich ist an den psychisch bedingten Ausfällen längst nicht immer nur die Arbeit schuld. Trotzdem ist bekannt, dass belastende Arbeitsbedingungen krank machen können. Die Folgekosten davon veranschlagt eine Studie für Deutschland mit knapp 29 Milliarden Euro jährlich – 10 Milliarden für Behandlung und Rehabilitation, 19 Milliarden durch verlorene Arbeitszeit, weil die Betroffenen krankgeschrieben, frühverrentet oder vorzeitig gestorben sind.

Annähernd jeder zweite Beschäftigte klagt darüber, dass er verschiedene Aufgaben gleichzeitig betreuen muss, unter einem starken Termindruck steht oder andauernd bei der Arbeit unterbrochen wird. Wie die regelmäßigen Befragungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zeigen, sind die Werte zwar ähnlich hoch wie vor zwölf Jahren, doch nach eigenen Aussagen leiden die Menschen heute stärker unter derartigen Belastungen.

Der Chef stoppte den Toilettengang

Negativ wirken keineswegs nur zu hohe Anforderungen. Depressionen und andere Störungen drohen auch dann, wenn die Beschäftigten subjektiv gesehen zu geringe Handlungsspielräume haben. Ob sie objektiv weniger Möglichkeiten haben als andere, ist gar nicht entscheidend. Es kommt auf das Gefühl an. 73 Prozent der deutschen Beschäftigten sind in diesem Punkt nach einer Umfrage der BAuA ganz zufrieden. Aber es gibt eben auch Vorgesetzte, die alles genau vorgeben und kontrollieren. Auf einen Extremfall stießen Forscher der Universität Frankfurt und des dortigen Sigmund-Freud-Instituts, als sie Patienten mehrerer psychosomatischer Kliniken befragten. Eine Verkäuferin eines großen Selbstbedienungsgeschäfts berichtete von ihrem stets kontrollierenden Chef. Er habe „immer hinter einem gestanden, also wenn man irgendwas gemacht hat; so mit ein bisschen Distanz hat er da immer beobachtet, wie man es macht und wie schnell oder wie genau“. Er stoppte sogar, wie lange seine Untergebenen zur Toilette gingen.

Zum Problem kann es aber auch werden, wenn Beschäftigte zu wenige oder unklare Vorgaben bekommen. Das führt leicht zu dem Gefühl, nicht genug getan zu haben oder selbst schuld zu sein, wenn das Ergebnis nicht stimmt.

Besonders problematisch ist es, wenn die Anerkennung für das Geleistete ausbleibt. Der Düsseldorfer Medizinsoziologe Johannes Siegrist hat dafür den Begriff „Gratifikationskrise“ geprägt. In einer Umfrage unter US-Amerikanern berichteten 65 Prozent, dass sie im vergangenen Jahr keinerlei Lob oder Anerkennung bei der Arbeit bekommen hätten. Manche leiden auch unter der mangelnden Wertschätzung der Kollegen. So wurde ein von den Frankfurter Forschern befragter Revisor einer Bank von den Geprüften als zu penibler Störenfried empfunden. Je nach Studie befinden sich zwischen 10 und 25 Prozent der Beschäftigten in einer Gratifikationskrise – ihr Depressionsrisiko verdoppelt sich dadurch.

Gesucht: „belastbare Mitarbeiter“

All diese Belastungen können zu Tagen der Arbeitsunfähigkeit und psychischen Erkrankungen führen.

Dabei sind psychisch stark belastende Arbeitsbedingungen eigentlich verboten. „Der Arbeitgeber ist durch das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, die Arbeit so zu gestalten, dass Gefährdungen für die psychische Gesundheit vermieden werden“, sagt die promovierte Arbeitspsychologin Katja Schuller von der BAuA. Bei all den Firmen, die „belastbare Mitarbeiter“ suchen, ist diese Botschaft offenbar nicht angekommen.

Um Risiken rechtzeitig zu erkennen, müssen Betriebe eine sogenannte Gefährdungsbeurteilung vornehmen, also nach Gefahren suchen und sie beseitigen. Das gilt ausdrücklich auch für psychische Belastungen. Allerdings spart sich fast die Hälfte der Firmen jegliche Gefährdungsbeurteilung, von der anderen Hälfte berücksichtigten nur 41 Prozent psychische Belastungen. Und die gelten als schwer erfassbar. Lärm und Gefahrstoffe lassen sich leichter messen und mit den zulässigen Werten abgleichen. Ein weiteres Problem: Die für die Kontrolle zuständigen Gewerbeaufsichtsämter haben nicht genügend Prüfer, so dass säumigen Firmen kaum Konsequenzen drohen.

Wenn die Firma belastende Arbeitsbedingungen nicht abstellt, können die Beschäftigten natürlich zu Betriebsrat, Betriebsarzt oder dem Vorgesetzten gehen. Ob das hilft, ist eine andere Frage. Sie können sich auch an die Gewerbeaufsicht wenden. Häufig passiert das nicht, aber es ist ein Fall überliefert, in dem ein Mann dort die Firma seiner Frau anzeigte, weil die vor lauter Arbeit kaum noch nach Hause kam.

Von Prävention profitieren alle

Es gibt aber Betriebe, die sich Mühe geben, auch kleine. Zu ihnen zählt zum Beispiel die Nitzbon AG, die in Hamburg Geräte für die Ergotherapie und Rehabilitation produziert. Petra Nitzbon-Grimberg, bis vor kurzem im Vorstand, erklärte ihre Motivation so: „Ich möchte meine Mitarbeiter nicht in den Rehakliniken besuchen müssen, für die wir unsere Geräte bauen.“ 69 Punkte standen auf dem Fragebogen, der an die Angestellten verteilt wurde – von der Arbeitsplatzgestaltung bis zum Betriebsklima. Aufgrund der Antworten wurden nicht nur neue Leuchten angeschafft, sondern auch die Zuständigkeiten genauer geregelt und regelmäßige Personalgespräche eingeführt.

Der Gravierbetrieb GFT-Fritze aus Bremen, ein anderes Kleinunternehmen, star­tete eine ähnliche Aktion. Hier vermissten die fünf Beschäftigten Lob und Anerkennung. Der Chef versprach Besserung und arbeitete mit seinen Mitarbeitern „an einer wertschätzenden Arbeitskultur“, so die „Initiative Neue Qualität der Arbeit“, die solche beispielhaften Betriebe gesammelt und vorgestellt hat.

Wie viel die große Mehrheit der Unternehmen tut, bleibt offen. „Belastbare Daten fehlen“, bedauert Katja Schuller von der BAuA. Allerdings ist das Interesse in den Betrieben auch nicht immer sehr ausgeprägt. Für den Arbeitsschutz Zuständige haben Katja Schuller auch schon erzählt: „Wir wollten einen Workshop machen und es kam keiner.“

Entlastung und Stressmanagement

Dabei können alle Beteiligten von Präventionsmaßnahmen gegen psychische Erkrankungen profitieren – auch Firmen und Institutionen. Ein wissenschaftlich gut untersuchtes Beispiel lieferte das niederländische Allgemeinkrankenhaus Waterland Anfang der 1990er Jahre. Zu Beginn lag der Krankenstand dort bei neun Prozent und damit weit höher als in vergleichbaren Kliniken. Das Krankenhaus setzte ein Komitee ein, das die Ursachen finden und beheben sollte. Darin vertreten waren Leitungskräfte aus Pflege, Personalabteilung und Technik, außerdem Mitarbeiter aus Pflege und Radiologie. Sie starteten eine große Umfrage, an der sich beachtliche 72 Prozent der Angestellten beteiligten. Zur Lösung der ausgemachten Probleme leitete das Komitee in Absprache mit der Klinikleitung alle möglichen Verbesserungen ein. Anrufe sollte nun eine Abteilungssekretärin annehmen, um Fragen der Angehörigen kümmerte sich jetzt eine Familienhotline. Angestellte wurden in „selbstbewusster Kommunikation“ trainiert, damit sie mit Kommentaren von Kollegen und Führungskräften besser umgehen lernten und ihrerseits Kritik souveräner formulieren konnten.

Es gab Stressmanagement-Kurse und spezielle Schulungen für den Umgang mit Aggressionen und Gewalt in Psychiatrie und Notaufnahme. Die Onkologie bekam eine Gesprächsgruppe, in der sich die dort Tätigen über den Umgang mit Leiden und Sterben austauschen konnten. Aber es wurden auch simple technische Maßnahmen zur Entlastung ergriffen. So kam nun ein spezieller Gabelstapler zum Einsatz, um den Transport von Betten zu erleichtern. Die Krankenhaus-Apotheke erhielt einen höhenverstellbaren Tisch, auf dem etwa Infusionsbeutel ausgepackt werden konnten.

Noch viel mehr lohnten sich die Maßnahmen der niederländischen Polizei gegen Stress am Arbeitsplatz. Dabei kamen insbesondere die Kurse zum Umgang mit Gewalt und Aggression gut an. Die Polizei investierte drei Millionen Euro in einem Zeitraum von vier Jahren, sparte aber in dieser Zeit 14 Millionen, weil sich die Beamten seltener krankmeldeten.

Allerdings kann es dauern, bis sich die Anstrengungen auch finanziell lohnen. Acht große Schweizer Firmen mit über 5000 Angestellten führten Stresspräventionskurse ein. Pro Beschäftigten kosteten sie 755 Franken. Die Krankheitstage wurden weniger, allerdings sparte das zunächst lediglich 195 Franken pro Jahr. Auf längere Sicht könnte sich das Programm aber durchaus bezahlt machen.

Viele Therapeuten blenden den Berufsalltag aus

Was getan werden müsste, ist von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Allgemein gilt: Firmen sollten nicht zu viele Überstunden verlangen. Auch Arbeit auf Abruf sollte vermieden werden. Hoher Zeitdruck und ständige Störungen sind ungünstig. Beschäftigte leiden auch, wenn sie sich wiederholt um mehrere Aufgaben gleichzeitig kümmern müssen. Gut ist es, wenn sie selbst entscheiden können, wie sie ihre Arbeit gestalten und auch nicht monoton die ewig gleichen Teilaufgaben erledigen müssen.

Doch natürlich helfen Präventionsmaßnahmen nicht immer, und häufig gibt es gar keine. Entwickeln Beschäftigte dann beispielsweise eine Depression oder Ängste, empfiehlt sich oft eine Psychotherapie. Allerdings wissen viele Therapeuten nicht viel über den normalen Berufsalltag und blenden ihn in der Behandlung aus (siehe das Interview unten). Denn meist haben sie keine Erfahrung in anderen Berufen, und in der Therapeutenausbildung spielt die Arbeit keine große Rolle.

Es gibt jedoch einige Therapievarianten, die einen zusätzlichen Schwerpunkt auf die Arbeit legen. Die Psychologieprofessorin Elisabeth Schramm entwickelte etwa eine für die interpersonelle Psychotherapie. Sie berichtet von einem schwer mitgenommenen Außendienstmitarbeiter in der Medizintechnik. Weil er sich nicht länger wegen vieler verschobener Liefertermine bei seinen Firmenkunden entschuldigen wollte, fuhr er zwar noch zu ihnen, stieg aber nicht mehr aus dem Auto. Den wachsenden Frust ließ er an seiner Sachbearbeiterin aus. Um ein gutes Verhältnis zu seinen Kollegen bemühte er sich nicht. In der Psychotherapie lernte der Mann, diese Zusammenhänge zu sehen, kompetenter mit den anderen umzugehen, bei der Arbeit zwischendurch Minimeditationen einzulegen und seine Mittagspausen einzuhalten. Auch in der Freizeit tat er mehr für sich selbst. Er begann zu joggen und alte Freundschaften wieder zu pflegen.

Lernen, Grenzen zu setzen

Manche Firmen haben Angebote entwickelt, dank derer psychisch belastete Beschäftigte möglichst schnell Hilfe erhalten sollen. Bei der Münchener Allianz-Versicherung können sie zum Beispiel ein telefonisches Beratungsangebot wahrnehmen oder in die betriebsärztliche Sprechstunde gehen. Der Versicherungskonzern hat auch Kooperationsverträge mit psychosomatischen Kliniken geschlossen, damit Mitarbeiter dort notfalls schnell Hilfe bekommen.

Die Burghof-Klinik im niedersächsischen Rinteln unterhält solche Kooperationen mit kleineren Betrieben. Deren Mitarbeiter können eine Beratung zum Umgang mit psychischem Stress und Stresssituationen in den Räumen der Klinik nutzen. Notfalls hilft die Einrichtung auch bei der Suche nach einem Therapieplatz. Innerhalb von zwei Jahren nahmen immerhin 65 Beschäftigte aus 17 Betrieben das Angebot in Anspruch. Einige von ihnen wurden in einer Untersuchung nach ihrer Einschätzung befragt. Sie lobten, dass sie leicht, schnell und anonym teilnehmen konnten.

Die Stahlkonzern Salzgitter arbeitet mit der Psychotherapieambulanz der Technischen Universität Braunschweig zusammen. Dort wurde auch die Sachbearbeiterin Susanne Müller behandelt. In der Therapie stellte sich heraus, dass sie weit überhöhte Ansprüche an sich selbst hatte: „Ich muss alles richtig machen.“ Sie lernte, sich Grenzen zu setzen und sich nicht zu überfordern. Dafür hat sie sich Strategien erarbeitet: E-Mails nur zu bestimmten Zeiten abrufen, die Aufgaben nach Wichtigkeit sortieren, in stressigen Situationen zu sich selbst sagen: „Eins nach dem anderen, bleib ruhig.“ In Rollenspielen lernte sie, auch mal nein zu sagen.

Ein Team der TU Braunschweig hat die Erfolge der um den Schwerpunkt Arbeit ergänzten Psychotherapie in einer kleinen Studie mit denen der normalen Verhaltenstherapie verglichen. Die Patienten der ergänzten Variante fehlten hinterher weniger bei der Arbeit, und mehr von ihnen arbeiteten überhaupt.

Andere Forschergruppen berichten von ähnlichen Ergebnissen, etwa eine der Universität Utrecht um Wilmar Schaufeli. Laut ihrer Studie mit 168 Beschäftigten, die an Depressionen und anderen psychischen Störungen erkrankt waren, kehrten die mit einer arbeitsplatzbezogenen Verhaltenstherapie Behandelten 65 Tage früher in ihre Vollzeitarbeit zurück als die Absolventen einer normalen Verhaltenstherapie.

Pflicht zur Wiedereingliederung

Viele Betroffene wollen möglichst schnell und umfassend wieder einsteigen. Denn Arbeit ist für sie „nicht nur ein Mittel, um Geld zu verdienen, sondern vielmehr der Beweis, dass sie trotz ihrer Erkrankung noch leistungsfähig sind und gebraucht werden“, so das Ergebnis einer Studie der BAuA. Das gilt oft sogar dann, wenn die Mitarbeiter die Arbeit als eine Ursache ihrer Krankheit sehen. Anderen allerdings graut vor der Rückkehr und sie würden lieber in den Vorruhestand gehen. Jedoch finden 70 Prozent nach einer Rehamaßnahme aufgrund einer psychischen Störung wieder in eine Vollzeitbeschäftigung zurück, so die Statistik der Rentenversicherung.

Doch wohin? In die alte Firma, an den gleichen Arbeitsplatz? „Schau, dass du an dem Platz – egal wie schwierig es vorher war – wieder anfangen kannst“, äußerte in der BAuA-Befragung ein Mitarbeiter aus einem Elektronikbetrieb seine klare Meinung, denn dort, „wo die Leut’ dich kennen“, sei eine ganz andere Bereitschaft vorhanden, aufeinander einzugehen, „als in der Abteilung XY dahinten, die auf ihre freie Stelle halt irgendjemand kriegen, und der soll jetzt gefälligst funktionieren“.

Firmen sind in der Tat auch verpflichtet, Rückkehrern nach langen oder wiederholten Erkrankungen ein für die Betroffenen freiwilliges betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten – kurz BEM. Verantwortlich dafür ist meist ein Team, dem beispielsweise Abgesandte von Personalabteilung, Betriebs- oder Personalrat und der Schwerbehindertenvertretung angehören, öfter auch der Betriebsarzt. Bei großen Betrieben können hauseigene Fachkräfte dazugehören. Bei der Allianz beraten auch Psychologen und Sozialpädagogen, die der Schweigepflicht unterliegen.

Allerdings klappt es längst nicht immer mit der schnellen Rückkehr an die alte Werkbank oder den Schreibtisch. Mal hat der Betrieb den Abwesenden halb vergessen, mal arbeitet da jetzt jemand anderes. Dann ist die Firma gehalten, einen anderen Arbeitsplatz zu finden.

In jedem Fall stellt sich die Frage, in welchem Rahmen der Rückkehrer wieder im Betrieb arbeiten kann. Oft fängt er mit wenigen Arbeitsstunden an, deren Zahl dann langsam erhöht wird – häufig nach einem starren Schema. Die Hamburger Psychologin Ina Riechert, die mehrere Ratgeber zum Thema BEM geschrieben hat, plädiert für individuelle Regelungen. Viel mehr, als die Arbeitszeit zeitweilig oder gar dauerhaft zu kürzen, fällt vielen Firmen nicht ein. Die Arbeitsbedingungen werden eher nicht verändert – schon gar nicht für die ganze Abteilung. Psychologische Betreuung gibt es Ina Riechert zufolge meist auch nicht.

Nicht in die Abstellkammer

Viel hängt dann von den einzelnen Führungskräften ab. Während manche die Rückkehrer unterstützen, erwarten andere gleich wieder volle Leistung, auch wenn die Beschäftigten im BEM den Betrieb nichts kosten, weil sie von der Renten- oder Krankenversicherung bezahlt werden. „Mein Chef steht schon wieder in der Tür und will dies und das“, hörte Ina Riechert von einer Betroffenen.

Andere Manager wiederum erwarten gar nichts. So berichtet eine Betroffene in der BAuA-Befragung, dass viele in ihrer Firma „nach oder in der Wiedereingliederung tatsächlich in irgendeine – teilweise wortwörtlich – Abstellkammer kommen“. Ihnen würden Computer hingestellt und man sage ihnen: „Kannst ja mal ein bisschen rumtütteln.“

Meist ist das noch nicht einmal böser Wille, sondern die Führungskräfte hätten schlicht keine Ahnung, wie sie mit Menschen umgehen sollen, die zumindest bis vor kurzem psychisch krank waren, oft immer noch labil sind und der Rückkehr mit Bangen entgegensehen. „Ich sage immer: Angst trifft Unsicherheit“, resümiert Ina Riechert. Wie andere Experten plädiert sie dafür, dass Führungskräfte entsprechend fortgebildet werden.

Berufliche Trainingszentren

Wenn die übliche Eingliederung nicht reicht und vielleicht sogar eine Umschulung nötig ist, dann können Menschen mit psychischen Problemen sich an eines der 21 deutschen beruflichen Trainingszentren wenden. Der Aufenthalt dort dauert etwa ein Jahr und soll bei der beruflichen Orientierung, Qualifizierung und Integration helfen. Im Unterschied zum betrieblichen Eingliederungsmanagement werden die Erfolge der beruflichen Trainingszentren erfasst: Unmittelbar nach dem Ende der von verschiedenen Versicherungen bezahlten Maßnahmen findet gut die Hälfte der Teilnehmenden eine reguläre Arbeit, nach einem Jahr stehen zwei Drittel in Lohn und Brot.

Und auch Susanne Müller, der an der Braunschweiger Psychotherapieambulanz behandelten Sachbearbeiterin, gelang die Rückkehr ins Berufsleben. Ihre Probleme verschwanden nicht völlig. Doch in den zwölf Monaten vor der Therapie war sie insgesamt 250 Tage krankgeschrieben, in den zwölf Monaten ab Therapiebeginn waren es nur noch 114 Tage. Die Depression kam auch nach der Rückkehr in die Firma nicht wieder.

Offenlegen oder schweigen?

Bei Rückkehr in den alten Betrieb stehen viele vor der Frage: Soll ich den Kollegen erzählen, warum ich so lange weg war? Einen pauschalen Ratschlag, wie mit der Situation umzugehen ist, gibt es nicht. Jeder muss für sich abwägen, ob und wem im Betrieb er seine Erkrankung offenlegt und in welchem Maße. Was dafür in die Waagschale zu werfen ist:

  • Mögliche Diskriminierung. Aufgrund psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz diskriminiert zu werden ist nicht die Regel. Allerdings auch keine Ausnahme. In einer Umfrage schätzten rund 300 deutsche Psychiater, dass jeder dritte Rückkehrer von seinen Kollegen stigmatisiert wird, ebenso viele von Vorgesetzten. Die Offenlegung einer psychischen Erkrankung erschwert für Arbeitssuchende den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt, ergab zudem eine Studie der Universität Ulm.
  • Psychische Auswirkungen. Untersuchungen der Uni Ulm zeigen aber auch, dass Offenheit im Umgang mit der eigenen Erkrankung die Lebensqualität verbessert, Zugeständnisse am Arbeitsplatz sowie Unterstützung durch andere begünstigt und so „eine langfristige Strategie für eine stabile Anstellung“ sein kann. Geheimhaltung wiederum könne zu mehr Grübeln führen, während ein selbstbewusster Umgang „mit Stolz verbunden sein könne, trotz und mit krankheitsbedingten Einschränkungen viel erreicht zu haben“.
  • Vorher testen. Fühlen Sie in lockeren Gesprächen vor, wie Kollegen oder Vorgesetzte zu psychischen Erkrankungen stehen. Etwa indem Sie beim Mittagessen oder in der Kaffeepause von einem Film berichten, der sich um eine psychische Störung dreht – und die Reaktion der anderen abwarten.
  • Richtiger Ansprechpartner. „Wenn Sie sich offenbaren wollen, wenden Sie sich an eine Person im Betrieb, die vertrauens- und verständnisvoll scheint oder die selbst schon Krisen gemeistert hat“, rät der Psychiater und Stigmaforscher Nicolas Rüsch.
  • Was mitteilen. Die Diagnose zu offenbaren ist weniger wichtig, als offen­zulegen, welche Aufgaben im Arbeitsalltag noch schwerfallen oder wobei Unterstützung gebraucht wird.

JH/JP

„Warum nicht auch die Arbeitssituation ändern?“

Fallen Beschäftigte wegen psychischer Probleme am Arbeitsplatz aus, müssen Therapie und Veränderungen nicht nur bei ihnen ansetzen, fordert der Soziologe Stephan Voswinkel

Liegt es typischerweise am Beschäftigten, wenn er der Arbeit nicht mehr gewachsen ist, oder sind die Arbeitsbedingungen unzumutbar?

Es muss bei dem Beschäftigten eine gewisse Empfindlichkeit vorliegen. Aber wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass die Arbeitsbedingungen in Ordnung sind, wenn der ideale Arbeitnehmer damit zurechtkommt. Denn der ideale ist nicht der normale Arbeitnehmer. Der normale Arbeitnehmer hat eben auch mal Schwierigkeiten im Leben, seien es Beziehungsprobleme oder Identifikationskrisen mit der Arbeit. Aber bei der Personalbesetzung gehen Betriebe meist vom idealen Arbeitnehmer aus und sind dann überrascht, wenn plötzlich viele Leute krank sind.

Müssen Beschäftigte nicht einfach lernen, sich besser abzugrenzen?

Das ist der Standardratschlag. Für den Einzelnen enthält das eine gewisse Logik, aber tatsächlich verlagern Sie das Problem nur. Wenn einer nicht mehr so viele Überstunden macht, müssen die anderen die Arbeit machen. Und dann haben Sie nach einem halben Jahr häufig den nächsten Burnoutfall.

Mal weitergedacht, bedeutet das, dass Psychotherapeuten psychisch erkrankte Beschäftigte nur wieder fit für unmenschliche Arbeitsbedingungen machen?

Im weitesten Sinne schon. Wenn man in diesem System zurechtkommen will, muss man sich eben auf bestimmte Dinge einlassen. Ich halte aber nichts davon, die psychisch Erkrankten zur Speerspitze der Revolution machen zu wollen.

Ignorieren Psychotherapeuten damit nicht unzumutbare Arbeitsbedingungen und behandeln stattdessen den Einzelnen?

Den Einzelnen zu behandeln ist nicht falsch. Es wird dann zum Problem, und das haben wir leider oft beobachtet, wenn auf die Arbeitswelt gar nicht eingegangen wird. Oder wenn sie nur als die Bühne betrachtet wird, auf der die eigentlichen Probleme ausgetragen werden. Die Konflikte mit dem Chef sind dann etwa reinszenierte Vater-Sohn-Konflikte. Das muss im Einzelfall nicht falsch sein, aber dann haben wir eben genau diese Tendenz zur Individualisierung der Probleme. Dabei lässt sich Therapie natürlich mit der Frage verbinden, was man an der Arbeitssituation verändern kann.

Was muss in den Betrieben getan werden?

Es braucht vernünftige Institutionen in den Betrieben. Also dass Betriebsräte sich kümmern, dass es Teams gibt, die sich etwa mit der betrieblichen Wiedereingliederung beschäftigen. Ohne Druck seitens der Betriebs- und Personalräte sowie anderer im betrieblichen Gesundheitsmanagement Beteiligter wie auch der öffentlichen Debatten, ohne deutlich zu machen, dass es negative Konsequenzen hat, wenn man sich dem Thema nicht stellt, wird es wahrscheinlich nicht gehen. Wichtig ist, dass psychische Erkrankungen im Betrieb nicht mehr als die große Ausnahme gelten, sondern als etwas, was durchaus viele treffen kann.

Sind die Betriebe denn zu Änderungen bereit?

Natürlich sind sie zunächst gewinnorientierte Unternehmen und an reibungslosen Abläufen orientiert. Aber aus manchen Firmen vernehmen wir inzwischen eine gewisse Einsicht, da immer mehr Mitarbeiter wegen psychischer Erkrankungen ausfallen. Auf die Dauer ist das für die Firmen ein Problem.

Was halten Sie davon, wenn sich Chefs oder Kollegen bei Kranken in der Klinik melden?

Das kann man so und so sehen. Inzwischen wird es jedoch mehr zum Problem. Das kann auf der einen Seite Ausdruck des Interesses oder der Wertschätzung dem erkrankten Kollegen gegenüber sein

und auf der anderen Seite k

ann es als Kontrolle wahrgenommen werden. Selbst wenn es das nicht ist, erschwert der Kontakt dem Mitarbeiter, wirklich für eine bestimmte Zeit mental herauszukommen. Wenn jemand während des psychosomatischen Klinikaufenthaltes von seinem Vertreter bei der Arbeit jeden zweiten Tag eine Mail erhält, weil der irgendwas wissen will, dann ist das weder als Kontrolle noch als besondere Wertschätzung zu interpretieren. Vielmehr muss der Rehateilnehmer sich jedes Mal in Betriebsabläufe hineindenken, und das bringt ihn immer wieder in die Arbeitssituation zurück. Das kann ich mir nicht als besonders förderlich vorstellen.

Interview: Jochen Paulus

Dr. Stephan Voswinkel ist habilitierter Soziologe am Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt. Er beschäftigt sich mit dem Spannungsfeld von Arbeit und Psychotherapie und leitet mit Kollegen das Forschungsprojekt „Erwerbsarbeit und psychische Erkrankungen. Therapeutische und betriebliche Bewältigung“

Literatur

Nora Alsdorf u.a.: Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt. Analysen und Ansätze zur therapeutischen und betrieblichen Bewältigung. Transcript Verlag, Bielefeld 2017

Katharina Bode u.a: Arbeitswelt und psychische Störungen. Hogrefe, Göttingen 2017

Wolfgang Bödeker, Michael Friedrichs: Kosten der psychischen Erkrankungen und Belastungen in Deutschland. In: Lothar Kamp und Klaus Pickshaus (Hrsg). Regelungslücke psychische Belastungen schliessen. Hans Böckler Stiftung, Düsseldorf 2011, 69–102.

Kai G. Kahl, Lotta Winter (Hrsg.): Arbeitsplatzbezogene Psychotherapie. Intervention, Prävention und Rehabilitation. Mit einem Therapiemanual. Kohlhammer, Stuttgart 2017

Suzanne E. Lagerveld, Veerle Brenninkmeijer, Leoniek Wijngaards-de Meij, Wilmar B. Schaufeli: Work-focused treatment of common mental disorders and return to work: A comparative outcome study. Journal of Occupational Health Psychology, 17(2), 2012, 220-234. DOI:10.1037/a0027049

Ellis Lourijsen u.a.: The Netherlands a hospital, healthy working for health. Preventing stress, improving productivity. In: Kompier u.a. (Hrsg.): European case studies in the workplace. Routledge, London 1999, 86– 120.

Ina Riechert, Edeltrud Habib: Betriebliches Eingliederungsmanagement bei Mitarbeitern mit psychischen Störungen. Springer, Heidelberg 2017

Ina Riechert: Psychische Störungen bei Mitarbeitern. Ein Leitfaden für Führungskräfte und Personalverantwortliche - von der Prävention bis zur Wiedereingliederung. Springer, Heidelberg 2015

Ralf Stegmann, Ute Schröder: Anders gesund – Psychische Krisen in der Arbeitswelt. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2018.

Online-Quellen

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Zeitdruck und Co - Wird Arbeiten immer intensiver und belastender? https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fakten/BIBB-BAuA-26.html 2019

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung. 2017 https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Psychische-Gesundheit.pdf?__blob=publicationFile&v=14

Bundesministerium fur Arbeit und Soziales: GDA-Arbeitsprogramm Psyche. https://www.gda-psyche.de/DE/Arbeit-und-Psyche-von-A-Z/inhalt.html

European Agency for Safety and Health at Work (EU-OSHA): Calculating the cost of work-related stress and psychosocial risks. European Risk Observatory Literature Review 2014. https://osha.europa.eu/en/publications/literature_reviews/calculating-the-cost-of-work-related-stress-and-psychosocial-risks/view

BEM- Selbstcheck. Der Verein der zertifizierten Disability-Manager Deutschlands bietet Betrieben eine Online-Selbstbewertung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements. http://www.vdima.de/index.php/bem-selbstcheck

Initiative Neue Qualität der Arbeit: psyGA. Portal für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. https://www.psyga.info/

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2019: Passiv-Aggressiv