Juli kam mit dem Vollbild einer Essstörung zu mir. Sie war 36 Jahre alt, wirkte aber durch den großen Kopf mit Kurzhaarschnitt auf ihrem Size-Zero-Körper zum einen extrem jung, durch den traurigen Ausdruck ihres ausgemergelten Gesichts aber alt und ausgebrannt. Sie war eine erfolgreiche Beraterin im digitalen Universum, dennoch war ihrer Ausstrahlung kein Siegerlächeln eingeschrieben.
Die Bulimie habe mit 18 eingesetzt, dazu die üblichen Verhaltensweisen wie exzessiver Sport und eine streng vegane Diät. Auch…
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exzessiver Sport und eine streng vegane Diät. Auch bei Juli komplettierte ein hohes perfektionistisches Leistungsniveau das Krankheitsbild. Der Freund, mit dem sie seit zehn Jahren zusammenlebte, war wenig mehr als ein Platzhalter.
Juli fühlte sich wie in einem Film, in dem sie keine Rolle spielte. Alles, auch Sex, war Arbeit. Schon in der ersten Sitzung sprach sie von dem schwierigen Verhältnis zu ihren Eltern. Als sie elf war, habe ihr leiblicher Vater versucht, mit ihr zu schlafen – zum Glück ohne Erfolg. Die Mutter habe nichts gemerkt, die Eltern hätten sich schließlich in Julis 16. Lebensjahr getrennt.
"Die Kriterikerin" im Kopf
In den Folgesitzungen sprachen wir viel über ihren Dissoziationszustand, in dem sie sich von sich selbst abgespalten fühlte und sich nicht richtig spüren konnte. Ihr wurde klar, dass sie diesen Zustand immer dann selbst herbeiführte, wenn „die Kritikerin“ in ihrem Kopf ihr wieder übel zusetzte. Dies war ihr einziger Schutz. Diese Stimme in ihrem Kopf war schlimmer und strenger, als es die Eltern je gewesen waren.
Ich sah „die Kritikerin“ als toxische innere Figur im Sinn eines self-created parent-Objekts an, das sich Kinder typischerweise zulegen, wenn die real vorhandenen Objekte wie Mutter und Vater nicht zu einer ausreichenden Beelterung willens oder aber in der Lage sind. Ohne Unterlass machte ihr die Kritikerin alles und jeden, auch mich madig. Therapeutisch versuchte ich, diese Stimme, die sie für einen Teil ihres wahren Selbst hielt, zu externalisieren, und inszenierte einen Dialog, indem ich direkt zu ihrer Kritikerin sprach – und Juli als diese antworten musste.
So wurde die sadistische Dimension, ihre Genese und Funktion klar. Die sadistische Kritikerin war in den Jahren nach dem Missbrauch entstanden und sollte sie vor weiteren Traumatisierungen schützen, gleichzeitig aber die Beziehung zu den Eltern wieder harmonisieren.
Einsamkeit und Bedürfnislosigkeit als Lebensstil
Juli nahm langsam an Gewicht zu, was sie als Therapieerfolg zum einen freute, zum anderen aber auch ängstigte, weil es ihr geschlechtsloses Äußeres auflösen würde. Wir sprachen viel über ihre innere Kultur der Einsamkeit und Bedürfnislosigkeit, die sie zu ihrem Lebensstil gemacht hatte, die Ablehnung aller Gefühle und Bindungen mit dem Wunsch nach Kontrolle über den Körper als zentrales Thema und Ersatzkriegsschauplatz ihrer Konflikte, dahinter ein mächtiger Gefühlsstau.
Zu ihrem Vater habe sie seit zehn Jahren keinen Kontakt. Gesellschaftlich sei er ein Loser, ein Dauerkiffer, der ohne THC noch unangenehmer sei als mit. Grenzen seien ihm fremd. Sie habe sich immer vor einer Wiederholung der Szene der Kindheit gefürchtet. In einem Telefonat sprach sie ihn zum ersten Mal auf den Missbrauch an. Er konnte sich an gar nichts erinnern. Er gab aber zu, dass sie wohl recht habe. Durch die Nebel des Haschischs, das der Vater in eigener Plantage anbaute – die Lampen dafür hatten das Geld für den versprochenen Flötenunterricht verbraucht –, war keine Erinnerungsspur mehr sichtbar.
"Ich bin schön."
Juli begriff seine begrenzten geistigen Möglichkeiten. Er war Sonderschüler gewesen und blieb ein Leben lang Schichtarbeiter in einem Anlernjob. Am Tag nach dem Gespräch gingen ihr zwei schlichte Sätze wie eine Idée fixe durch den Kopf: „Ich bin eine Frau“ und „Ich bin schön“. In einem weiteren Telefonat mit dem Vater fiel dessen wohl seltsamster Satz: „Ich hätte mich lieber als Frau gesehen.“ Trotz aller Wut war Juli ob seiner Hilflosigkeit gerührt. Ich bestärkte sie in ihrem erwachsenen Zugang zu sich und dieser Beziehung.
Juli begann zu verstehen, dass die innere Kritikerin eine „Parteigängerin“ des Missbrauchs war, diesen verteidigte und ihr die Schuld dafür gab. Das machte diese Scharfrichterin nicht länger sympathisch, sondern zu einem Fremdkörper. Dadurch entstand zwar ein Riesenansturm von Gefühlen, positiven wie negativen, sie war aber bereit, diese auszuhalten.
In ihren Träumen fing sie an, der ebenfalls essgestörten Mutter aggressiv und kampfbereit gegenüberzutreten. Bei einem Wiedersehen mit der Mutter versuchte Juli mit allen Mitteln, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Beim Abschied des ersten Tages – Juli übernachtete nicht bei der Mutter, sondern in ihrem Camper-Van – grabschte der neue Freund der Mutter beim Hinausgehen an ihren Po. Sie war wie benommen und konnte kaum glauben, was da geschehen war.
Missbrauchtes Mädchen versus wehrhafte, erwachsene Frau
Trotz aller vermuteten Harmlosigkeit war es für sie in diesem Haus die blanke Wiederholung. Juli erfuhr eine geteilte Leinwand des inneren Erlebens: Zum einen war sie das kleine missbrauchte Mädchen, zum anderen die erwachsene Frau, die endlich gelernt hatte, wehrhaft zu sein. Sie rief vom Camper-Van aus den Freund der Mutter an, der sich entschuldigte und darum bat, dem weinseligen Abend mildernde Umstände zuzugestehen.
Unsere online abgehaltenen Sitzungen hielten Juli davon ab, in alte autoaggressive Verhaltensweisen zurückzufallen. Ich war ein Stück die schützende Figur geworden, die in ihrer Kindheit gefehlt hatte.
Eine Ahnung von Befreiung
Am nächsten Tag war alles, was Julis Mutter herausbrachte, ein „Woais ois“ (Ich weiß alles) – nichts sonst. Juli fühlte sich überhaupt nicht für voll genommen, allein gelassen mit sich und dem, was ihr passiert war. Sie empfand ihre Mutter nur noch als Hülse ohne Inhalt. Endlich gab sie auf, fuhr mit ihrem Van weg, heulte sich die Seele aus dem Leib – und spürte nach einigen Tagen zunehmende Erleichterung. Keine Hoffnung, aber auch keine Enttäuschung mehr. Eine Ahnung von Befreiung durchwehte sie.
Ich konnte diesen Prozess nur empathisch begleiten. Die Eigendynamik hatte so viel Energie, dass sie wie eine Lawine zu Tal rauschte.
Ein paar Tage später später saß Juli wieder bei mir, seit Wochen die erste Offlinesitzung. Vorher hatten wir corona- und reisebedingt nur Skype-Sitzungen abhalten können. Eine große Erleichterung für mich.
Heilendes Gewitter
Juli hatte sich verknallt. Nach dem heilend schmerzhaften Gewitter der Auseinandersetzung mit der Mutter hatte sie sich „eine Flasche Wein in den Schädel gestellt“ und irgendwann den Mut gefunden, Z., einen Mann in Wien, zu kontaktieren. Sie hatte sich vor zehn Jahren gegen ihn, den Mann, und für den „Lückenbüßer“, den Jungen entschieden. Für Z. wäre sie damals noch nicht bereit gewesen.
Der Wein verfehlte seine Wirkung nicht. Scham und Angst, ihre Über-Ich-Ansprüche, all die Mechanismen, die sie sich seit der Kindheit wie eine Rüstung übergezogen hatte, wurden schläfrig, so dass die Reste ihres intoxikierten Ichs und das Es, ihre Sehnsüchte, Triebe und Bedürfnisse, eine Chance hatten, den Text, den ihre Daumen hastig ins Handy hämmerten, zu bestimmen. Z. meldete sich sofort. Drei Tage später war man in Wien verabredet.
Der Spätsommer ließ das „alte Gold“ der Stadt leuchten. Sie legten sich auf den noch warmen Beton, schauten in den Himmel und ihre Hände fanden einander. Für Juli ein Moment von seit Jahrzehnten nicht gekannter Intimität.
Burkhard Hofmann arbeitet seit 1991 als Facharzt für psychotherapeutische Medizin in eigener Praxis in Hamburg. 2018 erschien sein Buch Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele bei Droemer Knaur.