„Der Begriff ‚toxisch‘ spaltet.“

Wann ist eine Beziehung "toxisch"? Der Psychologe Stefan Junker beschreibt, warum er diesen Begriff in der Psychologie für ungeeignet hält.

Die Illustration zeigt den promovierten Psychologen und Psychotherapeuten, Stefan Junker, der sagt, dass der Begriff "toxisch" spaltet
Stefan Junker ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut. Er findet, dass der Begriff "toxisch" spaltet. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Sind Sie sicher, nicht in einer beginnenden toxischen Beziehung zu leben? Wie ist es mit Menschen, die Ihnen am Herzen liegen: Gibt es da nicht die eine oder den anderen, die oder der möglicherweise gerade Opfer eines toxischen Partners wird? Sollte man da nicht einmal genauer hinschauen, vielleicht vorsorglich einen entsprechenden „Test“ im Internet machen? Der Begriff „toxisch“ ist spätestens seit Ende der 90er Jahre in die Popkultur eingezogen: toxische Junggesellen, toxische Männlichkeit, toxische Positivität. Und natürlich: toxische Beziehungen.

Eine Recherche auf „Google Trends“ zeigt, dass die Suchanfragen im Internet dazu seit einigen Jahren mit nahezu ungebremster Kraft explodieren, ebenso gibt es eine Inflation entsprechender Berichte, Fragebögen und Selbsttests in den Medien. Gleichzeitig fällt auf, dass die Begrifflichkeit in der akademischen Debatte keine Rolle spielt. „Toxische Beziehung“ ist, das muss man klar sagen, kein psychologischer Fachausdruck und kein Forschungsgegenstand.

Fakt ist: In viel zu vielen Beziehungen geschehen emotionale Demütigung, Manipulation, seelische und physische Gewalt. Es gibt das Phänomen, dass die Menschen gegenüber ihrer Partnerin, ihrem Partner immer „kleiner“ werden und sich in einer negativen Spirale von Abwertungen bei gleichzeitig immer engerer Bindung befinden.

Heute reden wir in der Öffentlichkeit viel mehr über solche Dinge. Es ist glücklicherweise kein Tabu mehr, körperliche wie seelische Gewalt in Beziehungen zu thematisieren. Passende und rasch verfügbare Hilfsangebote finden sich in allen größeren Städten. Zahlreiche Menschen, die im Sumpf einer gewaltvollen Bindung gefangen waren, schaffen es, sich aus diesem zu befreien. Und manchen gelingt es gerade deswegen, weil die öffentliche Debatte ihnen geholfen hat, sich selbst einzugestehen, in einer, nun ja, „toxischen Beziehung“ gelandet zu sein.

Andererseits birgt der allzu leichtfertige Umgang mit dem Begriff des „Toxischen“ vielfältige Risiken und Nebenwirkungen. Vordergründig geben Selbsttests Sicherheit. In Wahrheit hat die gegenwärtige Verwendung des Begriffs des „Toxischen“ auch das Potenzial, für mehr Verunsicherung, eingeengte Sichtweisen und einseitige Schuld­zuweisungen zu sorgen. Beziehungen sind – vermeintlich – entweder toxisch oder sie sind es nicht. Der ausgewogene und zuweilen schmerzhafte Blick darauf, was genau in einer Beziehung gut läuft und was nicht, kommt dabei schnell unter die Räder.

Verbunden mit der Diskussion um das Toxische ist in der aktuellen Debatte leider gerade nicht die Ansicht, dass sich manche Paare mit ihren Verhaltensweisen gegenseitig nicht guttun, sondern dass in der Regel eine oder einer für den anderen, die andere im wahrsten Sinne des Wortes giftig ist. Dass aber in der Regel Partner und Partnerin Anteil und Verantwortung für die gemeinsamen Dynamiken haben, gerät dabei aus dem Blick. Der Begriff lädt nicht zum Nachdenken über eigene Anteile am Beziehungsgeschehen ein, auch begünstigt er nicht die gemeinsame, partnerschaftliche Reflexion. Das haben unsere Beziehungen nicht verdient.

Stefan Junker ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut. Er lehrt am Helm-Stierlin-Institut in Heidelberg und ist fachlicher Leiter der Online-Selbsthilfe-Plattform couch:now.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2022: Frauen und ihre Mütter
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