Ab wann ist eine Beziehung „toxisch“?

Die beiden Ratgeber „Du tust mir nicht gut!“ und „Wann Liebe toxisch wird“ zeigen, wie man toxische Beziehungen erkennt und sich aus ihnen befreit.

Drei Frauen, ein Ziel: über die destruktive Dynamik psychischer Gewalt in Beziehungen aufklären – und gleichzeitig Betroffene zur Selbsthilfe ermutigen. Mit Wenn Liebe toxisch wird richten sich Ruth Marquardt und Sandra Günther ausschließlich an Frauen. Zum einen seien diese überproportional häufig Opfer von partnerschaftlicher Gewalt, zum anderen würden toxische Beziehungen umso gefährlicher, je enger sie sind. Marquardt ist systemische Beraterin und vor allem in TV-Serien und -Talkshows als Expertin präsent. Ihre Mitautorin Günther ist Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei.

Annika Felber arbeitet als systemische Beraterin und Coachin in eigener Praxis. Mit Du tust mir nicht gut! zieht sie das Thema weiter auf: Außer Liebesbeziehungen nimmt sie auch jene am Arbeitsplatz oder bei Freundschaften in den Blick. Denn für alle Beziehungsformen gelte: „Die Dosis macht das Gift.“

Das Thema ist nicht neu, und doch läuft psychische Gewalt häufig unter dem Radar und wird oft verkannt oder kleingeredet. Die von allen Autorinnen zitierten Zahlen sind bedrückend: Die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt für 2020 fast 150000 Opfer partnerschaftlicher Gewalt an. Die Hilfsorganisation Weißer Ring schätzt die tatsächliche Zahl um 80 Prozent höher ein. Psychische Gewalt ist weniger sichtbar und belegbar als körperliche, daher werden die Täterinnen und Täter oft nicht angezeigt. Alle drei Autorinnen wollen dazu beitragen, das zu verändern.

Wichtig: die Gewalt dokumentieren

Felbers Buch ist übersichtlich gegliedert und bietet reichlich Impulse zur Reflexion sowie Anleitungen für Übun­gen zur Selbststärkung, etwa: „Wenn du erkennst, dass du deine toxischen Beziehungsdynamiken aktiv mitgestaltest, dann kannst du sie auch aktiv verändern.“ Immer wieder fordert die Autorin auf, das eigene Verhalten zu hinterfragen, nicht das des Gegenübers. Und unterstreicht mit Nachdruck: Dabei geht es nicht darum, Fehler bei sich selbst zu suchen, sondern eigene Verhaltensmuster zu erkennen.

In einem Fallbeispiel macht sie deutlich, wie eine ihrer Klientinnen, eine Erzieherin, durch Mobbing fast in den Suizid getrieben wurde. Eine Kollegin verbreitete Lügen, verdrehte Tatsachen und erzählte den Eltern, die Tochter sei psychisch krank. Erst als die Betroffene ihre wunden Punkte identifizierte, konnte sie sich aus der Opferspirale befreien.

Felber benennt die drei Hauptziele der psychischen Gewalt in Kurzform: „Kontrolle, Dominanz, Macht“. Sie rät, die Fälle zu dokumentieren und im Kalender die besonders beleidigenden Situationen durch ein „entsprechendes Emoticon“ zu kennzeichnen. Im Notfall könnten solche Notizen vor Gericht helfen.

Es kann jede Frau treffen

Um die Leserschaft direkt anzusprechen, nutzen alle Autorinnen das weitverbreitete „Workshop-Du“. Felber beginnt vorsichtig mit „Sie“ und geht für den „gemeinsamen Dialog“ zum Du über. Das Vorwort formuliert sie wie einen Brief und schließt: „Fass noch heute Mut und geh den ersten Schritt! Ich freue mich, dich mit meinem Buch ein Stück deines Weges begleiten zu dürfen.“

Während Annika Felber sich gelegentlich zwischen Umgangs- und Akademiesprache verheddert, etwa „einen Wolf kämpfen“ und „realiter“, wählen Marquardt und Günther durchgängig eine emotional-persönliche Ansprache. Beispiel: „Ladys! Das kann doch nicht wahr sein! Gewalt in Beziehungen dürfen wir als Gemeinschaft der Frauen nicht mehr länger akzeptieren. Es ist nicht normal, es ist nicht okay, wenn dein Partner dich schlecht behandelt. Nicht-Wissen bedeutet, in der gefühlten Ohnmacht zu verharren. Wer mehr weiß und vorbereitet ist, auf diejenige wartet der Lohn der Freiheit.“

Die Autorinnen formulieren griffig für die Zielgruppe traumatisierter und verunsicherter Frauen. Dabei betonen sie immer wieder, keine müsse sich schämen, es könne jede treffen, sowohl gut Ausgebildete wie eher Bildungsferne. Als erfahrene Medien- und Social-Media-Profis wissen sie, wie man Menschen erreicht. Wie sie von eigenen Erfahrungen berichten, wirkt glaubwürdig, Lern- und Übungseinheiten sind emotional und flüssig formuliert. Das Ergebnis: Merksätze sind von Blätterranken umkränzt, „herzliche“ Empfehlungen gut zu merken und die Beschreibungen von Adjektiven wie „wunderbar“, „wunderschön“ oder „traumhaft“ durchzogen.

Zwei Bücher, ein Ziel

Wo Felber Überschriften eher nüchtern formuliert, etwa „Erste Hilfe: Akuter und mittelfristiger Umgang mit toxischen Beziehungen“, heißt es bei Marquardt und Günther kurz: „Powerteil: Detox dein Leben und Heilung beginnt.“

Prinzipiell stehen die beiden Bücher auf demselben Fundament. Das betrifft Fallbeispiele, Fakten- und Quellenangaben ebenso wie Definitionen von Begriffen wie Love Bombing, Silent Treatment oder Gaslighting.

Felbers Ratgeber könnte eher jene Leserinnen ansprechen, für die Hilfe zur Selbsthilfe eine gute Option ist. Der von Marquardt und Günther mag gewöhnungsbedürftig sein, ist aber das niedrigschwelligere Angebot. Er könnte Frauen anziehen, die zunächst Ermutigung brauchen wie von einer Freundin. Kurz: Zwei Bücher, ein Ziel. Wenn sie einer großen Bandbreite Gefährdeter frühzeitig beistehen könnten, wäre viel erreicht.

Annika Felber: Du tust mir nicht gut! Toxische Beziehungen erkennen und sich aus ihnen lösen. Junfermann 2022, 255 S., € 30,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen
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